Kapitel 4.1: Einführung

<<< Kapitel 4: Das Gewicht der Kultur im Schlankheitsideal

Das Interesse für die kulturellen Veränderungen und die soziale Werterhöhung der Schlankheit hat dazu geführt, daß die Magersucht immer mehr als eine “Zivilisationskrankheit” angesehen wird. In Wirklichkeit war die Anorexie schon vor einem Jahrhundert, ja früher noch, seltsamerweise mit der heutigen identisch. Die Magerkeit ist zu jeder Zeit mit moralischen, ja sogar religiösen Bedeutungen belastet worden, die steife Vertikalrichtung des mageren Körpers als Zeuge der höher gelegenen Werte und der Transzendenz fungierend.

In unserem Kulturkreis geschah mit Platon und Descartes die Spaltung zwischen Geist und Fleisch zu Unrecht. All das Gute war plötzlich im Geist und all das Böse im Körper. Der Körper war grundlegend verdorben, da er die Spuren der Erbsünde bewahrte. Daraus leitete sich eine Verachtung des Körpers und all seiner körperlichen Funktionen ab, die schmutzig, unrein und verführerisch erschienen. Der minderwertige und unter Verdacht stehende Körper wurde dem Geist unterstellt. Er mußte beherrscht, gezähmt, dressiert und erstickt werden. Diese Verachtung des Körpers führte in unserer Kultur dazu, daß er gehaßt und vergessen wurde. Im 18. Jahrhundert kam dann die Tradition der Herabsetzung des weiblichen Körpers besonders zum Vorschein. Das Epos von Sade war nicht die Negation der Moral, wie man häufig glaubt, sondern deren Jubel ad absurdum. Die Menschen, die den Sadismus “lebten”, waren die anerkannten Verteidiger der Ordnung: Lehensherren, Bischöfe, Magistraten. Gemeinsam war allen die Verachtung der Frau, ihres Körpers und ihrer “Seele”. Die Richter und die Inquisitoren der Frau erniedrigten sie in ihrem Fleisch selbst. Sie werteten das Fleischliche ab, indem sie es mit der Frau gleichstellten und sie einerseits durch rasende Vervielfältigung objektivierten, andererseits ihr im Namen des Kapitalverbrechens das sexuelle Genießen verweigerten. So verlängerte Sade, indem er es systematisierte, das Streben seines Jahrhunderts, die Weiblichkeit mit dem Bösen zu identifizieren. Die Grundidee des Kastratentums war auch in der Kirchengeschichte verwurzelt. “Mulie tacet in ecclesia” – die Frau schweige in der Kirche – bestimmte der Apostel Paulus. So blieben Frauen lange Zeit in Rom von der Opernbühne ausgeschlossen. Das Ende der Kastration zu Gesangzwecken fällt zeitlich mit dem Ende des Kirchenstaates 1870 zusammen.

Sex in der Ehe zum Zweck der Fortpflanzung war für die Kirche akzeptabel, Sex zum Vergnügen schon immer eine Sünde. Das Diktat war: “Eine anständige Frau kennt keine Lust.” Susie Orbach vergleicht die Anorexie mit einem Gefängnis sowie dem Hungerstreik politischer Gefangener und insbesondere der Suffragetten: “Was habe ich davon”, sagte die Suffragette Lucy Stone im Jahre 1855, “wählen zu dürfen, Eigentum zu besitzen, wenn ich über meinen Körper und seine Funktionen nicht absolut frei verfügen kann.” Achtzig Jahre später, nachdem die Frauen das Wahlrecht errungen hatten und die erste Welle der organisierten Frauenbewegung wieder verebbt war, schrieb Virginia Woolf, daß es noch Jahrzehnte dauern würde, bis Frauen die Wahrheit über ihren Körper sagen könnten.

Magersucht ist aber nicht nur ein Gefängnis, sie ist zum Teil ein selbstgewähltes Kloster, ein Ort des Schweigens und der Restriktion, der benutzt wird, um sich von der aktiven männerbeherrschten Welt zurückzuziehen. (“Ich wünschte mich Priester, Kirche, Gesang-Worte, heilige Gesten, wie sich eine Schauspielerin tragisch und aufrichtig wünscht.” ) Magersüchtig zu sein, heißt auch oral keusch, rein zu sein. “An die Stelle des Rosenkranzes ist die Kalorientabelle getreten”, schreibt Naomi Wolf hierzu. Fett wird wie überflüssiger weiblicher Schmutz empfunden. Die Magersüchtige stellt nicht nur den engen Zusammenhang zwischen Essen und Sexualität her, sondern die Essensverweigerung ist zugleich die Sexualitätsverweigerung. Hinter dem Essen verbirgt sich das eigentliche Anliegen, nämlich die Geschlechtlichkeit. Die magersüchtige Frau will keine “eßbare Frau” (schön zum Anbeißen) sein. Anstelle der Frau tritt der Kastrat, der immer wieder versucht, der Begrenztheit seines Ichs zu entfliehen und sich die Eigenschaften des anderen Geschlechts anzueignen. Die Libido wird stillschweigend vom Subjekt ins eigene Bild gesteckt, bis zur Besessenheit. Die Anwesenheit ist der Körper, die lustvolle Umgestaltung des Körpers. Der Narzißmus endet in Onanie.

 

Am Anfang des 20. Jahrhunderts hat Freud als erster den weiblichen Narzißmus historisch begriffen, indem er zeigte, daß die Frauen sich ihrer Schönheit verschrieben, um sich für ihre Unterdrückung zu entschädigen. Seiner Meinung nach richteten die Frauen auf den eigenen Körper das Begehren, das nach außen zu wenden ihnen verboten war. Sie liebten sich, bis sie sich selbst genügten, um sich dafür zu rächen, daß sie in ihren Objektwahlen nicht frei waren:

“Die Ablehnung eines Heiratsantrages war in jenen Tagen eine Katastrophe”, schreibt Virginia Woolf. “Sie bedeutete den vollkommenen Bruch. Menschliche Beziehungen spielten sich, zumindest zwischen den Geschlechtern, damals so ab wie heutzutage die Beziehungen zwischen den Staaten – mit Unterhändlern und Verträgen. Die betreffenden Parteien trafen sich zu dem großen Anlaß des Heiratsantrages. Wurde dieser abgelehnt, kam es zu einer Art Kriegserklärung.”

Der Druck der Gesellschaft von 1900 verbot fast jedes natürliche Gefühl, und für den Prototyp des Viktorianers war die Frau eine Sklavin. Heute können wir kaum sagen, daß die Frauen sich deshalb selbst lieben, weil sie ihr Begehren nicht nach außen wenden dürfen. Sie investieren viel Zeit in die Pflege ihres Körpers, um das Recht zu haben, sich selbst zu lieben. “Unser Narzißmus entspringt heute nicht mehr der Faszination, sondern der Wachsamkeit”, schreiben hierzu die Franzosen Brückner und Finkielkraut. “Wir sind nicht in unseren Körper verliebt, wir machen uns Sorgen um sein Image, denn nach ihm bemißt sich unser Wert.”

Ob die Frauen aber am Anfang des Jahrhunderts sich mehr liebten als heute, daran dürfen wir zweifeln. Aus den skizzierten Erinnerungen Virginias Woolfs:

“Als ich sechs oder sieben war, gewöhnte ich mir an, mein Gesicht im Spiegel zu betrachten. Doch ich tat es nur, wenn ich sicher war, allein zu sein. Ich schämte mich. Ein starkes Schuldgefühl schien automatisch damit zusammenzuhängen (…) Ich kann mir heute nicht die Nase vor Leuten pudern (…) Und doch war das weibliche Element in unserer Familie sehr stark. Wir waren berühmt für unsere Schönheit (…) Ich muß mich meines Körpers geschämt oder Angst vor ihm gehabt haben.”

Hier erinnert sie sich an den sexuellen Mißbrauch durch ihren Halbbruder George, betont aber immer wieder, wie spartanisch, asketisch und puritanisch ihre Erziehung war. Ihrer Meinung nach war ihr Schamgefühl nicht nur Ausdruck dieser individuellen Problematik, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Situation der Entfremdung vom eigenen Sein zugunsten der viktorianischen Scheinwelt. Dies löste bei ihr, wie bei vielen hungerstreikenden Frauen heute, einen heftigen Kampf aus:

“Vater selbst war ein typischer Viktorianer. George und Gerald waren unbeschreiblich konventionell. So daß wir nicht nur gegen sie als Individuen ankämpften, wir kämpften gegen sie als Repräsentanten einer Ära.”

Virginia fühlte sich – wie viel später Maryse Holder oder Marie-Victoire Rouiller – “im Stich gelassen”. Sie sehnte sich nach väterlicher Nähe, aber auch nach mütterlicher Wärme, die ihr den Aufbau eines konsistenten Selbst gestattet hätten. Nicht ein Wort dessen, was sie empfand, “durfte geäußert werden”. Pflicht und Emotionen waren unterschiedslos vermischt. “Und die Geister ihrer ältesten Schwester Stella und der Mutter beherrschten die Szenen von George: ‘Du bist noch zu jung, um eine Meinung zu haben. Außerdem liebe ich dich. Ich hasse es, allein (auf Parties) zu gehen. Ich muß dich bei mir haben'”, sagte er zu ihrer Schwester Vanessa und riß sie dann in seine Arme.

Aktiv, wenn auch unbewußt, formen die Eltern (oder Ersatzeltern) die Identität des Kindes in Übereinstimmung mit der bestehenden Kultur. Es hat also keinen Sinn, die “Verantwortung” der anorektischen und bulimischen Pathologie von der Mutter auf den Vater, dann auf das Familiensystem, ja sogar auf die Konsumgesellschaft zu schieben. “Die Polariät von Subjekt und Objekt ist das dauerhafte Skelett der Herrschaft, jederzeit bereit, mit manifester Geschlechtsspezifik ausstaffiert zu werden, sobald die Situation es verlangt”, schreibt Jessica Benjamin. Und in der Familie von Virginia “waren es die männlichen Verwandten, die das Spiel beherrschten.”

Manche Autoren haben in der Anorexie das Zeichen einer Auflehnung gegen das weibliche Dasein, so wie es sich unsere jüdisch-christliche Kultur bis jetzt vorstellte (passiv, friedensfertig, der Mutterschaft verpflichtet), sowie eines nicht artikulierten feministischen Protestes gesehen, da magersüchtige Frauen beanspruchen, in ihrer ursprünglichen Persönlichkeit anerkannt zu werden, und sich weigern, als Sexualobjekt nach Belieben der Männer und der männerbeherrschten Gesellschaft behandelt zu werden. Diese Einstellung wurde zum Beispiel von Sheila MacLeod vertreten:

“Als ich schließlich weniger als 38 Kilogramm wog, und mich im Spiegel anschaute, erblickte ich jemanden, der schön war: Ich erblickte mich selbst.”

In ihrem Versuch, herauszufinden, warum Magersucht eine Krankheit bei Mädchen und nicht so sehr bei Jungen ist, weist die Familientherapeutin Mara Selvini Palazzoli auf die Art und Weise hin, “in der das heranwachsende Mädchen ‘lüsternen Blicken’ ausgesetzt ist, der Menstruation unterworfen; in der sexuellen Umarmung wird sie penetriert werden; der Foetus wird in sie eindringen, das Kind wird an ihr saugen.” Sheila MacLeod findet “zutreffend, wie beschrieben wird, was einer Magersüchtigen ihrer Überzeugung nach als Frau bevorsteht: eine passive Rolle, eine hilflose Lage, Verlust des Selbst.”

Im Unbewußten wollte Sheila MacLeod wohl “erwachsen werden”, doch gleichzeitig war sie entschlossen, “es nicht zu werden”, denn die Verhaltensmodelle, die ihr angeboten wurden, waren “entweder abschreckend oder unerreichbar”. Der direkte Zusammenhang zwischen der sozialen Aufwertung der Schlankheit und der Magersucht verdichtet also diverse und widersprüchliche Bedeutungen und kann auf unterschiedliche Weisen interpretiert werden: manche Frauen machen die Verminderung der sozialen Differenziertheit nach dem Geschlecht und die homosexuelle Unisex-Mode für die Magersucht verantwortlich, da sie eine androgyne Schlankheit (schmale Hüften, knackiger Po, lange Beine) voraussetzt; andere sehen darin das tragische Ausdrucksmittel eines Verlangens nach Liebe, das sich in der dargebotenen Zerbrechlichkeit, ja sogar in der ein wenig anachronistischen Romantik der Abzehrung verschärft; oder die Stigmatisierung einer Angst und einer verborgenen Gewalt in der Figur, die den Verfall und den Tod zugleich parodiert und beschwört; oder auch noch die soziale Unterdrückung der seit Jahrhunderten mit etwas Schmutzigem und Bedrohlichem assimilierten Sexualität, die gereinigt und kontrolliert werden muß.

“Ich möchte mager sein, weil ich kein Fleisch mag”, schreibt hierzu Sheila MacLeod. “Fleisch, weibliches Fleisch ist für die Magersüchtige etwas, das ihr von außen aufgezwungen worden ist, und in Extremfällen ist es für sie das Aufzwingen von etwas Geschwollenem, Verunreinigtem, Schmutzigem.”

Hier müssen wir daran erinnern, daß das Verbot, den Sexus zu berühren, den die Mutter selbst während der Körperpflege manchmal erregt, die Frau in einem Schamgefühl und in der totalen Abhängigkeit einsperrt und der weiblichen Sexualität eine passive, negative, “kastrierte” Position zuweist. Was im Weiblichen furchterregend ist, ist nämlich dessen Reduzierung auf den Zustand eines “Dings”, des Todes, des Bemächtigungsverlustes und der Hingabe der Bemächtigung durch Andere. Wenn auf Onanie und Sexualität ein strenges Tabu lastet, so hat dies zur Folge, schreibt Mitscherlich, “daß auch die entsprechenden ödipalen Phantasien unterdrückt werden und sich keine lustvolle Autonomie im Verhältnis zum eigenen Körper entwikeln kann.” Einen Signifikanten für alle Körperteile und den weiblichen Sexus zu haben, um diese zu benennen, ist wichtig, denn was nicht genannt wird, ist Nichts; es existiert nicht. Wichtig ist auch, daß dieser Signifikant kein Wort mit einem entwertenden Sinn ist, und daß die Mutter nicht ablehnend reagiert, wenn das kleine Mädchen ihre Genitalien entdeckt und die Anerkennung ihrer Andersartigkeit bei dem Vater sucht. Dies ist ein entscheidender Schritt zur Bildung eines differenzierten Körperbildes. Nach Mitscherlich kann die Loslösung von der Mutter “nur dann gelingen, wenn das Kind die narzißtische Besetzung seines ganzen Körpers, die Genitalien eingeschlossen, geleistet hat.”

Nun sind die meisten Frauen von dieser Ganzheit abgeschnitten. Im Kampf mit dem Körper verstrickt zu bleiben, ist ein Mittel, die Illusion, die in früher Kindheit ihren Anfang nahm, weiter auszuleben, das tröstliche Gefühl, die Mutter und sie wären eins. Die magersüchtige Frau ist in einem Kloster eingeschlossen, in dem der Körper Gottes Stelle eingenommen hat. Sie strebt aber wie früher die Mystikerin nach einer anderen Liebe, nach einer anderen Sprache, nach einem anderen Ort, von dem sie die Erlösung erwartet. Und das gelobte Land liegt in der “männlichen” Welt der Idee:

“Ein inneres Leben zu haben, nachdenken, jonglieren, schweben, Gleichgewichtskünstler in der Welt der Idee werden,” schrieb Violette Leduc. “Angreifen, zurückschlagen, widerlegen, was für ein Wettkampf, was für ein Krawall, was für ein Ritterschlag! Verstehen. Das großzügigste Verb. Das Gedächtnis. Behalten. Die Intelligenz. Mein herzzerreißender Mangel. Die Wörter, die Gedanken gehen rein und raus wie Schmetterlinge.. Ich werde mich mit dem Namen von Kassandra trösten. Laut ausgesprochen, gibt er mir die Illusion der Intelligenz. Kassandra. Schamhaftigkeit, Eleganz. Diskutieren, Meinungen tauschen, Überzeugungen gewinnen.”

Mit der Hilfe des Wörterbuchs lernte Violette, den Kern der Wörter, den Sinn, die Bedeutung ihrer Sprache zu assimilieren, lustvoll zu genießen. Das Mißlingen der Beziehung zu anderen endete in dieser privilegierten Form des Sich-Mitteilens: einem eigenen Werk!

 

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