3.6 Nahrung und Körper: das gute und das böse Objekt

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter

Die von Melanie Klein und ihrer Schule entwickelten psychoanalytischen Theorien zeigen, wie das Kind eine normale depressive Phase im Laufe seines Lebens zur Zeit der Loslösung vom mütterlichen Objekt durchmachen muß. Wenn diese Stufe nicht stattfindet, bleibt es auf der vorherigen sogenannten “paranoid-schizoiden” Phase stehen, in der die Mutter im Phantasieleben des Kindes mit zwei Gesichtern erscheint, dem der “guten Mutter” und dem der “bösen Mutter”. Dieser Spaltung des Liebesobjekts entspricht eine Ichspaltung. Der Säugling identifiziert sich mit der bösen Mutter, um die gute Mutter weiterhin lieben zu können. Die schlechten Handlungen der Mutter werden dabei introjiziert. Wenn dieser Mechanismus nicht überwunden wird, wird das Individuum ein Leben lang Vorwürfe an sich selbst oder an seinen Körper oder an einen bestimmten Teil seines Körpers (die Nase bei Violette Leduc) richten, die im Unbewußten dem ersten Liebesobjekt zugedacht werden. Der Körper der Magersüchtigen wird auf diese Weise allmählich zu ihrem Feind, zu einem “Fremdkörper” in der idealen Kugel des Ichs. Er wirkt drohend wie ein vor Wut glühender Vulkan, wie ein riesiges Maul, das alles verschlingt und austreibt. Daher muß der als ungehorsam, übelwollend erlebte Körper streng kontrolliert werden. Die Magersüchtige rächt sich an ihm, Schlag auf Schlag.

“Sofortige Befriedigung läßt keine Erinnerung zurück. Die gute Mutter wird nicht als solche erlebt, wenn sie alle Forderungen des Kindes sofort erfüllt”, schreibt Perls, “sondern nur dann, wenn sie dies nach einer Verzögerung, einem Aufschub, tut.” Zu wirklicher Befriedigung ist eine gewisse Spannung notwendig. Bulimische Frauen behandeln feste Nahrung, als ob sie flüssig wäre, und diese wird daher in großen Schlucken einverleibt. Sie haben kein Interesse an der Zerstörung fester Nahrung entwickelt. Sie haben weder die Fähigkeit entwikelt zu kauen, noch die, etwas durchzuarbeiten oder Aufschub zu ertragen und schaffen sich die notwendige Spannung auf künstliche Weise durch das Objekt-Nahrung, manchmal auch durch Alkohol oder Drogen oder Diebstahl.

“Ich vertraute mich in dem Moment, da ich stahl, dem Schlimmsten und dem Besten an, dem Pech und dem Gelingen, dem Tode und dem Leben, der Hölle und dem Paradies”, schrieb Violette Leduc. “Meine Aktentasche bläht sich von Unnützem.” Wenn die mütterliche Fürsorge hauptsächlich in der Pflege des Körpers und im Mästen des Kindes besteht, wenn dieses schreit, wird ihm jeder imaginäre Raum geraubt. Schon in ihrer Kindheit konnte Violette Leduc nichts schluken. Die Mahlzeiten waren für sie eine Qual. Mit eisiger Miene schaute sie ihre Mutter an, die sie anschrie. Sie war zugleich fasziniert und erschrocken. Ein Machtverhältnis sadomasochistischer Art begann zwischen Mutter und Tochter vor dem Teller. Serge Leclaire erinnert hier, daß die Anorektikerin auf dem Gebiet des Bedürfnisses nach Nahrung von der aufmerksamen Mutter so gut gemästet wird, daß ihr Verlangen nach Liebe verkannt bleibt. Deshalb findet sie keinen anderen Weg, ihre Bitte um Liebe zu wiederholen, als die Nahrung zu verweigern, durch die ihr Bedürfnis so gut ausgefüllt und ihr Verlangen so perfekt erstickt wurde. Auch Valérie Valère bekam in diesem Sinne nicht die Liebe, nach der sie sich sehnte, und sie sagte später von ihrer Mutter:

“Sie gibt mir Geld, um sich ein untadeliges Gewissen zu verschaffen, nur dafür ist sie da. Keine Gespräche, keine Blicke. Das ist eine Welt, die nichts hört. Nichts.”

Valérie ähnelte dem “Hungerkünstler” von Franz Kafka, der keine Speise finden konnte, die ihm schmeckte: “Hätte ich sie gefunden”, sagte er seinem Aufseher, “glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.”

Die mästenden Mütter, so wie Winnicott sie beschreibt, tragen zu der Organisation des “falschen Selbst” bei, indem sie die Erregung des Säuglings mit der Brust oder mit der Flasche zu beruhigen versuchen. Sie lassen die Autonomisierung des erregten Kindes nicht zu, die dieses nur durch die Wut und das Durchstehen der depressiven Phase erreichen würde. Diese depressive Phase gründet in der Ebene der Loslösung vom Objekt, so daß dieses als getrenntes Objekt, als “Anderer” erkannt wird – auch wenn es aus partiellen oder gespaltenen Ausdrücken, aus “gutem” und “bösem” Objekt besteht. Sie ist daher notwendig für die Individuation des Kindes. In dieser Zeit drängt auch der Konflikt oder die Angst in die menschliche Psyche: folglich organisiert sich der psychische Apparat, um die der Trennung vom Objekt oder vom Prä-Objekt innewohnende Depression zu ertragen, indem er sich auf das unbewußte, konfuse, aber existierende Erlebte seiner Kontinuität stützt. So gewährt auch die ontologische Sicherheit, die von der Liebe des Anderen ausgeht, dem Kind aus der Tiefe seiner eigenen Forderungen heraus die Macht, die Abwesenheit dieses Anderen zu symbolisieren. Aber, und das ist ein ganz wesentlicher Aspekt, “diese von der Liebe gespendete Sicherheit wirkt nur dann, wenn sie aus der Unsicherheit, in der versagten Erfüllung der Forderung entsteht, der sich die Begierde anschließt.” Anstelle der Winnicott’schen Mutter, die ‘gut genug’ ist, setzt M. C. Boons diejenige, die ‘schlecht genug’ ist, die nicht erfüllt, die “ihr Kind nicht in einer Liebe – in einem Genießen – einsperrt, der keinerlei Sehnsucht entspringen kann.”

An dieser Stelle muß noch einmal betont werden, daß es sich bei der Mutter um die archaische, phantasierte Mutter handelt, die zugleich als “gut” und “böse” erscheint, weil sie die Brust gibt und verweigert. Infolgedessen wird sie als Spenderin jedes Wohlbefindens und jedes Unwohlseins erlebt, als Herrin über Leben und Tod, als orale und anale, allmächtige Mutter. Wenn die Mutter überängstlich ist, kein Vertrauen zu sich selbst hat, besteht daher die Gefahr, daß sie auf das Signal des Kindes nicht wartet und es vorsichtshalber füttert, obwohl es gar keinen Hunger hat. Wenn der Säugling die zu oft gegebene Brust oder Flasche nicht erträgt, weigert er sich zu essen oder erbricht die Nahrung, die ihm aufgezwungen wurde. Manchmal erträgt der Säugling aber auch die Überernährung und macht sich zur Gewohnheit, immer satt zu sein. Er lernt dann nicht zu warten und Warten zu ertragen. Er wird daher von der allgegenwärtigen, ernährenden Mutter zu sehr abhängig und entwickelt ihr gegenüber zugleich eine stumme Aggressivität. Die Mutter wird einseitig als “böses Objekt” erlebt, der Säugling nimmt ihr die geringste Verspätung, den kleinsten Entzug übel. Später wird dieses Kind Schwierigkeiten haben, sich den Unannehmlichkeiten des Lebens auszusetzen. Angst wird bei ihm das Bedürfnis erwecken, auf die Nahrung zurückzugreifen, um die ehemalige Sicherheit bei der Mutter wiederzufinden. Er wird sich dann von deren Bemächtigung nur um den Preis eines gewaltigen herzzerreißenden Scheidens loslösen können, wenn überhaupt …

Die Einstellung der Pädagogik gegenüber dem Schreien der Säuglinge hat sich erst seit zwei bis drei Jahrzehnten verändert. Die Mütter, von denen wir sprechen, ließen meist ihr Baby schreien, wenn es nicht gerade – nach einem bestimmten Zeitplan – gefüttert werden mußte. Das Baby wurde nicht auf den Arm genommen, sondern weinend liegen gelassen. Daran erinnert sich Marie-Victoire mit Schmerzen:

“Der Schmerz läßt mich in die Ängste der Kindheit stürzen, und ich erlebe im Tiefsten meines Fleisches die Schreie und die Wutanfälle wieder, in denen ich mich verschloß, in der Hoffnung, daß Sie mich umarmen würden.”

Wer keine Liebe schenken kann und stattdessen nur Nahrung gibt, stürzt das Kind in die Anorexie oder in die Sucht. Wichtiger als die Nahrung sind dabei die Zeichen der Liebe, die sie begleiten mögen: “die Liebkosungen einer Stimme, eines Blickes, die zärtliche Berührung wärmender und liebevoller Hände.” Erhält ein Individuum in der Frühkindheit nicht genügend Bestätigung in Form von Wärme, Lob und Anerkennung, so bleibt es ungestillt im Bereich des Selbst. Es bleibt “liebeshungrig”, schreibt Raymond Battegay. Aber auch Kinder, die übermäßig umhegt worden sind, leiden in ihrem späteren Leben unter diesem “emotionalen” Hunger, weil ihnen niemand die frühkindliche Verwöhnung zu ersetzen vermag. Dieses Hungrig-Sein nach Liebe und Anerkennung bedeutet dann, “daß der betreffende Mensch zeitlebens eine Leere in seinem Selbst und in seinem Selbstgefühl schmerzend erlebt und alles daransetzt, diese schmerzlich empfundene Befindlichkeit zu beheben.” Ausgehend vom Anderen, phantasiert das Kind seine eigene körperliche Vollständigkeit. Wenn das Bild, das ihm von dem Anderen angeboten wird, negativ besetzt wird, kann das Kind sich selbst nicht akzeptieren und lieben: “Ich existiere nicht, ich bin nichts”, behauptete Violette Leduc. “Ich war ein gähnendes Loch.” “Du wirst zu nichts kommen”, sagte Berthe ständig zu ihr. “Du wirst nie wie eine andere sein.”

Durch die negativen Zuschreibungen ihrer Mutter wurde Violettes Leben zu einem unermeßlichen Mißerfolg: “Ich blieb ein Kind, um das man sich kümmern mußte. Eine Idiotin auf dem toten Punkt” , dachte Violette von sich selbst. Das gleiche Selbstwert-Defizit finden wir bei vielen anderen magersüchtigen Frauen wieder, die keine Bewunderung durch die Mutter erlebten. “Ich erhoffe mir schon nichts mehr, ich plane nichts, ich habe keinen Willen. Nichts!”, schrieb Valérie Valère.

Nach Brusset gibt es nicht wenige gefährliche Verhaltensweisen seitens der Mutter, die dem Kind schaden können. Die Mutter kann zum Beispiel das Kind vollstopfen, um sich selbst gegenüber ihrer eigenen Phantasie von Verfall und Tod des Kindes zu beruhigen; sie kann es auch überreizen, ohne es zu befriedigen, oder es in einer rigiden Positur auf Distanz halten, aus Angst vor seiner Begierde. Andere Mütter projizieren auf die Begierde des Kindes die eigenen Triebe, die sie als zügellos, unmoralisch und bedrohlich empfinden, vor allem, wenn das Kind ein Mädchen ist. Wieder andere sind überfürsorglich, richtige Glucken (dieser Typus ist in Ländern wie Italien noch stark vertreten), die die Kinder reichlich füttern, um indirekt das kleine “ausgehungerte” Mädchen in sich zu ernähren.

Auch die Mutter ist ein kleines Mädchen gewesen. Das dürfen wir nicht vergessen: “Fideline ist mit zwanzig Jahren Witwe”, schrieb Violette Leduc. “Meine Mutter wird nach dem Tod ihres Vaters geboren; sie hat ihn nicht gekannt.” Berthe wird bei einer Tante untergebracht. “Der Onkel ist Schweineschlächter. Da ist sie entsetzt, erschreckt, von einem Ungeheuer kommandiert, das im Blut der Würste wühlt. Das ist ein Ehemann, das ist der erste Mann, auf den sie trifft.”

Violettes Verständnis ist ein Trost für alle Mütter magersüchtiger Frauen, es macht die Bürde der Schuld, die den Müttern meist auferlegt wird, weniger erdrükend. Trotzdem mußte Violette sich in sich selbst der Brust des Schreckens, dem quälenden Schatten der verlorenen Mutter, der “bösen” und verinnerlichten verführenden Mutter stellen, die ihr Begehren erzeugt hatte, ohne es jemals befriedigt zu haben. Violettes Mutter behandelte das Kind, wie sie selbst von ihrer Mutter behandelt worden war. Es wurde in ein Pensionat geschickt.

Winnicott hat gezeigt, wie das Kleinkind Objektbeziehungen eingeht, indem es sie primär zerstören, in seine Eigenwelt einverleiben möchte, und erst im Erleben der Unzerstörbarkeit des Objektes zu einer reiferen Bezugnahme zu Mitmenschen, in dieser Zeit der Mutter, fähig ist. Bei der magersüchtigen Frau hat die Introjektion, die die Differenziertheit mit der Mutter erlaubt, nicht stattgefunden. Die Ebene der Identifizierung ist, “wie die allmächtige Mutter zu sein”, ohne das mütterliche Objekt einverleiben zu können. Die Nahrung stellt die Abhängigkeit von der mütterlichen Imago und den Kampf innerhalb eines prä-objektbezogenen Erlebten dar; sie bezeugt die Schwierigkeit, die Objektbeziehung einzugehen. Die Nahrung oder die Oralität selbst wird nicht libidinös besetzt, sei es innerhalb der kannibalischen Lust, sei es innerhalb der Lust, die Nahrung aufzunehmen. Dies weist auf die Schwierigkeit bei der Einverleibung und daher sekundär auf die Schwierigkeit hin, auf Grund einer Undifferenziertheit zu introjizieren, die keinen Unterschied zuläßt zwischen dem, was von “außen” oder von “innen” kommt. Objekt und Subjekt sind bei Magersüchtigen nicht scharf getrennt. “Nichts” zu essen oder “zu viel” zu essen werden schließlich die Zeichen für die Suche nach Grenzen:

“Ich werde zum Vampir auf Distanz”, denkt Violette Leducs Affamée (…) Ich verzehre ihr Gesicht. Ich bin ein Kannibale.”

Violette neigte dazu, das Liebesobjekt süchtig “aufzufressen”. Fenichel spricht in diesem Zusammenhang von “love addicts”, Liebessüchtigen. Nach Raymond Battegay bedeutet die süchtige Inkorporation, “daß diese Menschen sich das Objekt, das sich ihnen zu entziehen droht, einverleiben möchten”. Violettes Leidenschaft für Simone de Beauvoir stellte sich wegen der Abwesenheit oder der manifesten Gleichgültigkeit ihrer Madame als eine Niederlage heraus. Der unersättliche Versuch, das Glück in einer Vereinigung mit der unerreichbaren Simone de Beauvoir, in ihrer Anwesenheit oder in Fürsorge wiederzufinden, zeichnet hier die unmögliche Introjektion des ursprünglichen Objekts. Die als “Hunger” beschriebenen Einverleibungsversuche sind in Wirklichkeit die körperliche Version eines Introjektionsversuchs von dem, was im Ich fehlt. Magersüchtige sind deshalb immer auf der Suche nach einem Idealobjekt, das sie in der frühesten Zeit ihres Lebens nicht erhalten haben. Da sich kein Objekt auf die Dauer als so ideal erweisen kann, wie sie es erwarten, ergibt sich schon aus diesem Umstand, daß primär gute Objekte zu bösen werden können, wie das im frühkindlichen Erleben auch normalerweise der Fall sein kann, bzw. daß eine Spaltung in gute und böse Objekte erfolgt. Bulimikerinnen versuchen hingegen durch Aufnahme übermäßiger Nahrung zum guten Objekt zu kommen, doch kaum daß sie es verschluckt haben, wird es zum bösen, weil sie von der Nahrung am Ende doch nicht vollkommen gesättigt werden können.

Die von der Abwesenheit des Idealobjekts (etwa Simone de Beauvoir in den Augen von Violette Leduc) veranlaßten depressiven Affekte, die zu Machtlosigkeit und Mangelhaftigkeit führen, geben im Rahmen eines Mangels an “Haben” einen Seinsmangel zu erkennen. Violette erzählte:

“Sie fragte mich, was mich interessierte, was ich lese. Ich antwortete ihr: nichts (…) Mein Tag mit ihr war ein gefolterter Bauch gewesen!”

Violette “hungerte nach Anwesenheit”. Um ihren beschädigten Narzißmus zu sichern, schwankte sie zwischen der Position des grandiosen Selbst einerseits und Wehklagen und schmerzvollem Appell an das idealisierte Liebesobjekt andererseits. Simone de Beauvoir war für sie ein Substitut der archaischen Mutter, der Mutter-Droge, die nicht auf dauerhafte Weise in die innere Welt des Kindes introjiziert werden konnte. So war Violette gezwungen, die angebetete Madame die Rolle des fehlenden oder entstellten inneren Objekts spielen zu lassen.

“Wenn ich dünn wäre, wäre alles anders”, denkt die magersüchtige Frau. Das Schwanken zwischen Depression und Grandiosität gehört ebenfalls dazu. Tania Blixens Tagebuch zeugt von fast täglich wechselnden Gemütszuständen, welche eine Grundbedingung ihres Lebens waren, bis zu ihrem Tode. “Ich kann alles” ist aber genauso unrealistisch wie “ich kann und ich bin nichts”. Hier zeigt sich das “Alles oder Nichts” des Lustprinzips. “Der Narzißmus kennt keine Grenzen”, schreibt Maryse Holder. “Fraß mich zum Hotel durch (…) eine kulinarische Tour durch alle Stadien meiner Depression. Meine Schulden drücken mich immer mehr. Madame Bovary (…) Je mehr ich esse, desto hungriger werde ich.” Geld und Essen wurden schließlich zu ihren einzigen Themen, “Geld und Sex”.

Maryses Klage, ihr unersättlicher Durst und ihr Hunger, sind hier der regressive Ausdruck eines anderen Verlangens, einer anderen zu formulierenden Anklage: die Mutter unterließ es, ihre Tochter mit einem echten Geschlechtsorgan zu beschenken. Maryses Bulimie deutet auf die Simultaneität, die Parallelität und den sich ankündigenden Wechsel vom Lutschen zur Masturbation der Klitoris bei dem kleinen Mädchen.

Nach Palazzoli unterscheiden sich dennoch Appetit und Erotik sehr gründlich von Hunger und Lust, die das blinde Verlangen nach Befriedigung mit allen verfügbaren Mitteln widerspiegeln, im Fall von Maryse durch gesichtslose Partner von unbegrenzter Zahl. In der Tat gibt es zwischen Appetit und Eros eine enge soziale Affinität: Beide verlangen ein verfeinertes Gefühl für Unterscheidungen. Appetit bedeutet nicht, daß man wahllos ißt, was einem vorgesetzt wird, sondern daß man entsprechend zubereitete und servierte Speisen und Getränke genießt, wenn möglich in Gesellschaft von Verwandten, Freunden und gern gesehenen Gästen. In derselben Weise sucht die wahre Liebhaberin ihr Vergnügen nicht unterschiedslos; sie hat ihre persönlichen Maßstäbe hinsichtlich dessen, was sie bei ihrem Partner ersehnt, sie lehnt es ab, sich mit Surrogaten abspeisen zu lassen. Maryse aß hingegen wie ein Tier – hastig und schnell, doch letztlich ohne Genuß: “Alles, was ich tat, war essen, mich erbrechen und neue Versuche zu starten, mich wieder von Indios antörnen zu lassen.”

Es ist klar, daß dieses Verhalten etwas Rachsüchtiges an sich hatte, das sehr stark von oralen Aggressionen geprägt war. Ihre Eßstörung drückte ihren Haß auf diejenigen aus, die sie mißbrauchten, “auf Mexikos Homosexualität”, auf ihr verzweifeltes Gefühl der Einsamkeit, aber auch – das sagte sie selbst – auf “ihre Unfähigkeit, die Vergangenheit in den Griff zu kriegen”. Maryse wollte bedingungslos geliebt werden; sie wollte, daß die Männer für sie verfügbar sind, und dieses Beziehungsmuster gleicht der frühen Mutter-Kind-Beziehung, der Symbiose.

Maryse suchte bei den mexikanischen Männern die ambivalente, homosexuelle Abhängigkeit, die ein kleines Mädchen bei der Mutter erlebt. Sie fühlte sich von der femininen Art der Mexikaner angezogen, fand ihr Lachen herrlich, “beinahe tuntig”.

“Miguel hatte recht”, schrieb Maryse. “Meine Zuneigung für Frauen rivalisiert manchmal mit meiner Neigung für Männer.” “Ich glaube, wenn ich zurückkomme, werde ich endlich mal mit einer Frau schlafen, das einzige, was ich noch nicht ausprobiert habe.”

Es ist aber sehr unwahrscheinlich, meint Sheila MacLeod hierzu, daß “der eigene Körper – der weibliche Körper, der auf dem Höhepunkt der Krankheit ein verabscheuter und sogar widerwärtiger Gegenstand gewesen ist – im späteren Leben zu einem Gegenstand erotischen Begehrens oder erotischer Befriedigung wird.” Diese These widerspricht den Beobachtungen von Lili Gast, die von drei ihrer Interviewpartnerinnen berichtet, die in der Anfangs- und Hochphase ihrer Magersucht praktisch keine freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Frauen unterhielten und anschließend doch gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen auslebten. Als Kate Millett die Briefe von Maryse las, fand sie es ebenfalls schade, daß ihre Vertraute Edith Jones “nicht auch die Geliebte sein konnte; die Liebhaber, die sie beschreibt, sind so unwürdige Vertraute. So gefühllos. Sie verhalten sich eher wie Feinde.”

Dafür hätte Maryse fähig sein müssen, die bisexuelle Struktur ihrer Persönlichkeit zu akzeptieren, die aus der Einverleibung von Vater und Mutter entsteht. Stattdessen erwartete sie vom Mann die Erlösung bzw. die Anerkennung ihrer sexuellen weiblichen Identität. Die mexikanischen Männer wurden zu einer Art “Droge”. Sie suchte in ihnen die “gute Mutter”, bei der sie hätte wiedergutmachen können, was ihr die eigene Mutter verwehrt hatte, als sie starb. Das, was sie in Mexiko suchte und von dem sie annahm, daß sie es von ihrer Mutter gebraucht hätte, nennt der Ehetherapeut Jürg Willi “symbiotische Verschmelzung”. Dies suchte sie auch in ihrer Beziehung zum Meer:

“Wieder im Meer zu sein war so, als ob ich wieder mit meiner Mutter, meinem eigentlichen Element vereint wäre. Wasser, überall nur Wasser (…) Konnte mich davon nicht trennen.”

Eine Symbiose ist eine Lebensform von zwei Einzelwesen, die sich gegenseitig etwas bieten, was der jeweils andere nicht hat, schreibt Willi. Danach sehnte sich Maryse leidenschaftlich:

“Ich sehne mich nach dem jungen Fischer, weil er all das hat, was ich schon immer am tollsten fand: Schönheit und Unschuld.”

Das “Idealobjekt” zeichnet sich bei Maryse durch die Phantasie aus, daß zwischen seinen zusammengesetzten Teilen eine physische und geistige Adhäsion existiere, die jeder Prüfung widersteht. Die integrale, organische und psychische bisexuelle Einheit, wonach Maryse sich sehnte, stellt das Versprechen der Treue an die verstorbene Mutter dar. Auf diese Weise besteht die Bindung fort.

Im Gegensatz zu den mexikanischen Jugendlichen hatte Maryse massive Knochen, gigantische Hände und Füße. Sie hatte früher über Eliots Stein- und Knochenmetaphern geschrieben und beide gleichgesetzt. “Sie war selbst wie aus Stein, schwer, hart, aber gleichzeitig auch weich, feucht. Sie lag völlig leblos in der Sonne, wenn sie sich bräunte – ließ sich austrocknen”, erinnert sich ihre Freundin Selma. Nun beinhaltet der Zustand des Einklangs Wärme, Geborgenheit, angenommen werden, erfüllt sein. Maryse hielt sich, wie die Napoletaner aus dem 18. Jahrhundert, für eine “Tochter des Meeres”:

“Mutter Mar sprach mir Trost zu, nahm mich auf, badete mich, machte mich frei, sauber, stark, schlank, und geschmeidig.” Sie fühlte sich dann wie neu geboren. Der Gegenpol zu diesem Wohlbefinden ist aber die panische Trennungsangst. Die Hypothese von Renate Göckel, daß Eßsüchtige eine mißlungene Symbiose durchgemacht haben und ihr Leben lang nach einer gelungenen Symbiose suchen, bestätigt Maryses Geschichte.

Berühren, Kontakt und Essen sind ein Austausch, der über die Haut und über den Mund stattfindet. Wenn diese beiden Bereiche gestört sind, wurde vermutlich in der Phase, in der diese beiden Sinnesmodalitäten im Vordergrund standen, die Entwicklung in irgendeiner Form gestört. Dies drückt sich eindeutig in der Sexualität von Maryse aus:

“Verlangen – Vergnügen – im Mund und auf der Zunge, während er sich weiter unten erfüllt. Das ist vollendeter Sex.”

“Eine Art existentieller Heißhunger auf jeden Happen Leben” , wie es Kate Millett formuliert, auf jede kleinste sinnliche Wahrnehmung. Sex, endloses Verlangen. Sex und Tanzen, für Maryse eine tranceartige Ekstase:

Tanz ist Mediation, Masturbation, man vögelt sich selbst dabei, schrieb sie. Lieben bedeutete im Gegensatz dazu “verlieren”. “Es ist ein Spiel, wie Krieg,” behauptete sie und nahm die Corrida als Beispiel für die Beziehung der Männer zu den Frauen: “Immer diese seltsame Mischung aus Freundlichkeit und Sadismus, die mexikanische Verführungstechnik” , der sie verfiel. “Ein Spiel mit uralten Regeln (…) Reizen, töten, Applaus empfangen. Ihre Schönheit ist in Wirklichkeit nur für sie selbst, nicht für Frauen.” Ihre eigentliche Überzeugung war, daß man sie bestrafte, weil sie “frei und unabhängig war” und ihre “polymorphe Sexualität auslebte”.

Auf Sexualität lastete in Mexiko ein extrem strenges Tabu, was zur Folge hatte, daß auch die entsprechenden ödipalen Phantasien von Maryse wie in ihrer Kindheit unterdrückt werden mußten und sich keine lustvolle Autonomie im Verhältnis zum eigenen Körper entwikeln konnte. Stattdessen wurde die Differenz der Geschlechter verneint zugunsten einer androgynen Welt, in der der Andere annulliert wurde. In ihren tollsten Augenbliken genoß sie es, daß sie und ihre Liebhaber “identisch waren” , daß sie sich in ihnen spiegeln konnte. Maryse wollte die Männer besitzen. Sie wollte sich nicht durch sie und ihre geschlechtliche und kulturelle Differenz bereichern oder eine Veränderung erleben. Sie ging mit ihnen in ihrer Vorstellung eine Fusion ein, bei der sie als Objekte zu existieren aufhörten. Aus dieser Perspektive erscheint Maryses “polymorph-perverse” Verhaltensweise als die Persistenz oder das Wiederauftreten eines partiellen Elements der Sexualität, als eine Regression auf eine frühere Fixierung der Libido, als das Kind sich von der Mutter noch nicht differenzieren konnte. Dadurch, daß sie nie das früh Versäumte erlangen konnte, blieb Maryse fixiert auf ihre bedingungslosen Fusionswünsche. Wie viele andere eßgestörte Frauen hatte sie ein Schwarz-Weiß-Weltbild, das kaum Grautöne kannte. Auf die Gefühlsäußerung: “Mein Gott, wie sehr ich dieses Land liebte” , folgte in dem nächsten Brief genau das Gegenteil: “Hasse dieses beschissene Land.” René Spitz spricht davon, daß erst dann, wenn dasselbe Objekt als gut und böse, schwarz und weiß mit allen dazwischen liegenden Grautönen wahrgenommen wird, eine echte Objektbeziehung möglich ist. Eine unechte Objektbeziehung ist eine rein narzißtische, d.h., das Objekt (Mutter, Partner, Freunde) wird nur daraufhin bewertet, wie gut es bestimmte Bedürfnisse erfüllt. Erst bei einer echten Beziehung kann das Objekt als solches geliebt und respektiert werden. Maryse hingegen erwartete, daß die Liebe ihre “besudelte Existenz” wieder reinwäscht. Die Liebe war für sie Flucht, Ausweg und Rettungsring, und sie versagte gerade deshalb als rettende Kraft.

Ihre ambivalente Position erklärt die Unbeständigkeit ihrer Identifizierungen. Die mexikanischen Männer werden zugleich als Objekt des Begehrens und als Objekt der Identifizierung besetzt. Diese Identifizierung bleibt aber ambivalent, da ihr Entwurf (“Angleichung eines Ichs an ein fremdes”) immer ein Einverleibungsakt bleibt (Liebe, Zerstörung). Hat sie die Objekte (Nahrung-Männer) geschluckt, so muß sie diesen Prozeß stets von neuem wiederholen, weil ein Objekt, das verschluckt, “inkorporiert” wird, für sie aufhört, Objekt zu sein. Damit blieb sie ungesättigt und unersättlich. Es konnte auch keine Liebe entstehen, die den Teufelskreis von Verfolgen und Verfolgtwerden hätte durchbrechen können oder ein freies Leben zwischen freien, offenen Menschen ermöglicht hätte.

Maryses Briefe bezeugen eine beharrende und vergebliche Suche nach Liebe. Ihre Heimsuchung besteht darin, keine Antwort auf ihren Appell zu bekommen. Ihr gelingt es nicht zu kommunizieren. Ihre Briefe legen nur Zeugnis von der Abwesenheit des Objekts (einer Frau) ab. Das Schreiben wird zu einer langen Wehklage, zu einem Verlassenheitsschrei. Maryse erforschte ihre verwüstete Welt bis an die Grenzen des Möglichen. Ihre Geschichte drückt das Leiden des Mangels, des “zu kurz Kommens”, der Abwesenheit vom Liebesobjekt als ein quälendes ungestilltes Bedürfnis des Körpers aus. Ihr Appell richtet sich zwar an den Anderen; dieser Andere ist aber unerreichbar. Die Einsamkeit ist älter als die Unerreichbarkeit der Objekte, denen sie in ihrem erwachsenen Leben begegnete. Sie ist die Wiederholung des kindlichen Dramas, ihrer Verlassenheit durch die von den Nazis ermorderte Mutter. Maryses Briefe tragen die Spuren einer Tragödie, nämlich ihrer Unfähigkeit, das Begehren und den Mangel zu leben. Das Schreiben vermag nicht, eine Sublimierungsarbeit zu leisten, sondern es spiegelt wie die durch den Alkohol und den Tanz erlangte Lust den Wunsch, die narzißtische Leere zu überwinden. Maryse versuchte zu zeigen, daß “auch das Schreiben ein Orgasmus ist und daß ‘das’ die Botschaft seines Mundes ist. Daß sich Orgasmus nicht nur auf die Genitalien beschränkt.” Die Quelle ihrer Suche und ihres Forschens über das Verlangen blieb die orale Zone, und das Ziel die Einverleibung bzw. die Introjektion der Mutter. Der Narzißmus endete in der schriftlichen Onanie.

Diese auszufüllende körperliche Leere entspricht in Wirklichkeit einem “Loch” im psychischen Apparat; die ursprüngliche Angst, die den Alkoholiker zum Trinken, die Bulimikerin zum “Fressen”, die Anorektikerin zum Hungern treibt, ist nicht darstellbar. Sie ist nicht mit Bildern oder Wörtern verbunden; sie ist gedanklich nicht faßbar: es handelt sich um eine Angst im “Rohzustand”, eingegraben im Fleisch. Hier wird Hilfe gesucht in der Materialität, wird auf der Sicherheit beharrt, die der Körper gegenüber den unantastbaren Bedeutungsverschiebungen der Sprache und der Unwirklichkeit der ausgedrückten Gefühle bietet. Wörter rufen Angst hervor. Daher schützt Schweigen gegen das Umherirren.

 

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