3.8 Das Verhältnis zum Vater

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter

Bisher wurde vorwiegend die Bedeutung der Mutter-Tochter-Beziehung erörtert. Dennoch ist der Vater eine Schlüssel-Figur in der Psyche magersüchtiger Frauen, unabhängig davon, ob das Vaterbild zu stark oder zu schwach ist. Trotz ihrer kritischen Einstellung dem Vater gegenüber identifizieren sich viele Magersüchtige mit ihm. Auch wenn sie vom Vater in der Kindheit, manchmal auch in der Jugendzeit, geschlagen wurden, bewundern sie ihn, vor allem wenn er “der Herr im Haus” ist. Um diesem herrschenden Vater zu gefallen, versuchen sie, sich männliche Eigenschaften anzueignen, sei es im intellektuellen oder im sportlichen Bereich. Nach Kestemberg, Kestemberg und Décobert ruft die Phantasie des idealen, schlanken und erigierten Körpers, der eine Art Phantasiebildschirm der nur durch die Ausleerung nach dem Auffüllen lebenden Körper-Röhre ist, das Bild des rein geistigen, durch einen in seiner Idealisierung unsterblichen Phallus dargestellten Vaters hervor. Das Selbst der Tochter verschmilzt durch die Identifikation mit dem phantasierten erigierten Penis des Vaters mit dem idealen Partialobjekt zum Ideal-Selbst. Untergründig spürt man dennoch die Abwesenheit des Vaters und den Wunsch der Tochter nach einem Sicherheit und Liebe spendenden Vater, einem Vater, den sie sich als Retter vor der symbiotischen Verschmelzung mit der Mutter ersehnt, der aber in Wirklichkeit gar nicht existiert.

Auch Tania Blixen war der Überzeugung, ihr Vater habe sie aus der Kinderstube und damit aus der Gewalt von Großmutter und Tante befreit. “Er ließ sie das uneingeschränkte sinnenfrohe Leben eines Mannes kosten, das einen Gegenentwurf darstellte zur begrenzten Welt der Frauen mit all ihren ethischen Fallen und ihrer Selbstverleugnung.” Tania Blixen sagte immer über ihren Vater, er habe sie stets verstanden so wie sie war und auch so geliebt. “Sie sagte aber auch, daß er, da er sie verlassen habe, die ‘Verantwortung’ dafür trage, daß sie es im Leben so schwer hatte; wäre er am Leben geblieben, so wäre mit Sicherheit alles sehr anders gekommen.”

Die magersüchtige Frau ist in ihrer Phantasie untrennbar mit ihrem Vater verbunden. An anderer Stelle schreibt Thurman über Tania Blixen: “Wenn Tanne allein mit dem Vater durch die Wälder streifte, dann war ihr, als seien sie die einzigen Menschen auf der Welt. Es war Tannes Paradies vor dem Sündenfall.” In dieser “Vaterleibsphantasie” sieht Fenichel die Vorstellung vom Penis als die Fortsetzung der Vorstellung vom Inneren des Mutterleibes. Die Identifizierung mit dem Penis entspricht der Identifizierung mit dem Embryo, dem Anhängsel der Mutter. Demnach wären die magersüchtigen Töchter zumindest im Stadium der Identifizierung mit dem Phallus das phantasierte Bindeglied zwischen Vater und Mutter.

Im Gegensatz zur Anorektikerin, die eher eine starke, dominante (phallische) Mutter und einen abwesenden, infantilen, charakterschwachen (kastrierten) Vater hat (dies vor allem in den romanischen Ländern), hat die Bulimikerin eine Mutter, mit der sie sich nicht identifizieren kann, und einen mächtigen Vater, vor dem sie sich unterschwellig fürchtet. Kestemberg, Kestemberg und Décobert stellten fest, daß das verführerische Verhalten des Vaters zudem häufig der Anorexie vorausgeht und daß dieses zweideutige Verhalten in der Form einer Faszination durch die anorektische Verhaltensweise der Tochter fortbesteht. Ein solches Verhältnis zu dem Vater kann Anlaß zu einer Eßstörung sein, wenn die junge Tochter merkt, daß sie ihrem Vater besser gefiele, falls sie zehn Kilo weniger wöge.

Bei der Bulimie spielt hingegen die Verfolgungsangst eine wesentliche Rolle. Diese ist typischerweise dadurch gekennzeichnet, daß das “Verzehren” der Nahrung von vornherein mit der Angst koexistiert, “verzehrt zu werden”, das heißt mit der Angst, dem Koitus des Vaters zu dienen. Im Wunsch, abzunehmen, verbirgt sich die Angst, Objekt eines zu sehr manifesten sexuellen Begehrens seitens des Vaters zu werden. Die visuelle Darstellung einer in ihrer Fülle und ihren Formen reduzierten Figur, die in der Lage ist, durch die Finger des begehrenden Objekts zu schlüpfen, beschwört die Gefahr einer inzestuösen Beziehung. Die Vergewaltigungsangst wird wiederum nur überwunden, wenn der Vater auf seine libidinösen Annäherungsversuche verzichtet.

Viele magersüchtige und bulimische Frauen sind in ihrer Kindheit oder als Heranwachsende – meist innerhalb der Familie – Opfer sexuellen Mißbrauchs oder sexueller Belästigung gewesen. Zahlreiche Studien stellen Ähnlichkeiten zwischen den Symptomen von eßsüchtigen Frauen und Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, fest. In beiden Fällen spiele sogenanntes dissoziatives Verhalten eine wesentliche Rolle, das heißt, die Frauen versuchen, ihren Körper vom Ich abzuspalten, um sich zu schützen. Sie erleben ihren Körper als etwas Fremdes, ihnen nicht mehr Zugehöriges, versuchen, ihr Selbst unbeschädigt zu erhalten, was immer dem Körper auch widerfahren sein mag. Die Konsequenz ist oft Abscheu und Ekel vor Sexualität. Die traditionelle Rolle als Frau wird abgelehnt.

Die verantwortlichen inzestuösen Männer ihrerseits können nur schwer Zuneigung und sexuelles Verlangen voneinander trennen. Das Kind wird wie ein Selbstobjekt behandelt. Daß es vergewaltigt oder zum Oralverkehr gezwungen wird (was im übrigen mit akuter Erstickungsgefahr einhergehen kann und ihr Leben schließlich bedroht), wurde lange Zeit als Tabu behandelt.

Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Louise Desalvo zeichnet ein packendes Porträt von Virginia Woolfs viktorianischer Familie, deren Mitglieder durch zahlreiche inzestuöse Bande miteinander verbunden waren. Vergewaltigungen, allzu intime Gewohnheiten und gebilligte Verführung auch durch entferntere Verwandte haben das Leben Virginias seit ihrer frühen Kindheit bestimmt. Der sexuelle Mißbrauch durch ihre Halbbrüder wurde vor allem als Ursache für ihre Eßverweigerung, ihre lesbischen Neigungen und ihren Selbstmord gesehen. Durch diese destrukturierende Erfahrung wurde Virginias symbolisches Leben in der Sexualität gehemmt. Was Ferenczi als “verbotene Frucht” bezeichnet, bringt das Verbot oder genauer die Vorstellung des “Ernährungs-Inzests” ans Licht. In dieser Hinsicht wird die Bulimie von einigen Autoren als Inkorporation des Penis interpretiert, da die Nahrung die Rolle des symbolischen Substituts des väterlichen oder brüderlichen Phallus ersetzt. Dies würde zum Teil erklären, warum Virginia Woolf bereit war, sich langen schmerzlichen Mastkuren zu unterziehen, die sie bis zu ihrem Tod vor Angst erzittern ließen. Für sie nahm der Konflikt zwischen Fleisch und Geist die Wendung eines tödlichen Duells.

Das Verhältnis der Bulimikerin zu Männern ist oft von Furcht geprägt, da das Verhältnis zum Mann über das Verhältnis zum Vater führt. Der Vater wird beschrieben als “sehr strenger oder aufbrausender und wenig einfühlsamer Vater”. Er gilt als “mächtig und bedrohlich”, “einer, der sich um alles zuhause kümmert”, “Alkoholiker”, “tyrannisch und eifersüchtig”, als einer, der nie da ist, der seine Familie verlassen hat, oder der “depressiv und selbstmörderisch” ist und nur seine Gefühle und seine Begierden in faszinierenden, aber gefährlichen und destruktiven Wutanfällen auslebt. Die Bulimie der Tochter ist dann als Echo der schnell aufgebrachten Impulsivität des Vaters zu verstehen. Die Vaterbilder sind also bei Bulimikerinnen Bilder der Macht (oder sogar der Gewalt); daher auch die Neigung der Betroffenen zu einem starken, virilen, mächtigen Selbstbild, das eine Reaktion auf eine als erdrückend, erstikend und nicht befriedigend empfundene mütterliche Abhängigkeit ist. In dieser Konfiguration kleben sie an der Mutter (dies drückt sich häufig durch die vielen Telefonate mit der Mutter aus, wobei die Schnur als “Nabelschnur” interpretiert werden kann), während der Vater, ob gehaßt oder vergöttert, “fern vom Leibe gehalten” oder als ewiger Abwesender denunziert wird: “Das Wort ‘Vati’ habe ich mit Füller durchgestrichen und durch ‘mein Vater’ ersetzt. Soweit erlaubte ich mir anscheinend zu gehen. Auf jeden Fall hielt ich ihn für einen Tyrannen. In meinen Tagebüchern finden sich immer wieder Klagen über ungerechte Behandlung, unverdiente Bestrafungen (auch die körperliche Variante) und willkürliche Verbote. Auch gegen meine Mutter hegte ich Groll. Ich fand, daß sie meine Partei hätte ergreifen und mich irgendwie vor meinem Vater hätte verteidigen müssen.”

Dennoch fehlt auch eine Komplizität mit dem Vater nicht, da dieser trotz allem in den Augen der Bulimikerin ein Bild der Kraft und auch der Verführung darstellt. Hinter der Gleichgültigkeit und dem Mangel an Kommunikation versteckt sich aber fast immer, wie eingangs erwähnt, eine Beziehung inzestuöser Art, die die Mutter mißtrauisch macht. Obwohl manche Frauen die Härte des Vaters ablehnen, empfinden sie das Bedürfnis, seine Wutanfälle oder seine Gleichgültigkeit zu rechtfertigen, da sie ein Bündnis mit einem starken und idealisierten Menschen suchen. Der idealisierte Vater ist das Liebesobjekt, der reale Vater aber eher enttäuschend.

Die Bulimie der Tochter, die die Mutter ebenso quält wie die Härte des Vaters, erscheint also als entferntes Bündnis mit dem Vater. Die Identifizierung mit dem Vater ist um so prägnanter, je weniger die Mutter ein aufwertendes oder beneidenswertes weibliches Bild repräsentiert. Sie ist eher verängstigt, passiv, frustriert, eine von ihrem Mann erniedrigte Mutter, mit anderen Worten: eine bedauernswerte Figur. Wie sie will die Bulimikerin auf keinen Fall sein. Sie will stark werden.

Hinter der Haltung der Tochter errät man manchmal die Eifersucht einer Mutter, die die Liebe ihrer Kinder nicht mit dem Vater teilen will, sei es, um ihn zu bestrafen, sei es, um jede Rivalitätsgefahr seitens der Tochter abzuwehren. Da der Vater in diesem Fall eher dazu neigt, sowohl jede Form von zu intimer Beziehung mit seiner Tochter als auch jede Form von Konfrontation mit seiner Frau zu vermeiden, wird das Vater-Tochter-Verhältnis auf schmerzliche Weise von Enttäuschung geprägt. (“Zwischen meinem Vater und mir fand keine wirkliche Kommunikation statt”, schreibt S. MacLeod. ) Es kann auch vorkommen, daß das von den Eltern empfundene Gefühl des Versagens angesichts einer kaum beeinflußbaren Bulimie bei dem Vater ein Gefühl ständiger Irritation und gleichzeitig ein überbesorgtes Verhalten erzeugt. Er versucht dann, zwischen Mutter und Tochter zu intervenieren, um den Schaden zu begrenzen. Kestemberg, Kestemberg und Décobert sprechen hier von einer “Bemutterung” des Vaters, die von einer ungewöhnlichen Aufmerksamkeit gegenüber seiner Tochter schon zu Kleinkindzeiten charakterisiert wird. Diese Bemutterung kann dazu führen, daß eine dauerhafte Beziehung zu einem Mann erschwert wird. Die Tochter bleibt im Pantheon des Vaters gefangen, das heißt dem Vater treu, und weigert sich, ihm eine Nachkommenschaft zu schenken, um seine symbolische Macht unter Ausschluß aller anderen Männer zu bewahren. Hier finden wir den Mythos der Danaiden, der Nachfahren der durch die Wut der Göttin bestraften “inzestuösen Tochter” wieder: diese wurde aus ihrer Heimat vertrieben und zum Umherirren verurteilt. Auch die Bulimie ist eine Flucht vor dem Wahnsinn, vor der mütterlichen Rache (im Mythos durch den Stich einer Bremse symbolisiert), wobei “die Krankheit” bei der Tochter nicht wie bei Ulysses trotz Umwegen ins Vaterland zurückführt, sondern in ein Land des Exils. (Vgl. J. Kristeva, Die ersten Fremden waren fremde Frauen )

In der Bulimie wie in der Anorexie ist eine doppelte Bewegung zu erkennen: das Streben, zu benennen, was man einerseits vom Vater, andererseits von der Mutter hat. Dies ist nach Laurence Igoin ein wichtiger Punkt, da Angst entsteht, wenn die beiden Stützen plötzlich fehlen oder als miteinander nicht vereinbare Entscheidungen erlebt werden, wenn die vermutete Mesalliance der Eltern sich also als unerträglich erweist. “Der Kampf zwischen Lebenswillen und Todessehnsucht, zwischen Fressen und Hungern, ist der Streit zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen in ihrer Seele”, schreibt hierzu Andrea Graf. “Da ihr Ich sich verzweifelt an die falsche Seite klammert, die männliche, werden beide destruktiv. Wenn es ihr gelänge, ihr Ich umzupolen, indem es ihre Weiblichkeit akzeptiert, dann könnte die männliche Seite schöpferisch werden.”

Schöpferisch wurde eine Frau wie Tania Blixen trotz allem, aber im affektiven Bereich wiederholte auch sie und verklärte das, was sie in Wirklichkeit als große Entbehrung in ihrer Kindheit erlebt hatte, nämlich daß “die beste Ehe eine Seemannsehe sei: die Verbindung zwischen einer bodenständigen, Kultur stiftenden und wahrenden Frau und einem ungebundenen Mann.”

Wenn die Mutter zugleich Vater und Mutter gewesen ist, finden wir häufig das Bild des von der mißtrauischen und verbietenden Mutter dargestellten abscheulichen Vaters. In ihrer Tochter sieht die Mutter die schlechten Seiten des Vaters. Dieser wird als unfähig, widerlich, schlecht oder verräterisch dargestellt. Die Tochter empfindet Verwirrung sowohl bezüglich der Identität des Elternbildes, das normalerweise einen hohen Identifizierungswert hat, auch bezüglich ihrer eigenen Identität. Ähnelt sie dem Vater, wird ihr von der Mutter verboten, den Vater als Vorbild zu nehmen, ja selbst einen männlichen Partner zu suchen.

Die Tochter muß dann auf ihre eigenen Wünsche verzichten, um die unglückliche Mutter nicht zu verraten, und bleibt ein loyaler “kleiner Diener” wie Violette Leduc. Sie kann nur zu einem Substitut des kastrierten Phallus des zerstörten unvollständigen Vaters werden. Ein auffallender Zug in Violette Leducs Identifizierung mit dem Vater drückt sich zum Beispiel im Gefühl der Unvollständigkeit aus. Das Ich ist in diesem Fall immer der kastrierte Vater (oder die deprimierte und gefühllose Mutter). Die idealisierte Mutter ist hart, überlegen, und wird vergöttert. Die Tochter darf sich von ihr nicht loslösen; sie liefe Gefahr, die mütterliche Liebe zu verlieren und den eigenen verwüstenden Haß zu entdekken.

Auffällig ist, daß alle Frauen, die magersüchtig werden, sich stark für ihren Vater interessieren. “Im positiven Fall kann sich dieses Interesse in den Wunsch verwandeln, dem Vater zu gefallen und ihm nahezukommen. In anderen Fällen aber kann es so weit gehen, daß die Tochter Abscheu vor ihrem Vater empfindet. Das Interesse aber ist in jedem Fall da”, schreibt Marilyn Lawrence. In allen Fällen suchen magersüchtige Frauen ihren Vater. Der Konflikt spielt sich zwischen zwei widersprüchlichen Gefühlen ab. Das Versprechen, der Mutter treu zu bleiben (aus Liebe), und der Wunsch, dieses Versprechen zu verletzen (Haß), das ihr entlockt wurde, führen abwechselnd zu der Zurückweisung des Vaters und dessen unwiderstehlichem Reiz.

Falls der Vater fehlt bzw. gestorben ist, ruft seine Abwesenheit ein Gefühl der Verlassenheit hervor. Tania Blixen wurde durch die Trauer um den toten Vater in eine tiefe Einsamkeit gestürzt. “Es war”, sagte sie später, “als sei ein Teil von einem selbst gestorben”, und dieser Teil war die Fähigkeit, spontan und vertrauensvoll zu lieben. Von nun an litt sie zeitlebens unter einer Furcht, die “an panische Angst grenzte, ihr Leben und das Innerste ihrer Seele sozusagen unwiderruflich einzusetzen für etwas, was man verlieren könnte.” Zu Beginn ihrer Pubertät dachte Tania Blixen unablässig an ihren Vater und empfand sein Fehlen in ihrem Leben als vernichtende Tragödie. Im Alter von fünfzehn wurde sie ergriffen von der Wahnvorstellung, daß ihr Vater in ihr weiterlebe, und daß seine Ideale nur durch sie fortbestehen könnten. Immerhin schuf ihr diese Vereinigungsphantasie mit dem Vater – von erotischen wie von religiösen Gefühlen getragen – einen starken, wenn auch imaginären Verbündeten gegen die Verzweiflung.

In der Mutter fand sie eine Verbündete in ihrer hingebungsvollen Pflege zum Andenken des Toten. Für die Mutter war der Selbstmord von Tanias Vater “nicht nur ein Verlust von größter Tragweite, sondern in gewisser Weise eine beschämende Niederlage.” Erhängen war kein ehrenhafter Tod für einen Offizier. Als Tania an Syphilis erkrankte, dachte sie an den Selbstmord ihres Vaters zurück: “Meines Vaters Schicksal hat sich eigenartigerweise weitgehend in dem meinen wiederholt.”

Der Mutter blieb sie trotz der großen geographischen Entfernung treu. Selbst im höchsten Zorn war sie immer darauf bedacht, “ihrer Mutter zu versichern, wie sehr sie sie noch immer brauche und liebe.” Als sie sich von ihrem Ehemann trennte, sehnte sie sich verzweifelt “nach Zuspruch und schlichtem Trost, nicht Mitleid, nicht Rat – den Hauptbestandteilen des Gefühlsvorrats ihrer Familie.”

In dieser Zerrissenheit zwischen Vater und Mutter, Männlichem und Weiblichem, finden wir einen der Angelpunkte der weiblichen Sexualität: den Austausch des urprünglichen Objekts – der Mutter – gegen den Vater. Wegen ihrer Ambivalenz scheinen magersüchtige Frauen Angst vor dieser Veränderung zu haben und davor, daß ihre Liebesfähigkeit ganz verloren geht. Denn wenn sie das Liebesobjekt wechseln müssen, heißt dies nicht etwa, daß die Liebe sich nur verirren kann?

Dies mag eine Erklärung dafür sein, warum sie sich von der Mutter nicht loslösen können und woran sie leiden, nämlich an der Angst, einen Dritten zu lieben. Auch Freunde sind dann nicht mehr erwünscht, denn Freunde sind “Menschen, die leiden mußten und umkamen – das Wort selber bedeutete Trennung und Verlust”.

Magersüchtige bleiben also durch enge Fesseln an die Mutter gebunden, die schwer zu zerreißen sind, da sie aus Liebe und Haß bestehen. Sie leben gefangen in einer Wirklichkeit, die keine richtige Entwicklung kennt, da der Vater nicht eingriff, um sie aus der Zwei-Einheit schlüpfen zu lassen; oder wenn er es tat, dann inzestuös oder traumatisierend:

“Wenn ich ihm gestatte, sich mir zu nähern”, schrieb Marie-Victoire Rouiller, “wenn ich weine, kommt er vielleicht zurück, um mich lebendig in einer Gruft aus schwarzem Leder zu begraben. Und dennoch: wenn das Klappern seiner Stiefeln aufhört, an meine Schläfen zu schlagen und mich zu terrorisieren, werde ich langsam wie meine Mutter im Bade des Todes verschwinden können.”

Das Trauma ist besonders schwerwiegend, wenn, wie oben bereits erwähnt, die Frau als kleines Mädchen sexuell mißbraucht oder öffentlich in einer sadomasochistischen Szene geschlagen (phantasmatisch vergewaltigt) wurde, in der sie sich als “das Ding” ihrer erregten Eltern empfand. Die Kinder nehmen die emotionelle Hilflosigkeit ihrer Eltern wahr und spüren sehr genau, daß diese sie als Objekte narzißtischer Lust (oder Schmerz), das heißt, als erotische Objekte besitzen wollen. Die ödipale Krise des Kindes wird um so eher überwunden, je mehr die Eltern in ihrem affektiven Leben durch eine gegenseitige Liebe und ein unstreitiges Einvernehmen aneinander gebunden sind, die weder von den Worten noch von den Verhaltensweisen ihres Kindes aufgewühlt werden können. Wenn die Ehe nicht funktioniert, wird das Kind leider häufig zum Sündenbock, ohne jemals eine Chance zu erhalten, sich zu verteidigen:

“Mein Vater hob die Hand hoch”, schrieb Marie-Victoire; “er hatte nicht den Mut, uns zu schlagen, es reichte ihm, uns zu hassen, wenn er die Abwesenheit meiner Mutter nicht mehr ertragen konnte.”

Die Magersüchtige erzählt in der Art, wie sie sich selbst versklavt, kontrolliert, einengt, ums Leben bringt, was mit ihr in der Vergangenheit geschehen ist. Das soll nicht heißen, wie Alice Miller es auch betont, “daß die Eltern böse Menschen waren, sie haben nur ihr Kind dazu erziehen wollen, was es auch später geworden ist: ein gut funktionierendes, leistungsfähiges, von vielen Menschen bewundertes Mädchen.” Oft wurden sie nicht einmal von den Eltern selbst erzogen, sondern von Gouvernanten, oder im Fall von Virginia Woolf und ihrer Schwester Vanessa vom älteren Halbbruder. Fast immer, so Alice Miller, “zeigt die Anorexie nervosa alle Details einer strengen Erziehung: die Erbarmungslosigkeit, die Diktatur, das Überwachungssystem, die Kontrolle, die Verständnislosigkeit und den Mangel an Einfühlungsvermögen für die wahren Bedürfnisse des Kindes. Dazu kommt die Überhäufung an Zärtlichkeit abwechselnd mit Ablehnung und Verlassen (Freßorgien und Erbrechen).”

Durch den Tod der Mutter mußte sich Virginia Woolf dem Vater hinwenden und geriet in ein Dilemma: denn jetzt wurde sie von dem Halbbruder mißbraucht, zur Unterordnung gezwungen, in ihrer Weiblichkeit gedemütigt und erniedrigt. Diesen schmerzhaften Kampf einer Tochter mit ihrem Vater schilderte sie in ihren Erinnerungen: “Nie habe ich einen solchen Zorn, eine solche Ohmacht empfunden. Denn nicht ein Wort dessen, was ich empfand, durfte geäußert werden. Noch heute finde ich keine Worte für sein Benehmen, außer, daß es brutal war. Wenn er statt Worten eine Peitsche benutzt hätte, wäre die Brutalität auch nicht größer gewesen.” Dieses Beispiel zeigt, wie problematisch es für die Frau ist, sich – zum Zweck der Ablösung der Mutter – mit dem Vater zu identifizieren, wenn die Beziehung zwischen Vater und Mutter symbiotischer Natur ist oder nicht auf dem Prinzip der Gleichheit beruht.

Um ihre Stellung bei dem Vater zu bewahren, versucht die magersüchtige Tochter, sich mit ihm zu identifizieren, indem sie alles Männliche in Identifikationen mit den Mitgliedern der Gesellschaft idealisiert und ihre eigenen weiblichen Eigenschaften verleugnet. Diese Einteilung war in Virginia Woolfs Elternhaus besonders geprägt: “Unten im Haus herrschte die reine Konvention – oben der reine Intellekt. Aber es gab keine Verbindung zwischen den beiden.”

Das Bild, das magersüchtige Frauen von ihrem Körper haben, entspricht dieser dualistischen Einteilung: unterhalb der Gürtellinie das Weibliche, das unbewußt mit dem Tierischen gleichgesetzt wird, darüber der Kopf, symbolischer Ort der Gedanken und der existentiellen Kontrolle. Ihr Körper-Ich ist entzweit: “Mangel an Kontrolle. Eine entsetzliche, fürchterliche Versklavung. Ich werde zum Tier”, schreibt die Betroffene Karen Margolis in ihrem Bericht. “Ich verliere die menschliche Würde.”

Wir haben gesehen, daß diese Spaltung, die eng mit der paranoid-schizoiden Position zusammenhängt, “in einer sich in der Phantasie abspielenden Projektion gespaltener Teile der eigenen Person des Subjekts, sogar seiner ganzen Person (und nicht nur böser Teilobjekte) ins Innere des mütterlichen Körpers besteht, und zwar derart, daß die Mutter von innen her verletzt und kontrolliert wird.” Hier können wir aber auch eine Identifizierung mit dem Angreifer erkennen. Die magersüchtige Frau identifiziert sich mit dem mächtigen idealisierten Vater, was die Verkennung des weiblichen Körpers, seine Unterwerfung, sogar sein Verschwinden einschließt. Wichtig ist dabei, daß die mit Recht oder Unrecht von der Psychoanalytikerin Célérier als “borderline”- Subjekte betrachteten Magersüchtigen der Psychose entgehen, weil sie die Stellung des Vaters in einem Pseudo-Ödipus anerkennen, der sie vor der destruktiven Fusion mit der Mutter rettet.

Die Rolle des Vaters bleibt in der Erziehung des Kindes nämlich wichtig durch die Bedeutsamkeit, die ihm durch das Begehren der Mutter verliehen wird. Dadurch findet das Kind Zugang zu einer anderen phantasmatischen Welt als der der Dyade und entdeckt, daß es neben der Mutter andere mitmenschliche Objekte gibt. Man kann aber nicht genug betonen, daß die in der Entwicklung der Tochter dominante Rolle der Mutter nur dann vollständig gespielt werden kann, wenn auch die Mutter als physische und symbolische Person vom Vater aufgewertet wird. Nun sind die Mütter magersüchtiger Frauen meist mehr Mütter (aber nicht notwendigerweise mütterlich) als von ihrem Ehemann anerkannte Frauen, und sie haben das Gefühl, einen Teil von sich selbst für die Familie und die Kinder geopfert zu haben. Daher erlebt die magersüchtige Frau schon als Kind eine duale Situation, die die Identifikation mit der Mutter behindert.

Weil die Psychoanalyse davon ausgeht, daß die ursprüngliche Erfahrung des Kindes mit dem primären Objekt eine körperlich-einverleibende ist, ist Palazzoli sicher, daß “die Einverleibung der negativen Aspekte des primären Objektes mit der darauffolgenden Verdrängung und Abwehr gegen die Rückkehr dieses Objektes in das Bewußtsein die dynamische Grundlage eines psychopathologischen Körpererlebens bilden mußte.”

Es handelt sich daher in der Magersucht um eine definitive Ablehnung der Vergangenheit, die mit der Distanzierung einem Körper gegenüber zusammenhängt, der als “fremd” wahrgenommen wird. Auch Tania Blixen hatte sich Zeit ihres Lebens Mühe gegeben, dünn zu sein – nicht nur wegen der ästhetischen Befriedigung, die ihr dies zweifellos verschaffte. “Man lernt ja im Laufe der Jahre”, bemerkte sie 1928 zu ihrer Schwester Elle, “die kleineren Bedingungen des Lebens zu verstehen und sortieren, die dazugehören, damit man man selbst sein kann. Ich weiß zum Beispiel, daß ich nicht dick sein darf; und wenn ich auch alle Qualen des Hungers erleiden muß, so ist das immer noch besser als das Dick-sein, denn das ‘cramps my style’.”

“Sei du selbst”, war das Leitmotiv früherer Werke, mit anderen Worten: sei eine Frau, die einen Anspruch auf die gleichen Privilegien wie der Mann (der Bruder?) hat. So könnten sich der ‘Penisneid’ und die Bedeutung des Schreibens erklären lassen. Das Schreiben wird zu einem verzweifelten Bemächtigungsversuch und zugleich zum Substitut der Masturbation. Die Todeswünsche gegenüber der Mutter, die auf brutale Weise bei einigen der erwähnten Schriftstellerinnen plötzlich hervortreten, sind der Versuch, sich von derjenigen Person loszulösen, die sie in einem unerträglichen Schmerz gefangen hält. Einen Penis durch das Schreiben zu besitzen, heißt also, die Mutter bzw. die mütterliche Imago zu überwinden, sich sexuellem Genießen hingebend.

 

Unter dem Vorwand, den materiellen Komfort mit dem Geld des Vaters zu steigern, vergrößert unsere Gesellschaft das psychische Unbehagen durch eine exklusiv weibliche Erziehung. Auch Frauen, die arbeiten, kümmern sich hauptsächlich um die Kinder. Die Abwesenheit des Vaters macht die Mutter um so mehr anwesend. Sehr schnell verfallen die Eltern der Vorstellung der Aufopferung (der Vater arbeitet zu viel, und die Mutter konnte sich wegen der Kinder nicht richtig verwirklichen) und geben dem Kind zu erkennen, daß allein die Pflicht und die soziale Funktion ihr Leben ausfüllen. Wenn der Vater nicht wirklich abwesend ist, ist er meist eine simple Nachbildung, Verdoppelung der Mutter, anstatt das zu sein, was Dolto “den Anderen der Mutter” nennt. Nun gibt allein die Triangulierung Mutter-Vater-Kind jedem die Möglichkeit, ein Feld einzunehmen, einen Raum zu schaffen. “Eine langsame Lösung von der symbiotischen Beziehung zur Mutter und die Zuwendung zu einer dritten Person, die Fähigkeit zur Triangulierung in der Wiederannäherungsphase” (wobei der Vater sich in der frühkindlichen, präödipalen Periode als neues Objekt anbietet, das von der allzu großen Abhängigkeit von der Mutter befreien kann), “müssen für beide Geschlechter als Grundlage für die Entwicklung zur Selbständigkeit angesehen werden”, schreibt Mitscherlich.

In einer Gesellschaft, in der der Mann immer abwesender ist, wird es zunehmend schwieriger, diesen entscheidenden Schritt zu machen: immer mehr Mütter sind alleinstehend und fungieren zugleich als Vater und Mutter. In dieser sogenannten “vaterlosen Gesellschaft”, “wo Männerbünde, Brudergemeinschaften, ‘Männlichkeit’ im traditionellen, selbstidealisierenden Sinn und doppelte Moral, aber kaum Väterlichkeit zu finden sind” , wird nicht nur die Gleichheit der Geschlechter gepriesen, sondern auch deren Undifferenziertheit.

Wie Lacan geht Mitscherlich von einem psychischen Modell aus, in dem das Dritte konstituierend ist, und warnt vor der Dyade. In der Figur der Triangulierung ist als Drittes (je nach Vorbild) der Vater, das Gesetz, die Kultur anwesend. Der Vater erscheint in der Symbolik weniger als ein der Mutter gleicher Elternteil denn als Gesetzgeber. Er ist die Quelle der Institution.

Die Magersüchtige bringt nun aber zum Ausdruck, daß er doch NICHTS von all dem ist. Sie fordert die Macht (das Gesetz, die Männer, die Medizin) heraus. Derweil setzt die Bulimikerin sich selbst die Regel eines einsamen Spiels: essen und heimlich erbrechen. Der Arzt oder der Psychotherapeut, Fürsprecher der Gesellschaft (er versucht aus beiden doch noch “richtige” funktionierende Frauen zu machen), wird sich also vergeblich bemühen, ihnen Vernunft beizubringen, denn sie bestimmen sich im Namen eines anderen Gesetzes, eines nicht geschriebenen Gesetzes, das das Gedächtnis einer Familie verewigt und die mütterliche Stammesgeschichte respektiert. Der Kampf, der von der Mutter nicht geführt wurde, wird mit ihrem lautlosen Einverständnis von den Töchtern geleistet, koste es, was es wolle: das genitale Begehren des Vaters wird verschluckt und begraben; die Ausgehungerte kann nicht mehr sprechen, sie hat “ein Grabmal im Mund” (l’affamée).

“Sogar beim Essen kriege ich nicht, was ich will. Ich esse jedoch kaum jemals tolles Essen, wenn ich mich einfach nur vollstopfe. Ich bevorzuge Heferollen und Kaffee, weil sie so undefinierbar sind”, schrieb Maryse Holder. “Ich bin eine Heferolle.”

Nur Tanzen machte ihr Spaß und Schreiben, weil sie sich dabei in “ihr eigenes Symbol” verwandelte: “eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt”.

Todesschlange und Liebesschlange werden von Maryse verwechselt, da die genitale Sexualität für sie nur zerstörerisch sein kann. Beides, Tanzen wie Schreiben, zelebriert hingegen das Unvergängliche, symbolisiert aber die abwesende Sprache. Die Kunstschrift wie der Tanz bleiben ein Ersatz für die verstummte Sprache und sind damit sekundäre, gefährliche Bemühung, sich symbolisch eine Abwesenheit wiederanzueignen. Tanzen und Schreiben haben als unmöglich Symbolisierbares und als unmöglich Sagbares etwas mit jenem extremen Moment der leidenschaftlichen und verstummten Liebe zu tun. In der Tat leidet Maryse “stumm”, und Valérie Valère hat zwei Jahre lang “schweigend geschrien”. Violette Leduc sagte: “Schreiben heißt, sich zu befreien. Das ist falsch. Schreiben heißt, nichts zu ändern.”

 

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