Kapitel 5: Am Anfang stand das Wort

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Die Schrift erscheint ursprünglich als ein Substitut der Sprache. Sie symbolisiert den Verlust einer Anwesenheit: die Schrift setzt sich durch, wenn die Sprache sich zurückzieht. Das Totenbuch des antiken Ägyptens beinhaltet das folgende Gebet: “Gib mir meinen Mund zurück, um zu sprechen.” Der Begründer der modernen Sprachwissenschaft, de Saussure, hat erkannt, daß Sprache und Schrift zwei verschiedene Systeme sind; die einzige Daseinsberechtigung des zweiten Systems ist, daß es das erste darstellt. Die Schrift bleibt also ein Symbol der abwesenden Sprache: “Bezeichnen heißt, einen Abwesenden zu umarmen”, sagte Violette Leduc. “Alles, was wir schreiben, ist abwesend.” Das Schreiben war für sie eine Tragödie, das Merkmal ihrer Machtlosigkeit, das Begehren und den Mangel zu leben.

Die magersüchtige Frau ißt nicht, weil sie mit den anderen nicht spricht. Der Mund, Behälter der Nahrung, ist auch der Ort, aus dem die Sprache und die Worte stürzen. Essen ist ein sozialer und zwischenmenschlicher Verkehr, aber auch ein Appell, der sowohl gehört, als auch verloren werden kann. Mit den Speisen werden die Wörter verdaut. Was die Wörter nicht sagen können, wird von der Nahrung artikuliert. Wenn das Schreiben sich als Bulimie, ein “Sich-Auskotzen”, eine abwesende oder durch die Nahrung erstickte Sprache manifestiert, behält es nur mehr den Wert eines verzweifelten Liebesbriefes. Maryse Holder und Marie-Victoire Rouiller schrieben Briefe statt zu sprechen.

“Aber mit einem Brief stürzt man den eigenen Körper in die Leere”, schreibt der Psychoanalytiker Daniel Sibony. Der Brief strebt danach, die Abwesenheit des begehrten, geliebten Körper durch die Bewußtmachung oder den konzentrierten und gespannten Appell an die Anwesenheit zu kompensieren. Der Brief erscheint als das Symbol des dargebotenen Sexus, als eine zugespitzte Verarbeitung ohne Manipulation des Spiels mit der Spule.

Besonders Violette Leduc zeichnete sich in diesem Spiel aus. Die Liebe auf Distanz zerrüttete sie so sehr wie die geteilte symbiotische Liebe. Sie schrieb an ihre Geliebte Hermine: “Wann wirst du mich küssen, bis ich um Gnade bitte? Ich küsse deine Sätze, ich küsse deine Worte, ich lasse meine Lippen über dein Briefpapier gleiten. Ich will dich sehen, Hermine, Lieben, das heißt, nicht getrennt sein. Du bist abwesend, du bist immer abwesend.”

Wenn das Subjekt nicht genug – verbal oder non-verbal – von der Mutter gespiegelt worden ist, empfindet es sein Ich als unvollständig. In einen Zustand der Vereisung versunken, fühlt es sich unfähig, die Dinge zu nennen und das Verbot des eigenständigen Denkens aufzuheben. Oft hatten Magersüchtige Eltern, die vorschrieben, was und wie sie zu fühlen, zu denken und zu erleben hatten. Der Brief von Kafka an seinen Vater ist das beste Beispiel dafür. In einer dualen Beziehung gefangen, erstarren Magersüchtige im Gefrierraum eines Eisberges, eines Marmorbildes, einer Steinplatte oder eines Grabes: “Ich gehöre gegen meinen Willen zu der nutzlosen Rasse der Eisberge”, sagte Violette. Auf ihr Verlangen nach Liebe antwortete die eiskalte Mutter mit einem Nicht-Begehren.

Die Abwesenheit der Nahrung mimt die Abwesenheit schlechthin: die Flucht bis zum Verlust der Identität. Im Register der vorspiegelbildlichen Identifizierung gibt es Verwirrung zwischen Essen und Sprechen, wird erbrochen, was das Leben hemmt. Christiane Balasc macht dies mit einem Beispiel aus einem Werk von Rusca anschaulich:

“Praline verbeißt ihren Schrei: Fressen ist der Tod, sie hat Angst zu platzen, sie hat Angst vor diesem gigantischen unterirdischen Darm, der sich wellt und seine Papierscheiße in seinen Windungen aus Stein fabriziert.”

Diese Art fäkaler Penis ist wie ein massives Eindringen, das kein Wort, kein Bild wiedergeben kann, etwas, das einem Zustand radikaler Erstarrung ähnelt. Die Nahrung, die auf dem Weg durch den ganzen Körper verunreinigt würde, kann nur vom Magen verweigert werden. Wie das Faß der Danaiden leert sich der Körper von einem Ende aus, wenn man ihn vom anderen Ende auffüllt, ohne irgendeine narzißtische Einlagerung zu ermöglichen, das heißt ohne sich selbst einen Wert zu geben. Dieses Leiden ist der Ausdruck einer traumatischen Implosion. Die körperlichen Öffnungen sind austauschbar: sich zu erleichtern, ist auch eine Art, die “böse Mutter”, die Herrscherin über den Besitz der Ausscheidungsstoffe innerhalb des eigenen Körpers abzuführen.

Nach der Legende widersetzten sich die Danaiden der Ehe mit ihren Vettern und ermordeten diese schließlich in der Hochzeitsnacht mit einem Dolchmesser. Auf diese blutige Weise brachen sie mit der endogenen Gesellschaft (Heirat zwischen Blutsverwandten) und bekannten sich zur Gewalt, die einem solchen Ehebund zugrunde liegt. Indem sie sich ihren Vettern sexuell verweigerten und sich Männer außerhalb der Familie, des Clans und der Geschlechtslinie wünschten, zogen sie sich den Zorn der Götter (der Eltern?) zu. Strafe mußte sein. Der Wunsch, jungfräulich zu bleiben, steht im Zusammenhang mit dem Wunsch, sich selbst zu genügen, keinem Mann zu gehören. “Ich war stolz auf mein Tabernakel unter meinem Vlies”, schrieb Violette Leduc. “Eine einsame Frau. Ich war eine einsame Frau, ich gehörte mir.”

Dennoch ist die Bewegung zu den Anderen sehr stark bei magersüchtigen Frauen, auch wenn das Licht weder deren Fenster noch den Blick dieser Anderen erreicht, denn das Fenster, das sie öffnen, ist kein echtes Fenster. Es ist gemalt wie ein Bild, eine Ikone, die sie für “heilig” halten. Das Schweigen, in das sie sich hüllen, ist dann alles, was ihnen vom Leben übrig bleibt. (“Ich lüge, das ist meine Opferung.” ) Ihre Sehnsucht, sich selbst zu erkennen, das heißt sich selbst zu lieben und zu achten, bleibt unerfüllt. Mehr als ihr verzerrtes Spiegelbild nimmt sie nicht wahr. In dieser Regression narzißtischer Liebe kennt die Liebe kein Subjekt, so wie Alices Lächeln gesichtslos durch den Spiegel bleibt. Die Liebe hat keinen Namen; sie ist, wie Violette Leducs “Madame”, die Erinnerung an eine bildlose, gesichtslose, stimmlose Abwesenheit.

Wenn Violette, als Kind und als Erwachsene, ständig um den mütterlichen Blick fleht, heißt dies, daß ihr Bild beschädigt wurde. Die narzißtische Wunde wurde durch den trüben, mißbilligenden Blick auf ihren weiblichen Sexus und durch den Diskurs der Mutter genährt. Der leere Blick und die Warnungen der Mutter gegen die Männer und die Gefahren der genitalen Sexualität zwangen daher Violette, auf die nicht wiedergutzumachende Verbundenheit mit der verletzten Mutter zurückzukommen. Sie hing sich an Männer, die ihr entschlüpften; an Männer, die zugleich Vater und Mutter, Mann und Frau waren: “Ich frage mich, ob ich einen anderen Homosexuellen lieben werde. Wahrscheinlich. Auf der Stelle zu treten, das ist meine Ausschweifung. Als ich zur Welt kam, habe ich den Schwur getan, die Leidenschaft für das Unmögliche zu haben.”

Gerade weil die Mutter der Tochter den Anspruch auf sexuelle Lust verweigert, ist es wichtig, daß diese den Ort verleugnet, aus dem das Begehren stammt, indem sie einen nicht bewohnten, von innen leeren Körper zur Schau stellt. Der primäre Narzißmus versagt, er vermag nicht aus dem Körper einen Behälter zu machen, das heißt, das Gefühl der körperlichen Vollständigkeit wird nicht erworben. (“Ich bin ein Mannequin, sagte ich mir entmutigt. Ich versank. Ich bin ein nacktes Mannequin eines Konfektionshauses, ich versinke, und du wirst bald nichts mehr sehen als meinen Kopf.” )

Die Angst, die magersüchtige Frauen in Augenblicken äußern, in denen sie von einer Art Verschwinden fasziniert werden, reproduziert den Schreck von damals, als sie dachten, die Mutter würde sie in ihrer Leere mit sich fortziehen. Dieser Schreck ist nach Bion ein “namenloser Schreck” oder nach André Green eine Identifizierung mit der “toten Mutter” und das Streben nach der Einheit mit ihr in einer gegenseitigen Erfüllung nicht der Lebenstriebe, sondern des Nirvanaprinzips , “jede Erregung auf Null zurückzuführen.” Für magersüchtige Frauen wird der Tod vollkommen mit der Mutter identifiziert. Sie ist die Todbringende. “Ich trage meine Mutter in mir”, denken sie unbewußt. “Sie verläßt mich nicht, und kein anderer kann ihren Platz einnehmen, meine Scheide ist tot.”

Alle Öffnungen sind Einbrüchen ausgeliefert und müssen daher geschlossen bleiben. Die Anorexie wird zum Zeichen eines unaufhörlichen Kampfes gegen eine Einkerkerung und einen todbringenden Übergriff in einer Dialektik zwischen Eindringen und Deprivation. Bei magersüchtigen Frauen, die an Vaginismus leiden, finden wir immer wieder die unbewußte Phantasie der aufdringlichen, vergewaltigenden Mutter. Dennoch weist Vaginismus meist auf vorzeitige sexuelle Verführungserlebnisse hin, bei denen die Initiative von anderen ausging (allgemein von einem inzestuösen Erwachsenen), von einfachen verbalen Annäherungen oder Gesten bis zu einem mehr oder weniger ausgeprägten sexuellen Attentat, die vom Subjekt passiv und mit Schrecken erlitten wurden. Und wo war derweil die Mutter?

Durch das Erbrechen meint das magersüchtige Subjekt, es würde über eine imaginäre Allmächtigkeit, über eine verborgene Waffe verfügen, die die Verweigerung und die Aufhebung des “Ja” durch das “Nein” ermöglicht. Es kämpft um die Illusion, daß der “Sexualschreck”, diese schmutzige “Bestie”, von dem es besessen ist, weggespült werden kann. Die Magersucht und die Eß-Brechsucht ist eine Reise, von der das Subjekt nicht zurückkehrt und die keine Spuren hinterläßt, was uns wieder auf das Verhältnis zum Schreiben zurückführt, schreibt Christiane Balasc.

Immerhin werden die gespuckten und erbrochenen Wörter – wenn auch manchmal auf eine hämorrhagische Weise – ein anderes Los haben als der Wasserspülung übergeben zu werden. Das geschriebene Blatt ist der erste Durchbruch einer Spur und bezeugt die Hoffnung, gelesen und gehört zu werden. Das Schreiben ist ein möglicher Behälter. Die Wörter bilden sodann symbolische Äquivalente des Tastorgans und üben die Funktion des körperlichen Ichs und des psychischen Ichs aus, die in der Vergangenheit keine ausreichenden Stimuli bekommen haben. Die Schöpfung des Werkes wird infolgedessen erlebt als die Neu-Schöpfung des Subjekts durch Autogenese.

Auch Enriquez hat unter dem Ausdruck von “repräsentativem Schreiben” eine Tätigkeit beschrieben, in der das Subjekt sich seiner Anwesenheit bei anderen und bei sich selbst versichert. Es ist, als ob das Schreiben die Wiedererlangung einer Haut ermöglichen würde. Die Zuflucht ins Schreiben kann daher interpretiert werden als der Versuch, in eine Position vor der Sprache zurückzukehren:

“Am Anfang stand das Wort und das Wort war in Gott, und das Wort war Gott”, schrieb Marie-Victoire Rouiller. “Es war ein hoffnungsvoller Anfang, eine fast vollständige Fusion jenseits der Sprache.”

Im Eindringen in das weiße bzw. leere Blatt mit der Feder, die die magersüchtige Frau wie ein Schwert führt, läßt sich einerseits die Identifizierung des Subjekts mit dem kleinen Mädchen, das es einst ihrer Mutter gegenüber war, und andererseits mit dem Penis, der in die Mutter eindringen kann, erkennen. So wird die ideale Vollständigkeit erworben. Zugleich männlich und weiblich, ist sie in ihrer Ganzheit Gott ähnlich.

Wenn wir uns auf die Bibel beziehen, die Gott mit einer Gebärmutter austattete, verstehen wir, warum der nach dem Bild Gottes erschaffene Mensch ursprünglich androgyn war. Wir können in “De Trinitate” von Petavius lesen: “Die Schrift bringt uns bei, daß Christi Geburt mit Hilfe der Matrix Gottes stattfand: obwohl Gott weder eine Matrix noch irgendetwas Körperliches besitzt, wird jede Geburt, jede wahre Geburt durch ihn ausgeführt und dies verstehen wir unter Matrix.”

Das Schreiben ist daher die unwiderstehliche Suche nach der Wort-Abwesenheit, nach dem Wort-Loch, da der Name Gottes vor allem ein Symbol für das Fremde, das Unbekannte im Menschen ist. Die Vorstellung der befruchtenden Worte, des Wortes als Träger des Ursprungs vor der Schöpfung, als erste göttliche Manifestation, drückt offensichtlich bei der magersüchtigen Frau den Wunsch aus, endlich zur Welt bzw. “zu Wort” zu kommen. Dies bedeutet nicht, daß sie ein Mann, sondern daß sie wie Adam nach dem Bild Gottes zugleich “männlich und weiblich” sein will. Indem die magersüchtige Frau ihren Körper erigiert, aus ihm einen Körper aus Stein macht, fordert sie den abwesenden Phallus, das heißt das Recht auf das Begehren. Die Leere des väterlichen Penis, die Abwesenheit oder die Abwertung des Vaters haben dem abstrakten mütterlichen Phallus Platz gemacht, dem absoluten aber unauffindbaren, unerreichbaren Ideal, dem Bild des permanenten Hinderns am Begehren. Die phallischen, unveränderlichen und harten Metaphern der Vertikalität und das Gesicht der in Trauer erstarrten “toten” Mutter beinhalten immer die Grabniederlegung des Vaters sowie dessen eigene Unerreichbarkeit, mithin das Töten des Vaters durch die Mutter.

Was die magersüchtige Frau zugleich mimt und paro-diert, ist die Selbstgenügsamkeit ihrer Mutter. “Was für eine Freude für Sie, die Mutter-Jungfrau zu spielen; für mich das Martyrium”, sagte Marie-Victoire. “Zu gebären, ohne jemals entjungfert zu werden”, so könnte man den auf der fleischlichen Ebene widersprüchlichen Wunsch der Mutter interpretieren. Die Tochter bleibt also einerseits ihrer Mutter treu, läßt sie aber andererseits im Namen des Vaters unbewußt dafür büßen, daß sie in ihr das Begehren getötet hat. Der Andere, der “Dritte”, wird gestrichen zugunsten eines gespaltenen Körpers: der idealisierte, erigierte Körper wird zum Objekt des Begehrens, während der reale Körper zum Objekt der Verneinung wird. Das Ich ist kein Archipel mehr, sondern ist in zwei durch einen sehr engen Isthmus verbundene Kontinente gespalten, wobei dieser Isthmus durch die Befriedigung erzeugt wird, die von der Lust an der Kontrolle, am Manipulieren an sich selbst und anderen herrührt, in einer Konfusion zwischen sich selbst und dem Anderen.

Die Uneinigkeit zwischen dem Körper, so wie er erscheint, und dem idealen und immer erigierten hyperaktiven gewünschten Körper, auf den die magersüchtige Frau sich bezieht, ist oft tragisch. Der empfundene Ekel gegenüber dem Körper und den sekundären Merkmalen der Sexualität (Monatsblutungen, Haare, Brüste, Po, Fett) ist ein unbewußter Anlaß zum Kult der Körperbemächtigung: der ganz sich selbst überlassene Körper ist ekelhaft, der ideale Körper fordert eine ständige Pflege, um alles zu verdrängen, was an Sexualität erinnert. Die Wichtigkeit, die dabei der Kleidung beigemessen wird, ist ebenfalls typisch:

“Es ist erstaunlich, was Kleider mir bedeuten”, gestand Tania Blixen ihrem Bruder; “vielleicht messe ich ihnen einen zu hohen Wert bei. Aber nichts, ob Krankheit, Armut, Einsamkeit oder sonstiges Mißgeschick, betrübt mich mehr, als wenn ich nichts anzuziehen habe.”

Tania Blixens Kleider waren Ideen, Metaphern, und als alte Grande Dame gab sie ihnen wahrhaftig Namen. Hier versteckt sich die tiefe Angst, nicht genug Leben oder nicht genug Liebe in sich zu haben. Um diesen “Mangel” zu kompensieren, fühlen sich viele Frauen von Kleidern abhängig.

“Zahlen, um schön zu sein, zahlen, um noch schöner zu sein, auch das war umschmeichelt werden”, schrieb Violette Leduc. Sie hörte die Mutter aus der Ferne: “Sei Weib. Wann wirst du ein Weib sein?” Am liebsten hätte sie aber ein Torerokostüm gehabt, und Hinterbaken “gemeißelt wie die eines Toreros. Gemeißelt in einem ein wenig rundlichen Marmor.”

Was magersüchtige Frauen zum Ausdruck bringen wollen, ist nicht die Spezifität und die Singularität der Frau, sondern die virtuelle Vermischung der Geschlechter, die Auslöschung der sexuellen Differenz. Sie weigern sich, von einer Gesellschaft gespiegelt zu werden, die sie dazu verurteilt, sich seit Jahrhunderten im Blick anderer zu sehen, das heißt im Blick der Männer. In diesem Spiegel erkennen sie sich nicht wieder, fühlen sich in eine “persona” versteinert. Sie versuchen, diesem Zustand der Erstarrung zu entfliehen, indem sie verschwinden, aufhören zu existieren, wenn die einzige Realität, die ihnen angeboten wird, der Schein der Rolle ist: “Besser nichts zu wollen, wenn man schwach ist und die Undefinierbarkeit der Heferollen vorzieht”, schrieb Maryse Holder in diesem Zusammenhang. “Heferollen machen mich unsichtbar.”

Die Bisexualität, die Transsexualität (nicht die anatomische) liegen in der Natur und in jedem Individuum. Die magersüchtige Frau läßt sich nicht von der Gesellschaft diktieren, wie sie auszusehen hat. Sie ist ihre eigene Kreatur geworden, und nur sie bestimmt, wie andere sie zu sehen haben. Die so begehrte sexuelle Vorliebe für die Schlankheit enthüllt sich durch ihr grausames Abmagern als eine Elision, eine Illusion. Sie imitiert nicht ein reales oder bestimmtes Vorbild, sondern sie strebt nach einer unendlichen, unerreichbaren Irrealität: immer dünner zu werden, jenseits der Schlankheit, jenseits der Geschlechtlichkeit bis ins Groteske, und aus dem Körper jedes Merkmal der Verführung auszulöschen, unsichtbar zu werden, ohne Spiegel zu leben. Was die Magersüchtige fordert, ist die Anerkennung ihres wahren Selbst schlechthin.

Heute geht kaum noch eine Frau ins Kloster. Immer mehr Frauen aber werden magersüchtig. Magersucht ist jedoch nichts anderes als eine Verschleierung, eine Art Rückzug aus einer Gesellschaft, in der eine aggressive Konkurrenz auf jeder Ebene (auch zwischen den Geschlechtern) herrscht. Valérie Valère schrieb hierzu: “Ich habe alles begraben und mit einem undurchsichtigen Schleier der Traurigkeit bedeckt, der mir einen Teil der Welt verhüllt.”

Die Magersucht ist eine Suche nach einem Ort des Schweigens, nach einem anderen Leben, aus dem der Tod nicht mehr ausgeschlossen wäre. (“Ich bin eine Erscheinung. Nichts steht mehr zwischen mir und dem Tod. Tod, die totale Verfremdung.” ) Sie ist ein Gral, vielleicht zu guter Letzt die “moderne Form der Heiligkeit” , ein ausdrückliches Abstreifen der Unterscheidungsmerkmale, auf denen unsere männerbeherrschte Gesellschaft beruht. Wenn die Magersüchtigen diese Kennzeichen ablegen, so glauben sie wie früher die ersten Christen, eine urtümliche, undifferenzierte Einheit wiederzugewinnen:

“Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus”.

Die Heilige Katherina von Siena soll, nur für sich sichtbar, die Vorhaut Jesus’ als Ehering getragen haben. Eine magersüchtige Frau erzählte von einem ähnlichen Traum: ihre Schamlippen wären “ausgehöhlte Hoden” (wie die der Kastraten), die sie unter sich zusammenschlug und als Windeln benutzte. Damit wurde zugleich der Wunsch nach Enthaltsamkeit und nach engelhafter Androgynität manifest. Fasten blieb für beide ein heldenhafter Beweis der Stärke und der Autonomie, genau wie das Schreiben für Violette Leduc: “Schreiben, das war kämpfen, das war mein Leben verdienen, wie die Gläubigen ihr Paradies verdienen.” “Ich fügte hinzu, daß ich schriebe, um geachtet zu werden.”

Jede Frau versuchte, auf ihre Art ihre Stimme und ihre Integrität wiederzuzugewinnen, wenn auch nur durch einen drastischen Verzicht auf jegliches “normale” Glück. Tania Blixen erklärte ihrem Bruder in einem Brief, wie sie dieses Opfer verstand:

“Man kann mich nicht besitzen, und auch ich habe nicht das Verlangen zu besitzen – Gott weiß, das kann Leere und Kälte mit sich bringen, aber bedrückend und beengend ist es nie. Ich weiß, auch in diesem Punkt muß ich mein Schicksal ‘bedingungslos’ annehmen, denn so sehr ich mich nach etwas Festerem, nach größerer Intimität in meinem Leben sehne, so passiert es mir doch immer wieder, daß ich mich dem im entscheidenden Moment entziehe. Ich sagte ja, ich wäre gern ein katholischer Priester, dazu stehe ich noch – und etwas Ähnliches bin ich ja.”

Die Rolle eines katholischen Priesters, das heißt einer ehelosen, androgynen und einsamen Gestalt, war der ihres Schriftsteller-Daseins nicht unähnlich. Das Schreiben schafft auch einen Ort des Schweigens, des Rückzugs aus der Außenwelt. Es ist auch ein Kreuz…