3.7 Bedeutung der Sprache

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter

Die bulimische Symptomatik wird häufig durch Trennungen ausgelöst, also dadurch, daß das Mädchen oder die Frau vom Freund verlassen wird oder von zu Hause auszieht. Das Schicksal Maryse Holders ist vielleicht extrem, aber dafür um so deutlicher. (“Und jetzt, keine Karriere, kein Geld, kein Stan. Ich kann nicht zurück.” ) Und ihr Fall ist ein gutes Beispiel für die allgemeine Unsicherheit der Frauen bezüglich ihres Aussehens und ihres Wertes in der Öffentlichkeit. Der einzige gangbare Weg zur Lösung des Problems schien ihr eine “Auslieferung” ihres Körpers in der Sexualität und ein partielles, oberflächliches Einlassen auf die Männer. Mit anderen Worten eine Art Doppelleben, das den Rückzug auf das Gefühl der Grandiosität und seine Erhaltung als Zufluchtstätte erlaubte (Maryse betrachtete sich als “Abenteuerin, Kultursuchende, Vamp” ) und dennoch eine – wenn auch unbefriedigende, frustrierende – Beziehung ermöglichte.

“Total als Sache betrachtet zu werden, kann auch befreiend wirken. Führt zu einer ironischen Haltung, d.h. Eigenliebe” , erzählt Maryse in den ersten Briefen. So läßt der Schmerz nach. “Belustigtes Überlegenheitsgefühl stellt sich wieder ein (Illusion), ein Zyklus, der sich immer wiederholen wird.”

Wie man als kleines Kind behandelt worden ist, so behandelt man sich später sein ganzes Leben lang” , schreibt Alice Miller. Und vielleicht auch seine Mitmenschen…

Wir erwähnten bereits, daß bei magersüchtigen Frauen keine Introjektion, kein Ausfüllen des ohne Brust gebliebenen Mundes mit Wörtern stattgefunden hat. Aus diesem Grund vermochte Maryse nicht im Spiel der Artikulation und der Benennungen das unerträgliche Fortsein der Mutter zu verarbeiten (sie war zwei Jahre alt, als diese starb). Die symbiotischen Wünsche wurden durch die Sprache nicht aufgelöst und das Drama der Trennung nicht besiegelt. Die Unfähigkeit, das Fehlen der Brust zu introjizieren, weist auf die Unfähigkeit hin, die Abwesenheit, die Trennung und die Differenzierung zu introjizieren. Diese Differenzierung setzt aber, wie wir wissen, eine reziproke Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen voraus, also ein Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung. “Bei idealem Gleichgewicht kann die Person entweder ganz sich selbst hingegeben sein oder ganz empfänglich für andere. Sie kann allein sein oder mit anderen zusammen.” Die Fähigkeit, in solche Zustände einzutreten, bei denen Einssein und Getrenntsein miteinander versöhnt sind, ist Voraussetzung für die intensivsten Erfahrungen im erwachsenen Liebesleben. “Bei einem negativen Kreislauf der Anerkennung hat die Person das Gefühl, daß Alleinsein nur durch Vernichtung der aufdringlichen Anderen möglich ist; daß Einstimmung nur möglich ist durch Unterwerfung unter Andere.” Dies erlebte Maryse in der Konfrontation mit einer anderen, fremden Kultur:

“Irgendwie hat diese Kultur eine andere Wellenlänge und negiert mein augenblickliches Projekt, die Erforschung des Verlangens.”

Die Nahrungsmittel sollten bei ihr ersetzen, was sie bei anderen nicht erreicht: Liebe, Anerkennung und Zuwendung. Sie versuchte, in ihren Briefen zu zeigen, daß sie nicht nur einsam in einem fremden Land war, sondern im eigenen Selbst. Und weil sie mit niemandem diesen Schmerz teilen konnte, konnte sie sich auch in der eigenen Seele keinen Ort schaffen, wo sie sich hätte ausweinen können. Das Wehr-und Hilflose bekam keine Heimat:

“Diese hundert Jahre Einsamkeit – mein Leben – werden mir ein Rätsel bleiben. Einsamkeit schien mir plötzlich das eigentliche Thema meines Romans zu sein.”

Durch ihre Briefe versuchte sie, über ihr Lebensunglück und ihren Lebenshunger zu klagen, ohne jedoch jemals das Gefühl zu bekommen, gehört zu werden. (“Denn ich bin fürchterlich egozentrisch, wehleidig, von meinen eigenen Ängsten paralysiert. Ich weiß keinen Ausweg”, schrieb sie kurz vor ihrem Tod.

Maryses Mutter war, wie schon erwähnt, 1943 in Frankreich von den Deutschen erschossen worden. In Maryses Augen hatte ihre Mutter sie verlassen. Ihr Tod war, ihrer Meinung nach, eine Art Selbstmord gewesen. Obwohl sie von ihrer Kindheit in Frankreich verfolgt wurde wie auch von den Jahren auf der Flucht vor den Nazis und dem Trauma, als Siebenjährige in Amerika eine neue Sprache lernen zu müssen, betrachtete sie sich aber nur insofern als Opfer, daß sie keine Mutter hatte, referiert ihre Freundin.

Maryse, wie viele andere eßgestörte Frauen, fühlte sich “überflüssig”. Sie war als Kleinkind nicht in der Lage gewesen, ihre Mutter “bei sich zu halten”. Dafür war sie “nicht gut” genug gewesen. Maryses Forschen über das Verlangen beleuchtet jenen Punkt, zu dem wir ununterbrochen streben, von dem wir uns aber aufgrund unserer Fähigkeit zur Sprache ausgeschlossen fühlen. Nach Boons entsteht letztlich Genießen nur, “wo Sprache verloren geht. Beim Sprechen stoßen wir stets auf – mit jedem Wort auftretende – Momente von Seinsverlust: dies gibt uns Anlaß zur Annahme, daß es ein Ur-Genießen vor dem Wort gibt.” Diesen Zustand des Ur-Genießens hat Maryse zu erreichen versucht, als sie ohne Spanischkenntnisse nach Mexiko ging:

“Es ist erstaunlich, wie die Unkenntnis der Sprache das Leben in noch verstärktem Maß zu einem mirakulöserweise zusammenpassenden Puzzle werden läßt.”

Maryse war auf der Suche nach einer neuen Sprache in der Hoffnung, sich dieses Mal von dem Ort des Ur-schmerzes zu entfernen:

“Mein Schatten auf der Discowand, auf dem Sand, im Wasser. Versuche, eine neue Sprache auszufeilen.”

Erst im Ausland konnte Maryse wie ein Säugling in die Worte des Anderen eintauchen und sich in dessen Abhängigkeit begeben: “Machismo und Leidenschaft, ich bin mir nicht ganz sicher, ließ uns eine eigene Sprache entwickeln. Diese Sprache, die ziemlich primitiv war, und die nur wir verstehen konnten, war das Aufregendste an der ganzen Sache.”

Diese “gemeinsame” Sprache schaffte aber keine Wirklichkeit. Ihr sexuelles Glück blieb narzißtisch, im Bild des Ähnlichen und des “Zwillings” gefangen, und drückte die tiefe Sehnsucht nach der Mutter, nach der homosexuellen Liebe aus. Deutlich ist zu erkennen, daß sie immer noch “hungrig” nach jener Geborgenheit und jenem emotionalen “Ernährtwerden” strebte, an dem es ihr in der Kindheit gebrach. Da sie diese notwendige “Nahrung” in der alltäglichen Umwelt nicht erhielt, fiel sie immer wieder zurück in übermäßige Nahrungszufuhr. Das verschluckte Objekt war für sie jeweils nicht mehr gegenwärtig, und so mußte sie – gierig – weiter essen, wie “eine Löwin” , ohne dadurch endgültig gesättigt zu werden. Auf diese Weise regredierte sie auf eine “Zeit vor der Sprache”, d.h. außerhalb der Erinnerung.

Wenn der fusionelle Raum ein von der mütterlichen Stimme bewohnter Raum ist, die dem Kind seine erste psychische Nahrung besorgt, so erscheint Maryses Streben als das Verlangen, jenseits der Sprache zurückzukehren, das heißt in den Körper der Mutter, in ihren eigenen Körper. Ihre Erfahrung mit den Mexikanern, deren Sprache sie nicht kannte, führte sie zwangsläufig auf die Ebene unbewußter Wünsche nach imaginärer Ganzheit, nach Teilhabe an der Macht der archaischen Mutter, nach Symbiose im Begehren. Nichts stand mehr zwischen ihr und der Sonne , dem Ausdruck der mütterlichen Libido. Wenn sie sich der Wärme ihrer Strahlen hingab, drückte sie das ursprüngliche Begehren nach der Einheit mit der Mutter aus.

Ist Maryses Reisebedürfnis die Suche nach der “verlorenen Mutter”, wie Jung es vermutet? Oder ist es die Flucht vor der Mutter? Marie-Victoire Rouiller bezieht hierzu eindeutig Stellung: “Ich will mich entfernen, den Pranger der Kindheit loslösen, der mich zu Ihnen zurückführt, im Herzen gefesselt. Ich will wiederfinden, was mein Leben ohne Sie war, in dieser spanischen Jugendzeit, als ich neue Empfindungen durch Stimmen kennenlernte, die den Ihren nicht ähnelten.”

Im Ausland fühlte sich Marie-Victoire frei. Sie suchte die “gute Mutter”, die alles versteht, alles wiedergutmacht. Von ihrer Freundin Nièves sagte sie:

“Nur Nièves, indem sie mich in einer unbekannten Sprache anredete, konnte die empfindliche Spalte in diesem von mir errichteten Panzer finden. Sie hat mich im Schweigen, also in einem Ort jenseits des Gedächtnisses aufgenommen, an dem Sie mich noch nicht an den Tod meiner Mutter gefesselt hatten.”

Dieses Streben, in eine schweigende Welt hinabzusteigen, versinnbildlicht dennoch eine für die Depression typische Regression: die absolute Abhängigkeit; die Hoffnung, unterstützt und geschützt zu werden; den Ehrgeiz, auf ursprüngliche Befriedigungen zurückzugreifen. All dies wird durch die analytische Theorie als Verlangen nach der intrauterinen Zuflucht verstanden oder als Versuch bezeichnet, eine alte Erfahrung zu überwinden und abzuwehren, die keine Vorstellungsrepräsentanz haben konnte, und die im Gegenteil die ursprüngliche Agonie wieder hervorruft. Auf diesem sehr archaischen Zusammenhang fußt das Verlangen nach homosexueller Wiedergutmachung, das Marie-Victoire beschreibt:

“Ich war mit ihr bis in meine Sprache verbunden: ich hatte kein Spanisch gelernt, sondern ihre Art, zu sprechen, mit ihren Ausdrücken und dem Klang ihrer Stimme. Wenn sie in meiner Nähe war, fühlte ich mich lebendig; wenn sie mich küßte, wenn sie meine Hand hielt, spürte meine Haut keine Angst, ich war stark, ich leerte mich nicht mehr aus wie ein zerplatzter Schlauch; und wenn sie mit mir sprach, floß ihre Stimme in mir wie ein Saft, sie gab mir meine Wurzeln zurück.”

Diese Suche nach “wahrer” Identität wurde von Maryse Holder durch einen Schatten symbolisiert, der sie überall hin wie ein Spiegelbild oder ein “alter ego” begleitete. Mitunter kehrte die Zerstückelungsangst zurück, wenn die narzißtische Identifizierung verloren ging. Die Suche nach dem eigenen Selbst im “Ähnlichen” bedeutete doch, daß das Anderssein des Anderen verkannt werden mußte. Maryse verleugnete die Kultur des Anderen, und konnte daher die Kluft zwischen ihr und den Mexikanern nicht überbrücken:

“Inzwischen ist mir die tiefe Kluft, die uns trennt, auch klar geworden, diese Kluft zwischen seinem Spanisch und meinem Englisch, seinem Mexikanertum und meinem Amerikanertum, ganz zu schweigen von den geschlechtsspezifischen Unterschieden.”

Ihre Verneinung der fremden Kultur und der Geschlechtlichkeit führte zu einer selbstzerstörerischen Verhaltensweise. Ohne Kenntnis der Landessprache konnte keine wechselseitige Anerkennung stattfinden, konnte keine Andersartigkeit nebeneinander bestehen und keine gesellschaftliche Realität:

“Ich bin allmählich überzeugt, daß ich, solange ich die Sprache nicht beherrsche – dominar, wie sie hier sagen – keine Beziehung aufbauen kann, auch nicht mit Frauen.”

Nun beginnt das menschliche Dasein aber mit eben dieser besonderen Begebenheit, in die Sprache aufgenommen zu werden. Seit dem Ursprung ernährt sich das Kind ebensosehr von Wörtern wie von “Brot”. Karl Abraham versteht die Metaphorisation der Nahrungszufuhr als ein In-Wörter-kleiden. Sie sei die Introjektion als Prozeß, der für das Abgleiten von dem mit der Brust gefüllten Mund zu dem mit Wörtern gefüllten Mund durch die Erfahrungen des leeren Mundes sorge. Die Rolle der Mutter als Initiatorin in die Sprache (vgl. “Muttersprache”) ist also wesentlich und leider, so scheint es, noch zu stark von den Müttern verkannt. Die Mutter muß die Objekte beim Namen nennen, schreibt Dolto, weil das benannte Objekt als Repräsentant von ihr und daher der Nicht-Einsamkeit des Kindes funktioniert, wenn sie nicht mehr da ist. Wenn der Mund bestimmte Wörter nicht artikulieren, bestimmte Sätze nicht ausdrücken kann, wird er in der Phantasie “das Unbenennbare” zu sich nehmen. Der leere Mund, der vergeblich ruft, um sich mit introjektiven Wörtern zu füllen, wird von neuem unvermeidlich zum gierigen Mund vor der Sprache, vor der verbalen Phase. Der bulimische Anfall setzt auf diese Weise eine Art Rückkehr in die Zeit der ersten Regungen und Wutanfälle des Säuglings in Bewegung, dieser “ursprünglichen Gewalt”, die alle magersüchtigen und bulimischen Frauen in ihrem Inneren spüren und fürchten.

Bulimikerinnen erfahren die älteste, die archaischste Weise, eine im Inneren empfundene Spannung zu beruhigen: die, die Leere des Mundes dort auszufüllen, wo ein Bad voller zärtlicher Wörter notwendig gewesen wäre, um die Erfahrung des Mangels zu lehren. Ein Kind kann nicht immer den Mund voll haben (Nahrung, Schnuller, Daumen), und die Mutter muß nach und nach die orale Kastration durchsetzen, indem sie diese dem Kind mit Liebe und Geduld nahebringt und es in die Wörter, in die Sprache, die erste Frucht dieser “symboligenen Kastration”, einführt. Wenn die Kinder keine Möglichkeit haben, Worte, beruhigende Bilder zu introjizieren (die beruhigenden Wörter der Mutter kompensieren die Leere des mit Nahrung nicht erfüllten Mundes), werden sie Nahrung oder Objekte einverleiben, um eine innere Leere auszufüllen. Nach Dolto steckt das präpsychotische Kind alles in den Mund, kleine Objekte, Steine, Exkremente, alles was sich bietet. Aber dieser entmenschlichte Raum, den es verschlingt und manchmal auch erbricht, spricht nicht und ernährt es weder psychisch noch affektiv. Magersüchtige entgehen der Psychose, doch die Anorexie, die im erwachsenen Alter erscheint, ist womöglich die Folge eines frühzeitigen Mangels an Kommunikation und Einvernehmen mit der ernährenden Mutter.

Indem die Magersüchtige ihr Leiden dem Blicke Anderer zur Schau stellt und deren Faszination und Abscheu erregt, versucht sie, sich von der mütterlichen Bemächtigung zu befreien, sich eine unberührbare Hülle zu errichten, ein Grundsicherheitsgefühl in ihrer eigenen Haut zu bekommen. Didier Anzieu spricht hier von der Verarbeitung eines “Moi-peau” (Haut-Ichs) zunächst durch Bemächtigungsversuche des Körpers und dessen Inhalte (Aktivitäten der Ausleerung und des Nachfüllens: Anorexie, Bulimie, Verstopfung, Durchfall, das heißt die Verarbeitung von dem, was Anzieu ein “Moi-peau sac”, eine Haut-Ich-Tasche, eine Behältnis-Haut nennt); dann durch die Einzeichnung des Leidens auf seiner körperlichen Hülle.

In seinem ursprünglichen Zustand entspricht das Ich auch bei Freud dem, was Didier Anzieu das “Haut-Ich” nennt: das Ich ist vor allem ein körperliches Ich, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern das Ich selbst ist die Projektion einer Oberfläche. Kurz und gut, das unbewußte Ich ist vor allem ein Körper-Ich. Die Projektion der Haut auf das Objekt ist beim Kleinkind ein geläufiger Prozeß. Man findet ihn in der Malerei wieder, wenn das (oft übermalte und schraffierte) Leinen eine symbolische (oft empfindliche) Haut hervorbringt, die dem Künstler als Schutzwall gegen die Depression dient. Die autoerotische Besetzung der eigenen Haut erscheint bei den von ihrer Mutter zu früh getrennten Säuglingen. Auch findet man sie wieder bei erwachsenen Menschen, die zu früh von ihrer Mutter getrennt wurden. Maryse Holder berichtet von einer Pilzinfektion:

“Ich kratze wie verrückt zwischen den Zehen meines linken Fußes. Fußpilz hat meinem Leben einen neuen Sinn gegeben. Es macht solchen Spaß, diese käseartige Masse zu entfernen und die sich abschälende, schuppige Haut abzukratzen.”

Was am tiefsten in uns und was zugleich unsere Oberfläche ist, das ist die Haut, sagte Paul Valéry. Das Kind, auf französisch “l’enfant” (infans = das, das nicht spricht), erlangt die Wahrnehmung seiner Haut als Oberfläche anläßlich der Kontakterfahrungen seines Körpers mit dem Körper der Mutter und dies im Rahmen eines Verbundenheitsgefühl mit ihr. So gelangt das Kind nicht nur zu der Vorstellung einer Grenze zwischen “außen” und “innen”, sondern auch zu dem notwendigen Vertrauen in die fortschreitende Beherrschung seiner Öffnungen (Entleerung-Zurückhalten). Das Kleinkind kann sich dabei nur sicher fühlen, wenn es andererseits ein Grundgefühl besitzt, das für die Integrität seiner körperlichen Hülle bürgt. Dies ist nur möglich, wenn die Mutter es als eigenständige Person wahrnimmt, ihm das Gefühl vermittelt, daß sein Körper ihm gehört. Das lernt das Kind in einer Entwicklungsphase, die von Lacan als “Spiegelstadium” bezeichnet wird. Mit etwa zweieinhalb Jahren erkennt sich das Kind zum ersten Mal bewußt als Person im Spiegelbild. Vorher hatte es im engen körperlichen Kontakt mit der Mutter eine “gefühlte” Vorstellung von seinem Körper. Gesicht und Geschlecht, zusammen im Spiegelbild wahrgenommen, vermitteln dem Kind ein neues Bewußtsein seiner Identität als kleines Mädchen oder als kleiner Junge. Das Kind erfährt durch sein Spiegelerlebnis gleichzeitig, wie andere es sehen, was vorher in seiner Beziehung zu den Menschen seiner Umgebung keine Rolle spielte. Es empfindet jetzt ein neues Gefühl der Abgrenzung. Magersüchtige Frauen haben ein verzerrtes Bild von sich, weil die Mutter die wahren Bedürfnisse des kleinen Mädchens nicht richtig wahrnahm. Sie sah das Kind nicht, wie es war, sondern wie sie es gern gehabt hätte, ermutigte es zu dem, was Winnicott ein “falsches Selbst” nennt. Dieser Mangel an Anerkennung führt zu einem Gefühl der Unvollkommenheit, zu einer Verzerrung des Körperbildes. Frauen, die von Gedanken an den Körper besessen sind, sind sich unbewußt der Integrität ihres inneren Selbt nicht sicher.

Was heißt abnehmen zu wollen auf dem Hintergrund dieser Überlegungen? Abnehmen bedeutet, “überflüssige” Kilos zu verlieren. Was die Frauen daher verlieren wollen, ist auch das Gewicht ihrer Vergangenheit. Sie wollen sich von ihr befreien. Was schwer wiegt, ist die aus der Kindheit herrührende Angst, nicht gesehen zu werden. Der bulimische Körper wie der anorektische Körper ist zunächst ein sprechender Körper, der ein Leiden ausdrückt; ein animalischer Körper, erster Ort, an dem die Einzeichungen des Leidens Spuren hinterlassen (die Onophophagie ist fast bei allen Bulimikerinnen wiederzufinden: manche von ihnen kauen ihre Nägel bis auf’s Blut).

Der Körper ist dafür geschaffen, daß er gezeichnet wird und die Verletzungen trägt, von denen Narben Zeugnis ablegen. Die Verletzungen liegen aber meist weit zurück und sind so tief vergraben, daß man sie nicht benennen und verstehen kann. In diesem Sinne legt der abgezehrte Körper der Anorektikerin Zeugnis ab von dem Diskurs, der sie bewohnt: was die anderen als Krankheit oder Symptom bezeichnen, muß erkannt werden als ihr Wunsch, gesehen zu werden bzw. zu existieren und zu begehren. Durch ihre beharrliche Eßverweigerung bekundet sie ihre Forderung nach dem Beweis des Begehrens bei ihrer Mutter und nach einem eigenen Anspruch auf Autonomie und Begehren.

Das kleine Mädchen, das als weibliches Geschlecht nicht begehrt wird, kann kein echtes Objekt für die Mutter sein. Darum muß es eine Fata Morgana, nämlich die des Besitzes eines Penis, schaffen, die den Wunsch verdeckt und begräbt, als Mädchen gesehen, akzeptiert, geliebt, anerkannt zu werden. Nicht der rühmliche Penis wird geneidet, sondern der Status des durch die Mutter und die Gesellschaft aufgewerteten und gelobten Jungen. Er allein scheint einen Anspruch auf die anale, phallische und genitale Lust zu haben. Wenn einen Penis zu haben, das Recht bedeutet, das eigene Geschlecht genießen zu dürfen, dann bedeutet “kastriert zu sein”, sich jedes Genießen, jede Bewegung und jede Freude verbieten zu lassen, in den regressiven Weg des Nicht-Lebens schmerzlich zurückkehren zu müssen, bis zu den äußersten Grenzen des Todes im Schweigen und in depressivem Verharren.

Mit ihrem knabenhaften Körper verkünden magersüchtige Frauen, daß sie wie Männer einen Anspruch auf Begehren haben. Sie fühlen sich “kastriert” und führen im schlimmsten Fall ein zur Larve zurückgekehrtes Leben mit lautlosen Gedanken. Sie erwarten nichts mehr, auch nicht von den Tagen, die kommen. Sie vergessen, daß sie sterblich sind. Sie schrecken vor echter menschlicher Liebe zurück, weil sie Angst haben, sich in ihr zu verfangen. Geliebt zu werden, zu lieben, eine Frau zu sein bedeutet, jemand wie ihre Mutter zu sein, jemand, der immer “zu kurz” kam, unglücklich war oder sogar verlassen wurde. Sie können in dem, was sie spüren, nicht klar differenzieren zwischen dem, was von der Mutter stammt und dem, was von ihnen selbst kommt. Das Ich findet in der Kontrolle des endlich als eigen empfundenen Körpers eine Hülle wieder, die die Gefühle der Einheit und der Kontinuität des Selbst befestigt.

Wir haben gesehen, daß die Mutter nicht als orale, stimulierende Mutter durch ihre beruhigenden, wiedergutmachenden, anregenden Wörter oder durch die von ihr erzählten Geschichten über die Welt und deren Geheimnisse introjiziert wurde. Für das Kind sind die Wörter der Mutter eine Art kulturelle Milch, die vor dem Abstillen durch die großzügigen, abwechselnd vollen und leeren Brüste in seinen Mund fließt und es vom Leer-Sein ins Voll-Sein übergehen läßt. In Familien vieler magersüchtiger Frauen wird die junge Tochter dafür bestimmt, die Insignifikanz des “Schatzes” der Signifikanten fortbestehen zu lassen, der ihr durch den Anderen (in unserer Gesellschaft hauptsächlich durch die Mutter) als Ort der Sprache, des Symbolischen, überliefert wurde. Auf diese Weise besteht der Schatz der Signifikanten aus Sorgen, Arbeit, Tatsachen ohne wahre Worte, ohne Lust, ohne Begehren. Das Haben beherrscht das Sein; das Tote beherrscht das Lebendige.

Die Magersüchtige hat ihren Eltern nichts zu sagen, Nichts und doch Alles. Sie fühlt sich als eine Heimatlose, ungeliebt und mißverstanden. Wenn sie versuchen würde, mit den Eltern die Gewalt ihrer Gefühle zu teilen, die sie so einsam macht, wüßten diese nicht, wovon sie spricht, wer sie ist (sie, die “brave, liebe Tochter”). Sie wäre ihnen “fremd”. Warum also sollte sie sich ihnen dann erklären? Niemand hört sie, niemand versteht sie, niemand beschützt sie. Sie ist eine Fremde in ihrer eigenen Familie und in ihrer eigenen Muttersprache. Die tote Sprache ihres abgezehrten Körpers verbirgt ein lebendig begrabenes Ding, etwas, das keinen Namen hat. Nun macht aber die Sprache allein aus einem Menschen ein Individuum, das sich denkt, sich ausdrückt und sich daher von den Anderen abgrenzt. Magersüchtige durften zu Hause nie “Nein” sagen. Sie durften nie sagen, was sie wirklich fühlten und dachten, mit anderen Worten: sie wurden zum Verstummen gebracht. Ein allen Familien gemeinsames Merkmal ist, daß Magersüchtige in ihrer Kindheit nicht als Individuum, mit eigenen Bedürfnissen und Rechten gesehen oder anerkannt wurden, sondern daß sie vor allem das Leben der Eltern zufriedenstellen und vollständiger machen mußten. Zu Wort kommen durften sie nie.

 

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