3.4 Ein überflüssiger Körper

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter

Durch die Nahrung wird das geliebte Objekt einverleibt. “Ein Löffel für Mama, ein Löffel für Papa.” Nach La-planche und Pontalis läßt die Einverleibung drei Bedeutungen erkennen: “sich Lust verschaffen, indem man ein Objekt in sich eindringen läßt; dieses Objekt zerstören; sich die Qualitäten dieses Objekts aneignen, indem man es sich aufbewahrt.” Indem die Magersüchtige die Nahrung verweigert, weigert sie sich also, das Liebesobjekt zu zerstören. Die Voraussetzung der Assimilation – die Zubereitung der Speisen – zerstört; sie zerstört schon dadurch, daß sie den Naturzustand vieler Lebensmittel verwandelt (alles wird klein geschnitten, gekocht). Das Kauen und die Verdauung beenden den Zerstörungsprozeß. Wenn die Möglichkeit besteht, essen wir nur, was wir mögen und zerstören es. Nahrung zu konsumieren, bedeutet in diesem Sinne zerstören. Das Liebesobjekt wird also vor der Zerstörung geschützt durch die Verschiebung auf die Nahrung, die es repräsentiert. Die Magersüchtige weigert sich, einzuverleiben, was ihr mit zu viel “Liebe” aufgezwungen worden ist. Diese Art von Liebe, die sich hauptsächlich über das gute Funktionieren des Körpers Gedanken macht, anstatt auf ihr Verlangen-zu-sein zu antworten, lehnt sie ab. Darum beharrt sie auf der Zerstörung ihres Körpers, Objekt privilegierter Verpflegungen auf Kosten ihres Seins. War sie als Kind müde und schrie, bekam sie die Brust oder die Flasche. Wollte sie trocken gelegt werden und schrie, bekam sie ebenfalls die Brust oder die Flasche. Sie lernte somit, daß sie auf bestimmte Bedürfnisse nicht die richtige Antwort bekam, und lernte nicht, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, alles gemäß dem Prinzip: “Wenn ich ein Bedürfnis habe, bekomme ich die falsche Antwort, also darf ich keins haben”. Gerade dies warf Marie-Victoire Rouiller ihrer Tante vor:

“Mit zehn Jahren war ich so mager, daß Sie meinem Vater empfahlen, mich aufs Land zu schicken. Da habe ich mir den Bauch vollgestopft! Bei meiner Rückkehr fanden Sie, ich sähe gut aus. Darauf hätte ich am liebsten alles übergeben, was ich hinuntergeschluckt hatte. Im Grunde waren Sie nicht dafür geschaffen, die ernährende Mutter zu spielen.”

“Am wichtigsten war grundsätzlich, daß ich alles aufaß, was auf meinem Teller war. Ich wurde aber nie zu meiner seelischen Verfassung gefragt”, ist eine der geläufigsten Klagen magersüchtiger Frauen, die von ihren Eltern körperliche Verpflegung bekamen, obwohl sie nach geistiger Nahrung verlangten. Dieser Konflikt wird oft beobachtet: die Mutter lebt in einer materiellen Welt, die Gesundheit, Pflichten und den sozialen (oder schulischen) Erfolg privilegiert. Meist wird am Eßtisch kaum geredet. Jedes Familienmitglied hat seinen festen Platz, der Vater führt den Vorsitz. Viele magersüchtige Frauen leiden unter dem Mangel an Dialogen mit den Eltern, unter der Starrheit ihrer Welt und ihres vollprogrammierten Tagesablaufs. Seit ihrer Geburt hatten sie das Gefühl, die Zeit werde vermessen, können sich aber dennoch nicht davon lösen. Wie Violette Leduc:

“Wem soll man vertrauen, wenn die Zeit ein kleiner Hund ist, der im Kreis herumläuft, wenn die Zeiger auf den Zifferblättern tote Insekten sind … Das Rädchen quälte zu guter Letzt die Zeit. Sie teilte sechs Kartoffeln durch acht Tage. Sie konnte 0,75 dieser stärkehaltigen Knolle jeden Tag essen.”

Die magersüchtige Frau aber verlangt etwas anderes. Was sie sich in Wirklichkeit wünscht, sind Wörter: die Wörter, die aus ihr einen Menschen machen, sie in eine Geschichte einfügen und sie mit den Menschen in ein anderes Abhängigkeitsverhältnis als das von der Nahrung einbinden; Wörter, die sie als begehrendes Wesen und nicht als Wesen von Bedürfnissen aufnehmen. Viele haben das gleiche erlebt wie Marie-Victoire. Sie haben nur das Schweigen gehört, “ein aus gewöhnlichen Worten bestehendes Schweigen, ein aus anständiger und fleischloser Zuneigung bestehendes Schweigen ohne Wärme.” “Sie sprachen selten mit mir”, sagte Marie-Victoire zu ihrer Tante. “Sie brachten mich oft zum Schweigen, ohne mich sicherlich zu unterbrechen, nur indem Sie mich zwangen, zu verheimlichen, was ich von Ihnen erwartete.”

Magersüchtige Frauen durften nicht auf ihren eigenen Rhythmus hören, immer dem Rhythmus ihrer Mutter (oder deren Substitut) auflauernd mit dem Verlangen, mit ihr zu fusionieren, um leben zu können:

“Du hast einen Strom von Tränen zur Welt gebracht, meine Mutter”, schrieb Violette Leduc. “Ich habe den Schleier genommen, meine Mutter. Ja, später knallte ich oft die Türen, ich ertrug euch nicht. Meine Wunde öffnete sich wieder. Meine Wunde: Du von mir gerissen. Eifersüchtig? Nein. Sehnsüchtig bis zum Schwindeligwerden. Verschmäht trotz deiner Güte, meine Mutter. O ja, verbannt aus unserem Federbett…”

“Identische Trugbilder der Anwesenheit und der Abwesenheit”, sagte zudem ihre “Affamée”. “Die Abwesenheit ist eine Folter: die angstwürgende Erwartung einer Anwesenheit; die Anwesenheit ist ein Intermezzo zwischen zwei Abwesenheiten: ein Martyrium”, fügt Simone de Beauvoir hinzu . “Berthe, meine Mutter, ich war dein Gatte vor deiner Heirat”, klagte Violette. Später wurde es ihr daher unmöglich, die richtige Distanz mit den geliebten Personen herzustellen: sie lebte ständig zwischen der Angst und dem Verlangen, mit ihnen zu fusionieren. In einem sicheren und stabilen Verhältnis kann die Mutter sich entfernen, verschwinden, zurückkommen: der Säugling nimmt wahr, daß er nicht verlassen und von sich selbst nicht “losgerissen” wird. Er kann ohne die physische Anwesenheit seiner Bezugsperson weiterleben. Er macht den Unterschied zwischen der Brust seiner Mutter und sich selbst. Er nimmt schließlich seine Körpergrenzen wahr. “In der Psychoanalyse ist die Körpergrenze das Vorbild jeder Trennung zwischen einem Innen und einem Außen; der Vorgang der Einverleibung bezieht sich ausdrücklich auf diese Körperhülle. Der Ausdruck ‘Introjektion’ ist in einem weiteren Sinne zu verstehen. Es handelt sich hier nicht mehr nur um das Innere des Körpers, sondern um das Innere des psychischen Apparates, einer Instanz”, erklären Laplanche und Pontalis. Nach Perls Definition bedeutet zudem Introjektion, “die Struktur von Dingen zu erhalten, die man in sich aufgenommen hat, während der Organismus Zerstörung fordert.” In der Magersucht wie in der Melancholie wird der Angriffsimpuls gegen das introjizierte Objekt gekehrt. Das “Introjekt” wird nicht aufgelöst. Die Folge ist nach Perls “eine dauernde Fixierung; da die Zerstörung vermieden wird und eine Assimilierung nicht stattfindet, bleibt die Situation notwendigerweise unvollständig.”

Die Mutter magersüchtiger Frauen, dies möchte ich noch einmal betonen, ist nicht unbedingt eine “böse” Mutter. Das Kind hat nur zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas oder jemanden als Angstquelle vernommen. Auch Marie-Victoire schildert eine solche Situation:

“Meine Mutter ist verschwunden, an ihrer Stelle gibt es einen großen, behaarten Hund. Wird dieser sie ersetzen? Wird mir dieses abscheuliche Tier Tag für Tag Gesellschaft leisten? Armer Black. Er ist es also, der mir so viel Furcht in meinen Träumen einjagt; er, der der Kompagnon meiner Kindheit war? Mit seinem Schwanz warf er mich auf den Boden, und ich klammerte mich an ihm fest, um mich wieder aufzurichten. Diese Erinnerung gehört sowohl der Lust als auch der Angst. Warum müssen diese beiden Begriffe immer verbunden sein, warum stiften sie Verwirrung in meinem Herzen?”, fragte sie sich, ohne eine Antwort darauf zu bekommen.

Das monstruöse Maul des Wolfhundes, das Marie Bonaparte mit dem auf den Tod ihrer Mutter folgenden Schrecken ihrer Kindheit assoziiert, erinnert uns zwangsläufig an das Märchen von Rotkäppchen: “Großmutter, was hast du für große Zähne!” Nach Perls ist der Wolf ein Symbol für Gier und Introjektion. Im Märchen introjiziert der Wolf die Großmutter, er kopiert sie und verhält sich ‘als ob’ er sie wäre, aber sein wirkliches Selbst wird durch die kleine Heldin bald entlarvt. Anschließend wird sie vom Wolf verschlungen, vom Jäger gerettet und durch schwere Steine ersetzt – ein grandioses Symbol für die Unverdaulichkeit des Introjekts. Im Märchen wird das introjizierte Objekt zwar verschlungen, aber nicht assimiliert; es bleibt lebendig und intakt. Nach Durand gibt es auch eine sehr genaue Konvergenz zwischen dem Hundebiß und der Furcht vor der destruktiven Zeit. Hier erscheint Kronos mit dem Maul des Wolfes, des die menschliche Zeit verzehrenden Monsters, und dem Wunsch des Menschen, die Zeit zu überlisten. Es kommt noch hinzu, daß der “Hund” auch das Symbol des erigierten männlichen Gliedes ist sowie die Bezeichnung für Penis in der Bambara-Sprache. Diese Interpretation wird durch Violette Leducs folgende Phantasie bestätigt: “eine Frau schrie: ‘Hunde zwischen meinen Beinen.'” (L’affamée) Die Angst, von Wölfen gefressen zu werden, wurde schon von Freud im kleinen Hans analysiert als Schrecken, dem Koitus des Vaters zu dienen. Das beängstigende Tier und die Furcht, verzehrt zu werden (die auch bei Violette Leduc wiederzufinden ist), sind der regressive, verfälschte, unterdrückte Ausdruck für einen passiven, zärtlichen Antrag, der den an den begehrten Vater gerichteten Liebesanspruch im Sinne des genitalen Erotismus repräsentiert. Wenn der Wolfshund für den kleinen Jungen zunächst die erschreckende, symbolische Gefahr der Kastrationsdrohung darstellt, dann ist der Traum (oder die Gesellschaft) von Hunden und Raubtieren (Hunde nahmen eine besondere Stellung in Virginia Woolfs und Tania Blixens Leben ein, bei Tania auch die Löwen) die Darstellung des Verlangens, als genitale Frauen anerkannt zu werden. Nach der Psychoanalytikerin Pièr Girard öffnet sogar das Streben des kleinen Mädchens, sich von Wölfen fressen zu lassen, den Weg zu der Heterosexualität, zu ihrem Vater. Das verzehrende Tier wäre sozusagen eine wunderschöne Verdichtung entgegengesetzter Wünsche: der mit dem scheinbaren Verzicht auf die Lust und aufs Leben einhergehende Wunsch, die Mutter zu behalten, sich in das Maul des Tieres zu werfen und dabei zu sterben (wie einmal die ersten christlichen Märtyrerinnen), wobei der Opfertod die einzige Möglichkeit zu sein scheint, sich vollkommen dem triebhaften Begehren hinzugeben und einen Fuß auf den Weg der Genitalität zu setzen. Der Wunsch nach dem Vater wird von Marie-Victoire deutlich geäußert:

“Je mehr ich Sie brauche, desto mehr denke ich an meinen Vater. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß etwas Lebendiges zwischen mir und ihm hätte existieren können; wenn ich dennoch immer vergeblich erwartete, daß Sie mich zugleich so lieben wie ein Vater und eine Mutter, liegt es sicherlich daran, daß er in meinem Leben auch eine Rolle zu spielen hatte. Dies wollte ich während einer sehr langen Zeit nicht einsehen.”

Nun braucht das Kind auch den Vater, diesen “Dritten”, der nach Mitscherlich “kein Feind, sondern Freund, ja zeitweilig ein erweiterterte Teil der Mutter sein muß, damit es sich in seiner Hilflosigkeit von der als allmächtig erlebten Mutter lösen und sich seinen Selbständigkeitsbedürfnissen einigermaßen angstfrei überlassen kann.” Wie Marie-Victoire ist auch Violette Leduc ohne Vater aufgewachsen. “Sie war zugleich Vater und Mutter”, sagte sie von Berthe. Für beide Frauen bestand die mütterliche Fürsorge hauptsächlich auf der körperlichen Ebene (orales Vollstopfen, Unmöglichkeit, sich dem geliebten Objekt zu erklären). Vom Liebhaber verlassen, als sie schwanger wurde, warnte Berthe das kleine Mädchen vor den Männern, und verbot ihr ausdrücklich, jemals ein sexuelles Verhältnis mit ihnen zu haben: “Alle Männer waren Schmutzfinken, alle Männer waren Herzlose. Sie fixierte mich während ihrer Erklärung mit so viel Intensität, daß ich mich fragte, ob ich ein Mann sei oder nicht. Nicht einer kaufte den anderen frei. Dich mißbrauchen, das ist ihr Ziel. Ich sollte es verstehen und nie vergessen. Schweine. Alle sind sie Schweine.”

Sehr häufig ist die Mutter magersüchtiger Frauen unglücklich gewesen (das bezieht sich sowohl auf ihre unglückliche Kindheit als auch auf ihre katastrophale Ehe oder auf die Kinder, die sie verloren hat). Darum muß die Mutter alles wissen; darum braucht sie ihre Tochter. Valérie Valère erklärte mit einer gewaltigen Grausamkeit, warum ihre Mutter “scheinheilig, blind, neurotisch und kraftlos” geworden war:

“Eine unerfüllte Liebe. Außerdem hat ihre Mama sie traumatisiert, indem sie ihr wiederholte, sie sei ein Nichtsnutz, sie sei häßlich, faul und würde die Männer nie verführen können. Sie machte meine Mutter dafür verantwortlich, daß sie seit deren Geburt ein gelähmtes Bein hatte. ‘Du wirst immer eine absolute Null bleiben.’ Ergebnis: Sie hat sich in die ‘männlichen’ (einfach eine Verwechslung des Attributs!) Arme des ersten verfügbaren Liebhabers geworfen und hat zwei gräßliche kleine Babys gekriegt. Darunter mich.”

Häufig steht die Mutter selbst noch im Schatten ihrer eigenen Mutter. Die Tochter erlebt dann ihre Mutter als schwach und konturlos und die Großmutter als dominante, übermächtige Figur. Die Angst vor dem Verlust des Objektes wird verstärkt, wenn das Kind von der Großmutter mütterlicherseits erzogen wird, so daß diese sich um das kleine Mädchen mit einem solch quantitativen Perfektionismus kümmert, daß es weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit erfährt, ein “auto-étayage” (s’étayer sur = sich stützen auf) zu erreichen. “Sind Bastardinnen Monstren, so sind sie Abgründe von Zärtlichkeit. Fideline ohne Alter, ohne Gesicht und Körper einer Frau, o mein langer Pfarrer, du wirst immer meine Verlobte sein” , sagte Violette von ihrer Großmutter. Ihre Magersucht wie auch Valérie Valères spätere Drogenabhängigkeit kann dann als eine Lösung erscheinen, um zwischen dem Ich und den äußeren Stimulierungen eine Sperre aus Nebel und Rauch zu bilden. Es gibt auch die Variante, daß die Mutter magersüchtiger Frauen in Anwesenheit ihres Kindes nur mit sich selbst, nicht aber mit und von dem Kind sprachen, sei es laut oder in der Wortlosigkeit innerer Sprache, und daß dieses Bad von Worten oder von Schweigen dem Kind zu verstehen gab, daß es ihr nichts bedeutete. (“Ihr Blick geht durch mich hindurch, ohne mich zu sehen, denn sie träumt”, schrieb Violette.) Nach Didier Anzieu ist aber der sonore und danach der visuelle Spiegel für das Selbst und für das Ich nur strukturierend, wenn die Mutter dem Kind zugleich etwas von sich selbst und etwas von ihm mitteilt sowie etwas, das die ursprünglichen, psychischen, von dem aufkeimenden Selbst des Säuglings empfundenen Eigenschaften betrifft. In dieser Hinsicht müssen wir betonen, daß man im allgemeinen bei magersüchtigen Frauen eine Abwesenheit des körperlichen Kontakts mit der Mutter wiederfindet, die manchmal bis zur Unfähigkeit geht, die Tochter zu umarmen:

“Wenn ich Sie umarme”, schrieb Marie-Victoire, “habe ich nichts in den Händen: Ihre Anwesenheit schwindet hinter der verführenden Fassade dahin; meine Lippen streichen an Ihre Wangen und begegnen nichts: Sie sind ein hohler Körper ohne Wärme und ohne Festigkeit.”

Das Verschwinden der Mutter wird auch affektiv und körperlich von Violette trotz Berthes Anwesenheit empfunden:

“Keine Mutter wird abstrakter als du gewesen sein. Deine Haut, deine Beine, dein Rücken, wenn ich ihn wasche, der Morgenkuß, den ich von dir erbitte, haben keine Wirklichkeit. Wo dir begegnen?”

Nach Laurence Igoin, die sich hauptsächlich mit dem Phänomen der Bulimie beschäftigt hat, spielt sich das Mutter-Tochter-Verhältnis bei Bulimikerinnen fast ausschließlich im Bereich des Blickes ab. Die Mutter sieht und weiß alles. Aus den Körperbildern, die in der Kunsttherapie von bulimischen Frauen angefertigt werden, schauen häufig viele runde Augen, “Kuhaugen”, die, wie die junge Marie kommentierte, “wie die Augen meiner Mutter, riesig und dumm” sind.

Das Vorbild der weiblichen Identifikation, die magersüchtigen oder bulimischen Frauen angeboten wurde, ist gewiß nicht ohne Ambiguität: “Meine Mutter kuschte immer vor meinem Vater. Ich will auf keinen Fall so wie sie werden”, ist das Verdikt, das von vielen Betroffenen verkündet wird. Einerseits finden wir die Herausforderung “ich bin nicht wie du”, andererseits die Intrusion “du bist in mir” und den Appell an die Liebe: “Erkenne mich an!”, in denen Unterwerfung und Arroganz, Leiden und Beherrschung, Gefühl von Kränkung und von Allmächtigkeit sich vermischen, kurz: eine Wut, ein Grenzzustand, der den griechischen Mythen nicht unbekannt war. Nach Brusset hat die Magersucht zugleich etwas von der narzißtischen Neurose und von der symbiotischen Struktur; in der Melancholie wird das verlorene Objekt einverleibt, und die Alternanz zwischen Anorexie und Bulimie könnte in der Alternanz zwischen Verlust und Wiederbegegnung mit dem Objekt verbunden sein. Alles geschieht also, als ob die Tochter sich vor einer doppelten Gefahr schützen müßte, vor der Verlassenheit und vor der Intrusion. In ihrem Diskurs läßt sich einerseits die Erfahrung eines Verlustes erkennen, andererseits die Verleugnung dieses Verlustes: der Abwesenheit der Mutter wird das Gefühl, von ihr erstickt worden zu sein, entgegengehalten sowie der Eindruck einer Anwesenheit und einer Allwissenheit, vor denen nichts entfliehen kann, nicht einmal die Abwesenheit.

“Mit all meinen Kräften habe ich immer daran gearbeitet, zu beweisen, daß ich existiere. Um so mehr wurde ich in meiner Kindheit verleugnet, auf eine ‘Sache’, ein ‘Ding’ reduziert, das nach Belieben verschoben wurde. Um so mehr bemühte ich mich, einen Wert in mir selbst zu finden. Aber es war vergebliche Mühe.”

So lautet der Diskurs eßgestörter Frauen. Für sie bedeutet die doppelte Unmöglichkeit, die Kräfte des Unbewußten zu beherrschen oder ihnen ganz den Vortritt zu lassen, die persönliche Niederlage ihrer Existenz. Ihr weibliches Dasein wird zu der unwiederbringlichen “Todsünde”, gegen die es nur ein einziges Mittel gibt: die “Schuld” auszulöschen, indem die Frau aufhört zu existieren und sich Gewalt antut. Dies wird auch von Nicole Châtelet beschrieben:

“Nach vorne gebeugt, über der Sitzbrille der Toilette entzweit, befreite sich Marie-Claude nicht nur von der in sich hineingestopften Nahrung, sondern sie erbrach sich selbst bis zur letzten Parzelle.”

So seltsam es auch scheinen mag, die Grundabsicht der Anorektikerin und der Bulimikerin ist es, ihren schwindenden Selbstwert wiederherzustellen, indem sie den Körper korrigiert (im Doppelsinn des Wortes: korrigieren = verbessern/züchtigen). Ein makelloser, tadelloser, unterwürfiger, gehorsamer Körper ist das körperliche Ideal (perfektionistisch, absolut) der mager- und brechsüchtigen Frau. Die Schlankheit, mehr noch die Magerkeit, muß die Selbstbeherrschung, das Zusammentreffen mit einem körperlichen Ideal, das gleichzeitig auch ein Ichideal ist, sichtbar widerspiegeln. Von nun ab wird das Selbstwertgefühl in diese Spanne flüchten zwischen dem, was die Frau ist und dem, was sie sein möchte. Die Funktion des grandiosen Selbst dient zur Abwehr gegen die archaischen Bilder der inneren Fragmentierung eines destruktiven Selbst und eines verfolgenden Objekts, das bei frühzeitigen, libidinös und aggressiv besetzten Objektbeziehungen eingreift. Nach Didier Anzieu werden daher die faszinierenden Kleidungen, die junge, meist magersüchtige Mannequins anlegen, zu einer Art mütterlicher, symbolischer Haut (wie im Märchen von Aschenputtel), deren Pracht sie vorläufig aufwertet angesichts der unbewußten Bedrohung des Zerbröckelns in ihrem psychischen Apparat. Engagiert in einem sterilen Kampf gegen “eine Andere, die ich gut kenne, mir selbst fremd und doch Ich selbst ist”, wird die eßgestörte Frau – sich im Kreis drehend – zu diesem ewig wandelbaren Ich, das der Körper umformt und das dennoch keine rechte Veränderung erfährt. So auch Nicole Châtelets Figur nach jedem Eß- und Brechanfall:

“Zum Schluß erkannte sie sich wieder mit der vorwurfsvollen Verwunderung, die die lange Abwesenheit einer familiären, vermißten Person hervorruft.”

Wenn wir den Schrecken berücksichtigen, den die junge Marie-Claude gegenüber sich selbst empfindet, wenn sie sich im Spiegel anschaut, erscheint ihre albtraumhafte Situation aussichtslos. Ihr Ich macht zwar, was ihm gefällt, bleibt aber Beobachter. “Ich ist eine Andere. Es steht neben mir und schweigt über seine Triebe, über eine Angst, die stumm bleiben will”, könnte man hier hinzufügen. Die junge Marie-Claude fragt sich zwar: “Wer bin ich?”, aber ihr verzweifelter Appell bleibt ein stummer Appell, der nicht gehört werden wird. Ihr Kampf ist einsam, heimlich, unheimlich, und daher um so mehr dem Scheitern geweiht. Indem sich die Magersüchtige der Hilfe und dem Verständnis anderer entzieht (generell wird gesagt, daß eßgestörte Frauen in der Therapie wenig zugänglich und abwehrend sind), verliert sie auch jedes objektive Maß und wird zum Opfer eines unerbittlichen Selbsturteils. Im Fall der Bulimie fühlt sich die Frau nicht nur schuldig, ihren instinktiven Trieben “nachzugeben”, sie fühlt sich zudem schuldig, sie zu “haben”! Alle Triebe müssen daher zensiert werden. Dies führt zwangsläufig zu einer Spaltung zwischen Leib und Seele. Der Leib als Träger der Triebe wird verachtet und als “sündig” verflucht, die Aggression gegen ihn gewendet, die Schuld für jedes Mißgeschick auf ihn geschoben.

Diese auf den Körper zurückgelenkte Aggression ist der erste Schritt in der Entwicklung jener Zweifel und jener Abscheu, die die eßgestörte Frau gegenüber ihrem Ich pflegt. Sie erlebt ihr Ich als “fremd”, weil es ihrem bewußten Willen entgeht: “Ich erkannte plötzlich in meinem tiefsten Inneren zwei Wesen, die gegeneinander kämpften”, sagte einmal Marie. “Eins von beiden war Ich. Das andere war eine Bestie, ich glaube, eine Löwin, die ihre Beute verzehrte, um zu überleben. Sie war aber namenlos.” In dieser Phantasie fußt die Interpretation auf der Dialektik zwischen Verfolger und Verfolgtem, Schlingendem und Verschlungenem. Ebenso symbolisiert der Vampir, mit dem sich Marie-Victoire, Violette Leduc und Maryse Holder vergleichen, den unersättlichen Lebenshunger und den Liebeshunger, der niemals befriedigt wird.

Das Wesen der eßgestörten Frau ist entzweit in ein fleischloses Ich und in einen Körper, den das Ich wie “eine Sache” anschaut oder vor dem es sich fürchtet wie vor einem Raubtier mit unkontrollierter Kraft und jähzornigem Appetit. Das Ich behandelt den Körper, als ob er ein Fremdkörper in der Welt wäre, “namenlos”, das heißt “ohne Sein”. “Gefällt sie dir, deine scheußliche ‘Sache’, die dich vom Schlafen abhält?” fragte Valérie ihre Mutter.

Nach Palazzoli kommt die Magersüchtige zu diesem besonderen Erleben ihres Körpers, weil sie ihn mit dem einverleibten Objekt, der Mutter, in seinen negativen, überwältigenden Aspekten gleichsetzt, um ihm besser Widerstand zu leisten und ihn vom Ich trennen zu können. Wichtig ist dabei, daß der Körper der Magersüchtigen das schlechte Objekt nicht nur enthält, sondern daß er es ist. Vom phänomenologischen Standpunkt aus wird der Körper als etwas erlebt, das alle Merkmale des primären Objekts besitzt, wie es in einer Situation oraler Hilflosigkeit wahrgenommen wurde: allmächtig, unzerstörbar, selbstgenügsam, wachsend und drohend. Und wenn der eigene Körper als “Fremdkörper”, also als Teil der Mutter entwickelt wird, richtet sich Haß gegen dieses Ich, das die Mutter verkörpert: “Ich hätte sie erstechen sollen”, wünschte sich Valérie Valère in ihrer Verzweiflung.

Nach Perls ist Liebe Identifizierung mit einem Objekt (“mein”); Haß ist Abgrenzung (“hinweg von mir!”). Der Wunsch, die Mutter zu töten, wird in der Regel geleugnet; er wird nicht als zum Selbst gehörig anerkannt. Marie-Victoire zum Beispiel weigerte sich, sich mit Mordgedanken zu identifizieren: “Ich ziehe es sicherlich vor, mich selbst zu hassen, als den Haß weiter zu erforschen, den ich auf Sie habe”, sagte sie.

Anstatt der Aggression Ventile zu schaffen, wird der Haß durch eine abgöttische Liebe kompensiert oder gar ersetzt. Trotz oder gerade wegen der heftigen Bestrebungen, sich in Barmherzigkeit zu üben, treten Aggressionen auf, die sich schließlich gegen die eigene Person wenden. Der Wunsch zu töten, kann sich dann in den Wunsch zu sterben verwandeln.

Marie-Victoire ist sicherlich ein extremes Beispiel. Der perfekte, durch den Tod veredelte Spiegel der Mutter ist nichts anderes als ein Image, ein zu ihrem Vorbild gewordenes Image, ein Ichideal, ein Selbstbild. Die Grausamkeit in Marie-Victoires Briefen an ihre Tante ist die Kehrseite der Idealisierung dieser Frau, die in ihren Augen alles ist, alles hat (in ihrem Kloster), bloß nicht den Kontakt zur Außenwelt, zum Leben:

“Dreieinigkeit: ein Vater und ein Sohn, die sich platonisch vereinigen, um einen Heiligen Geist zu gebären. Keine Frau, kein Sex: das ist reine und harte Göttlichkeit!” , schrieb sie voller Bitterkeit über die katholische Religion. Perfektion aber zieht Haß an. Die Gesellschaften, in denen die Macht des “bösen Blickes” noch herrscht, wissen dies. Perfektes, Schönes zieht den “bösen Blick” an. Neid mag der Grund sein, auch zuviel Liebe. Auf jeden Fall ist es in bestimmten Gebieten des Mittelmeerraums besser, Fehler zu zeigen, um dem “bösen Blick” der Neider zu entgehen. Marie-Victoire hatte zwar keinen bösen Blick, aber als ihre “Mère-amante” (Mutter-Geliebte) starb, ohne die vierzig an sie gerichtete Bittschriften gelesen zu haben, nahm sie sich das Leben. Ihr Selbstmord war ein Ersatz für ihre Mordgedanken und eine Selbstbestrafung für ihre ‘Bosheit’.

Durch ihre ständige Verweigerung drückte Marie-Victoire im Namen aller Magersüchtigen ihr Verlangen nach dem Beweis des Begehrens ihrer “Mutter” aus und stellte wie die mythologischen Figuren der Antigone und Proserpina die Frage nach der Differenz zwischen einem Toten und einem Lebenden. Indem sie nichts aß, versuchte sie nicht zu sterben, sondern sie bewegte sich am Rande des Sterbens. Ihr am Leben, am Überleben gehaltener Körper ließ den Tod erahnen, aber auch die Mordphantasie, die ihr Leben vergiftete:

“Werde ich keine Lust haben, sie zu töten in meinem Wahnsinn? Hatte ich keine Lust, meine Leibmutter zu töten, die auf meine Zurufe niemals antwortete? Wie kann man Lust haben, eine Tote zu töten?”, fragte sie sich in ihrer Verzweiflung.

Statt einer Antwort wurde Marie-Victoire mit sich selbst konfrontiert, mit dem von ihrer Tante der Unsterblichkeit geweihten Kind in sich, das doch ihre tote Mutter ersetzen sollte.

“Sicherlich haben Sie mich für ihren Tod nicht verantwortlich gemacht”, schrieb sie, “aber vielleicht haben Sie gehofft, in mir jemanden zu sehen, der sie ersetzen könnte. Wenn ich mich Ihnen gegenüber nie als Ich selbst gefühlt habe, liegt es nicht eben daran, daß Sie durch mich hindurch jemand anders suchten?”

Weil sie sich schuldig fühlte, am Leben zu sein, hatte sie zunächst damit begonnen, ihre Nahrung zu reduzieren, fast jeden Tag ihre Tante erbrechend, die sie ebenso sehr haßte wie ihren eigenen Körper. Der kleinste Rückzug ihrer Tante gab ihr andererseits jedoch das Gefühl, ihres Selbst beraubt zu werden. Die Intensität der Verlassenheitsangst ist in der Magersucht so stark, daß die Betroffenen sich lieber zurückziehen, als einen neuen Verlust zu erleiden. Sie verlassen, um nicht verlassen zu werden. Mit anderen Worten leiden sie nicht an Liebesunfähigkeit, sondern an der Angst, zu sehr zu lieben. Es bleibt ihnen, so scheint es, nur eine Alternative: entweder mit dem Anderen zusammensein und mit ihm fusionieren, oder allein bleiben, Alles oder Nichts. Diese exzessive Alternative wird auch in der Therapie sichtbar: die Hilfe herbeisehnen einerseits, allein zurechtkommen andererseits.

Was dennoch immer wieder auffällt, sind vor allem die durch Trennungen in der Kindheit veranlaßten “abandonniques”-Ereignisse, die in der Lebensgeschichte eßgestörter Frauen nicht fehlen. Wir haben gesehen, daß eine bei einer Großmutter verbrachte Frühkindheit nicht selten ist; ebensowenig das unerklärte Verschwinden der Mutter; oder ihr Tod. Die langen, alltäglichen Abwesenheiten der Eltern, die bis spät abends und am Wochenende arbeiten, können ebenfalls als traumatische Trennungen erlebt werden.

Selten finden wir bei eßgestörten Frauen Spuren eigener Wünsche. Wenn sie in ihre Vergangenheit zurückbliken, stoßen sie überall auf die unmöglichen Verhaltensmaßstäbe der Eltern, die ihnen das Leben zur Hölle machten (Streben nach Perfektion statt nach persönlicher Entwicklung). Was für die Eltern zählte, war meistens das Materielle und die Meinung der anderen, die Meinung der Lehrer, der Nachbarn. Immer Oberfläche, Äußeres, schöne Fassade. Mit ihrem Anspruch nach Harmonie, ihrer idealistischen, ehrgeizigen Haltung erreichten die Eltern aber das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigten. Sie brachten die Entwicklung ihrer Tochter ebenso zum Stillstand wie deren Monatsblutung, verbreiteten Unsicherheit und förderten Minderwertigkeitsgefühle.

Die Magersucht ist die Antwort auf die Ansprüche der Eltern und der Gesellschaft. Sie ist eine wesentliche Bewegung von Auflehnung und Widerstand gegen die Starrheit eines geschlossenen Systems. Sie ist das “Nein”, das das Ich an unbewußte Kräfte richtet, denen gegenüber es sich als machtloses Opfer fühlt (der Hungerstreik war schon immer die Waffe der Machtlosen). In diesem “Nein” ist auch ein Befreiungsversuch zu erkennen. Da die Magersüchtige sich jedoch in einem ewigen Kampf gegen die Eltern, gegen alles und alle wie vom Schmerz abgehärtet versteift, realisiert sie nur den Schein einer Befreiung. Ihr Heil bleibt in der Schwebe zwischen Leben und Tod, im Zwischenraum der “entre-deux-morts”, in dem sie sich selbst überlebt. Als reines Spiegelbild der Leere, das sie in ihrem Inneren spürt, erscheint ihr dann die Welt lediglich als ein hartes, zu durchquerendes Wüstenland.

Materiell (körperlich) gesehen, lebt sie; aber sie lebt in der Negation des Lebens, mit dem Tod im Innern, in einem “überflüssigen” Körper. Dazu schreibt Laplanche: “das Ich ist die Metapher des Körpers”, oder besser: ein volles Ich ist die Metapher des vollen Körpers – nicht voll von Nahrung oder von sinnlosen Worten, sondern voll von Wohlbefinden und Liebe. Es fühlt sich wohl in seiner Haut.

Eben diese metaphorische Abweichung scheint bei magersüchtigen Frauen gescheitert zu sein: ihr Ich bleibt fleischlos, rein geistig, idealisiert, außerhalb seiner selbst. Sie sprechen nicht über den Tod mit ihrem Körper, sondern über die Leere. Isabelle Clerc versinnbildlicht perfekt diese Theorie in ihrer Studie über Valérie Valère, wenn sie zeigt, daß die junge Anorektikerin sich nicht mit Menschen aus Fleisch (mit “diesem” Vater, mit “dieser” Mutter, die sie verachtete) identifizierte, sondern mit idealen Figuren, von denen sie sich ernährte: mit dem kleinen Mädchen des Romans von Le Clezio, die allein die Wüste durchquert; mit der fadenförmigen Silhouette der Tänzerin, die sie erfand; mit all den Wesen des Windes, die die Phantasie magersüchtiger Frauen erfüllen. Valéries Eßverweigerung war ihre Art, sich zu behaupten. Als sie aus dem “Haus der verrückten Kinder” entlassen wurde, suchte sie nach einer Zuflucht in der Zirkusschule, in der sie die Seiltanzkunst erlernte. Die Zirkusschule stellte für sie das Sprungbrett dar, von dem sie sich loszustürzen wagte, sie war die Brücke zwischen Imaginärem und Realem. Der Clown brachte sie zum Träumen: er allein hatte das göttliche Recht, die unvermeidlichen Stufen des Alters zu überspringen. Der Clown ist ohne Alter. Auch alt behält er eine Naivität und eine Frische, die ihn vor der Wirklichkeit schützen. Akrobatie, Trapez, Seil oder Tanz? Valérie entschied sich für das Seil und den Tanz, für den Seiltanz. Sich verflüchtigend, schwankend und zart, luftartig auf ihrem Seil, das ein Vorzeichen ihres Lebens war, fand sie für eine kurze Weile ein vollkommenes Gleichgewicht. Der Tanz, unauflöslich mit dem Mythos der Leichtigkeit, der Grazie und der Vergeistigung der fleischlichen Materie verbunden, weist der Magersüchtigen die Wege einer Sublimierung, einer Askese, eines aufgewerteten Übertreffens ihrer selbst. Ihr Gestaltungsversuch ist dennoch nach Balasc wie die Gestualität der Tänzer von Pina Bausch: das Echo einer Leere.

Die Magersüchtige leidet an jenem Mangel an Grenzen, der sich in der Unschlüssigkeit über ihre Grenzen zwischen dem psychischen Ich und dem körperlichen Ich, zwischen dem Real-Ich und dem Ichideal, zwischen dem, was vom Selbst und vom Anderen abhängt, manifestiert, aber sie leidet auch an den jähen, häufig von Stürzen in die Depression begleiteten Schwankungen dieser Grenzen, an der Konfusion der angenehmen und schmerzhaften Erfahrungen, an der triebhaften Undifferenziertheit, durch die der Aufstieg eines Triebes als Gewalt und nicht als Begehren empfunden wird, an dem diffusen Unbehagensgefühl, an dem Gefühl, den eigenen Körper nicht zu bewohnen, Beobachter von etwas zu sein, das ihre eigene und doch nicht ihre Existenz ist. “Ein Ding, das Ich ist. Aber ist es wirklich ich?” fragt sich die Magersüchtige, wenn sie ihren Körper beobachtet. Wie sollte sie sich auch spüren, wenn sie von ihrer Umgebung nicht wahrgenommen wird, wenn sie wie die “Affamée” von Violette Leduc mit der Gleichgültigkeit ihrer Madame konfrontiert wird. So blieb auch Violette angewiesen auf den Blick eines jeden von ihr geliebten Menschen. Indem sie versuchte, ihre Madame Simone de Beauvoir zu erobern, bemühte sie sich, die Abwesenheit der Mutter, an der sie in der Kindheit litt, wiedergutzumachen.

Wenn wir Valérie Valère oder die Figuren ihrer Romane als Projektionen von sich selbst untersuchen, entdecken wir auch bei ihr Anzeichen einer Ich-Depression, zum Beispiel in Gestalt eines Gefühls der Unwirklichkeit und der Leere; das Gefühl, anders zu sein als die anderen, insbesondere die Schulkameradinnen; ein Gefühl von Isolierung und eine dunkle Ahnung von Hilflosigkeit und Nutzlosigkeit. Die Magerkeit des Körpers wird zur Metapher für Gewichtlosigkeit und Leere: “Ich spüre nur Leere in mir, eine unendliche Leere, so unauslotbar wie die der Korridore.” Gleichzeitig verkündet der knochige Körper: “Ich habe gesiegt; ich bin jemand.” Die Magersucht ist ein Schutz vor Depression und Selbstmord.

Die Behauptung eines körperlichen Exils scheint dennoch manchmal schwer vertretbar, vor allen Dingen, wenn die Magersucht mit der Bulimie abwechselt. Die meisten Bulimikerinnen wollen nämlich nicht mager sein, sondern schlank. Sie sind auf der Suche nach einer den kollektiven Schlankheitsidealen untergeordneten Weiblichkeit. Meist sind sie geschmackvoll angezogen, von einer Art Dandytum bzw. “androgyner Weiblichkeit” besessen, wobei die Toilette die Abscheu vor dem Körper verdeckt und überkompensiert. Wenn der Körper der abgezehrten Anorektikerin die These über das Entfliehen des Ichs außerhalb ihrer fleischlichen Hülle glaubwürdig macht, ist es hingegen für einen nicht aufgeklärten Beobachter schwierig zu glauben, daß die Bulimikerin ein feindseliges Verhältnis zu ihrem Körper haben kann, das bis zum Ekel, manchmal bis zum Haß geht. Die attraktive Schauspielerin Jane Fonda hat jedoch öffentlich ihren langen Kreuzweg zugegeben: “dreiundzwanzig Jahre Martyrium” , von dem sie zuvor nie gesprochen hatte.

Ob man aber nun Jane Fonda oder Marilyn Monroe heißt (von der letzteren weiß man, daß sie kurz vor dem Fototermin noch schnell Einläufe machte, um einen flachen Bauch zu haben): bulimische Verhaltensweisen können sich nur festfahren, wenn das Ich und der Körper getrennt, gespalten, gegeneinander kämpfend, unversöhnlich sind. Was zudem die Bulimie charakterisiert und sie von der reinen, restriktiven Anorexie unterscheidet, ist die extreme Ambivalenz gegenüber dem Objekt Nahrung. Die Nahrung ist gut als lebenswichtiges Objekt (wenn man nicht ißt, besteht die Gefahr, an Unterernährung zu Grunde zu gehen), aber schlecht als Objekt der bösen Mutter, als Objekt des Mästens, des Erstickens. Diese schlechte Nahrung verwandelt sich dann in “bösen Speck”, der bekämpft wird.

Offensichtlich gelingt es der jungen Bulimikerin nicht, ihren “eigenen” Körper zu finden. Jedesmal, wenn sie sich wiegt, wenn sie ihren Körper betrachtet oder sich ihrem Heißhunger hingibt, kämpft sie gegen ihren Schatten. Das tyrannische Zwangsbedürfnis zu essen, Nahrung zu verschlingen, auch “irgendwas”, ohne Hunger und ohne Genuß, beginnt plötzlich wie eine Krise. Louise Roche hat auf folgende Weise ihre Eßstörung geschildert:

“Meine Essensgewohnheiten gerieten völlig durcheinander. Ich bemerkte nicht, daß ich das Essen benutzte, um auszudrücken, was ich fühlte. Ich aß nicht, weil ich hungrig war, und wenn ich einmal angefangen hatte zu essen, hatte ich Schwierigkeiten, damit wieder aufzuhören.”

Eine Zeitlang wurde die Bulimie mit dem Phänomen der Drogenabhängigkeit verglichen, um die Machtlosigkeit des Subjekts zu erläutern, das vergeblich dem Eßzwang zu widerstehen versucht. Manchmal wird der Eßzwang auf das Körpertraining oder auf eine intensive Fitneßtätigkeit verschoben, die mit zwanghafter Beharrlichkeit betrieben wird.

Weder die Eßanfälle noch die Sexualität werden von bulimischen Frauen als lustvoll geschildert. Sie empfinden ihre Eingeweide als tyrannisch und unersättlich und fühlen sich zerrissen zwischen entgegengesetzten Wünschen. Dem mädchenhaften Wunsch, schön und unschuldig zu sein, stellt sich dann das gierige Verlangen entgegen, die Welt kennenzulernen, die Männer und die Welt zu besitzen und zu verschlingen. Diesen Widerspruch finden wir auch bei Violette Leduc wieder:

“Was ich möchte? Daß mein Geschlecht verrostet. Ich könnte Maurice Sachs heiraten. Mein Begehren nach ihm, was ist es? Mein zu Kopf gestiegener Bauch. Viel Eitelkeit. Einen Homosexuellen in einen rotglühenden Eisenstab verwandeln, diesen Stab biegen.”

Das Zusammenleben mit Maurice Sachs, der nur junge Männer begehrte, war für sie eine harte Probe. Sie bekam hier aber die Möglichkeit, sich wütend ihre Willensfreiheit und Unabhängigkeit zu beweisen und die Abwesenheit jeder Bindung zu bestätigen, zunächst, indem sie als junges Mädchen die Nahrung verweigerte, später, indem sie sich in impotente oder homosexuelle Männer verliebte und so die Sexualität verweigerte. “Er hatte kein Geschlecht, der Engel, von dem ich mich nicht trennen konnte”, sagte sie von ihrem Ehemann. Diese Phantasie der Autarkie findet ihren morbiden Ausdruck in der Abzehrung, wenn die Anorektikerin sich von sich selbst ernährt und jede Zufuhr von außen verweigert, um das falsche Selbst zu töten, das die Entfaltung des Lebenden erstickt.

Im Gegensatz zur Anorektikerin kämpft die Bulimikerin meist nicht offen gegen die Mutter. Ihre Sucht ist oft ein Geheimnis, eine einsame Beschäftigung mit sich selbst, von der niemand weiß: “Sechs Jahre lang erhielt sie die Illusion einer unproblematischen jungen Frau aufrecht”, erzählt Nicole Châtelet. “Sechs Jahre Leiden.”

Mit jedem Eß- und Brechanfall bestätigt sich die Bulimikerin ihre Autonomie: “Ich allein bestimme über mein Leben und über meinen Körper”, denkt auch Marie-Claude: “Die Gewißheit ihrer Allmächtigkeit erfüllte sie mit Stolz. ‘Ihr Werk!’ Dieser Klotz aus Fleisch, dieser riesige Haufen von schlecht zusammengeschnürten Materien, dieses Stück Erdkarte, war ihr Werk, ihre Schöpfung!”

Was sie dabei verleugnet, ist ein schlechtes Bild von sich selbst, ein teufliches Bild, das Bild von derjenigen, die die Mutter kritisiert und zerstört. Die Vorwürfe, die sie gegen sich (unvollkommen, liebesunfähig, ein Nichts) und gegen ihren Körper wendet, sind in Wirklichkeit an die Mutter gerichtet. Durch die Wiederholung der bulimischen Anfälle versucht die Bulimikerin der Mutter zu bedeuten, daß diese auf ihren Einfluß, auf ihre wachsame Allmächtigkeit verzichten habe. Die den Körper betreffende Klage ist zweischichtig: einerseits ist der Körper “zu dick”, andererseits wird er häufig “verantwortlich” gemacht für die bulimischen Impulse. Diese zwei Aspekte hängen eng miteinander zusammen wie Schuld und Züchtigung.

Meist ist die Gefräßigkeit der Auslöser des Eßanfalls, und Süßigkeiten sind das Objekt der Versuchung. Hier finden wir das Thema der weiblichen Schamlosigkeit wieder (Eva in den Apfel beißend, Proserpina in den Granatapfelkern). Die bulimische Krise mimt, wie schon erwähnt, das Szenario des Sündenfalls und die Ängste des moralischen Gewissens. Die Züchtigung besteht darin, daß “man sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdient” und zu diesem Ziel allerlei Kompromisse eingeht. Das Ziel läßt sich in einer hämmernden Wiederholung zusammenfassen: Geld verdienen, um Nahrung zu kaufen, aufzuzehren, zu verdauen, auszuscheiden, und dies an jedem Tag des Lebens. Dieses Leben wird von der Bulimikerin auf erschreckende Weise parodiert. Wenn sie die unterschiedlichsten Lebensmittel in sich zusammenschüttet, ohne die “Syntax der Mahlzeit” und die “Grammatik der Küche” zu respektieren, drückt sie eine Art Herausforderung bzw. Auflehnung aus gegen einen kulturellen, festgelegten Kodex, der sie dazu verurteilt, nur ein Wesen aus Fleisch und Bedürfnissen zu sein. In Wirklichkeit erkennt sie dennoch nur einen einzigen Partner an: ihren Körper, “ihr Wesen aus Fleisch und Bedürfnissen”. Das gesellschaftliche Spiel wird dabei aber im Hintergrund belassen und zur Zielscheibe der Verhöhnung. Nicole Châtelets Novelle versinnbildlicht diese starke Anwesenheit des Körpers in der Bulimie: “Sie hatte erfahren, wie hartnäckig das Fleisch ist, wenn es darum geht, das Gedächtnis des Schmerzes zu bewahren.”

Allein der Körper kann sich an den Ur-Schmerz erinnern. Châtelets Figur, Marie-Claude, füllt ihren Körper nach Belieben und leert ihn aus wie ein bodenloses Faß, um sich selbst zu beweisen, daß dieser Körper, der bestenfalls ein Bauch ist, ihre Seele nicht in die Falle zu locken vermag. Aber der Körper ist auch nicht in der Lage, der Ort der “vollen” Identität des Subjekts zu sein. Indem die Bulimikerin die Forderung der Bedürfnisse und die Souveränität des Begehrens verwechselt, gibt sie zu, zu ignorieren, daß sie sich – wie der Drogenabhängige – “Neo-Bedürfnisse” schafft.

Laurence Igoin erinnert hier, daß Demeter, die mütterliche Göttin der Erde, den ungehorsamen Erysichton verfolgte und schließlich bestrafte, weil sie ihn beim Fällen ihrer Bäume ertappt hatte. Sie verurteilte ihn zu einem grausamen und brennenden Hunger, einem Leiden, dessen Kraft ihn verzehrte. Dieser Mythos wird auch von Kestemberg, Kestemberg und Décobert aufgegriffen und als ein Zwang interpretiert, die Imago der bösen Mutter durch die Vermittlung der Nahrung und der Fäces, die sie symbolisieren (Nahrung und Fäces werden durch Erbrechen und Abführmittel ausgeschieden), und daher im weiteren Sinne die Intrusion jedes äußeren Objekts zu beseitigen. Dieses äußere Objekt (die Bäume im Mythos) wird von den drei Psychonalytikern als der “fäkale Penis”, Partialobjekt der Mutter, verstanden, der dieser nun vom schlecht gewordenen Subjekt entrissen wird. Der Kampf mit dem äußeren Objekt wird also aufgegeben, und stattdessen wird das böse verfolgende innere Objekt zur Last. Pièr Girard erklärt in ihrer Studie über Violette Leducs “Affamée”, wie Violette im Laufe der analen Phase gezwungen wurde, auf die Beherrschung ihrer Schließmuskeln (Entleerung-Zurückhalten) zugunsten der rigiden und verbietenden Mutter zu verzichten. Die Mutter konnte daher von dem kleinen Mädchen im Inneren ihres Körpers nur als mächtige Herrscherin über die Fäces wahrgenommen werden. Darum wurde die Mutter als allmächtig, ja sogar verfolgend erlebt. Die Konnotation des “fäkalen Penis” sollte dabei berücksichtigt werden, da Mund und Anus im Unbewußten gleichgesetzt werden. Der Wunsch, gierig und unersättlich in sich hineinzusaugen, kann dazu führen, daß der Darm als gefährliches, verschlingendes Organ phantasiert wird.

Kestemberg, Kestemberg und Décobert haben diese oder ähnliche Phantasien bei ihren Patienten beobachtet, wie zum Beispiel die Phantasie eines Röhren-Körpers, der am einen Ende abgefüllt wird und sich aus dem anderen ausleert. Der Akt des Entleerens wird dabei erotisiert und sichert den Subjekten ihre Existenz. Es gäbe angeblich in ihnen einen unbewußten Übergang von “Ich habe Hunger, also existiere ich”, was gleichzeitig ein Appell an das Objekt ist, zum “Ich habe keinen Hunger, also bin ich vollständig”, was eine Verweigerung des Objekts zugunsten der sekundären narzißtischen Besetzung auf der Ebene der Analität bedeutet. Das Fasten wird sinnlich lustvoll erlebt in einer Art zirkulären Genießens, als ob das Empfinden des Hungers die Subjekte erregen und beschäftigen würde, ihnen etwas Solides gäbe, an das sie sich festgreifen könnten, und ein Sicherheitsgefühl, das ihnen beweist, daß sie wirklich existieren. Die Leere, die durch die Fortdauer des Hungers gesichert wird, hält das Objekt auf Distanz und behält es zugleich anwesend. Das Objekt bleibt anwesend auf der Ebene der Vorstellung (Beschwörung diverser Nahrungsmittel, Kochrezepte oder sogar Kochen und das Vergnügen daran, den anderen beim Essen zuzusehen); aber die Subjekte lassen sich dabei auf den Akt (des Essens) nicht ein.

Das Gefühl der Fusion wird in der Überfüllung und der Sättigung gesucht, aber die Sättigung wird nicht erreicht. Die Leere vertieft sich in dem Maße, wie das Subjekt sich vollstopft und die in den Bauch gestopfte Nahrung wieder ausgeschieden werden muß. Die bulimische Verzehrung findet auf diese Weise ihren rechten Platz in Rosolatos Unterscheidung in die zwei Phasen innerhalb des Verrdauungszyklus:

1. Der Verlust des Objekts löst die erste Welle der Austreibung aus. Was schlecht ist, wird verweigert, und das Objekt wird in der Phantasie vom Körper ausgeschieden (durch Erbrechen und Abführmittel).

2. Die Wiedereinverleibung verfolgt nun aber die Phantasie, das Objekt wiederzufinden, das böse Objekt zu beherrschen und es zugleich oral zu zerstören.

Auch der Wunsch, zu behalten und zu besizen und damit Macht über sich und andere zu haben, ist ein Ausdruck des sadistischen Bemächtigungstriebs der analen Phase. Hierbei handelt es sich aber nicht darum, dem anderen Schmerz zuzufügen, denn dieser wird als Anderer, mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen gar nicht wahrgenommen. Daher auch die “Härte” vieler magersüchtiger Frauen. Wenn Violette Leduc zum Beispiel die Tyrannei der Unersättlichkeit ihren Eingeweiden zurechnet, wünscht sie in Wirklichkeit etwas völlig anderes als die Wollust: sie will besitzen. Wenn sie ihrem Ehemann “den geschlechtlichen Genuß verschafft, wenn sie ihn in sich empfängt, so gehört er ihr; die Vereinigung ist realisiert. Sobald er ihr aus den Armen kommt, ist er von neuem dieser Feind: der Andere.” Alles will sie besitzen: die Männer, aber auch Geld: “Ich heulte, um das Geschlecht Gabriels zu haben. Ich bettele gern, ich bitte gern, ziehe Nutzen (…) Sein Geld, auch das war Sexus, den er mir verweigerte.”

Auf der analen Stufe verbinden sich symbolische Werte von Geben und Verweigern mit der Defäkation; in dieser Perspektive stellt Freud die symbolische Gleichstellung Fäces = Geschenk = Geld auf. Violette war geizig: “aus Vorsicht, aus Egozentrik, aus Groll”, schreibt Simone de Beauvoir. Warum hätte sie ihren Nächsten geholfen? “Hat man mir geholfen, als ich vor Kummer krepierte?”, fragte sie sich. Hart ist sie, manchmal grausam. Sie hat etwas von den Danaiden, den kriegerischen Jungfrauen aus der Mythologie. Diese begnügen sich nicht damit, ohne Ende die berühmten bodenlosen Fässer aufzufüllen, sie ersetzen vielmehr das Wasser, Symbol des häuslichen Lebens, durch Blut, das sie anläßlich der Initiationsriten des Demeterkultes vergießen. Im Mythos der Danaiden enthüllt sich noch einmal das unstillbare Begehren des Menschen, das in der Bulimie ihren Höhepunkt findet.

In diametralem Gegensatz hierzu will die Anorektikerin nichts essen, nichts zu sich nehmen. Damit drückt sie die Unmöglichkeit aus, das gute Objekt, in welcher Form (hier: Nahrung) auch immer, wiederzufinden und reaktiviert auf diese Weise die Qualen eines anfänglichen Mangels. Wie in der Melancholie ist ihre Welt leblos, vom Tode heimgesucht, aufgesogen im Nichts. Alles was besetzt wurde, ging verloren. Was erwartet wurde, wurde nicht realisiert. Der Lebensraum der Anorektikerin ist öde. Überall breitet sich um sie herum Wüste ohne Menschen aus. Starobinski spricht von Witwentum, “veuvage” auf französich (viduitas) , und Julia Kristeva erinnert uns an Baudelaires Verse, der wegen einer “Megäre”, die sich sein Bild angeeignet hatte, in Trauer versteinert war: “C’est tout mon sang, ce poison noir! / Je suis le sinistre miroir / Où la mégère se regarde!”

Zugleich Mann und Frau, Kreuz und Phallus, Wunde und Messer, Behältnis und Verletzung, identifiziert sich auch die Anorektikerin mit der allmächtigen Mutter, mit der Mutter, die alles hat, mit der “Reine-mère”, ohne sich jedoch das mütterliche Bild einverleiben zu können. “Sie war zugleich Vater und Mutter”, schrieb Violette über die Mutter Berthe. Auch die so sehr von ihr angebetete Simone de Beauvoir stellte sie in ihrem Werk “L’affamée” als vereinigte Elternimago dar: perfekte Gestalt der sublimen Mutter, gegen die sich aufzulehnen undenkbar war, da sie für Violette das ideale Bild von Stärke, Integrität, Mächtigkeit und Virilität darstellte, das aus ihr den androgynen Elternteil machte, der alle Wünsche Violettes erfüllen sollte. Jedes Wort der “Affamée” wird S. de Beauvoir gewidmet: “Sie war alles, ich war nichts.” In einem undifferenzierten phallischen Bild werden die Eltern vereinigt, in dem der Penis nicht mehr als die eine oder die andere der Imagines spezifiziert wird, da der Vater völlig abwesend war. Die Imago der archaischen, allmächtigen Mutter gewinnt die Oberhand, und die Vaterimago bleibt in der Mutterimago eingeschlossen. “Es gibt keinen Vater bei uns. Es gibt meine Mutter. Was soll ich dir sagen? Meine Mutter ist alles das (…) Ich bin zur Welt gekommen mit meiner Mutter” , erzählte Violette in der Schule.

An ihren Vater konnte sie sich nicht erinnern. Sie lebte in einer Welt ohne Männer. Daher blieb Violette auch fern von der genitalisierten und differenzierten Imago, die innerhalb des eigentlichen ödipalen Konflikts dargestellt wird. Das Männliche und das Weibliche waren in der Phantasie des idealen und unempfindlichen “Körpers aus Stein” der Magersüchtigen vereinigt:

“Ich werde eine Königin aus Stein auf einem Grab. Ich werde nahe bei dieser Erde sein, die mich verschlucken wird. Auf dem Holz ausgestreckt, werde ich mit Würde voll von mir selbst sein”, dachte Violettes “Affamée”.

Geliebt zu werden, eine belohnende Beziehung zu der Mutter zu haben, deren Substitut Simone de Beauvoir war, von ihr aufgenommen zu werden, all dies hat Violette gefehlt. Die Magersucht bildet daher die außergewöhnlichste Manifestation der Beharrlichkeit des Begehrens gegen die Realität, einer grausamen Beharrlichkeit, die den Schein einer tiefen Verzweiflung annimmt. Die Lust, die bei der Eßverweigerung empfunden wird, garantiert der Magersüchtigen das Gefühl zu sein oder für sich selbst zu existieren; die körperliche Aktivität und der Körper selbst werden auf diese Weise der Bemächtigung durch den Anderen entzogen.

Wenn die Fusion mit der Mutter auf der archaischen Stufe notwendig ist, heißt das, daß weder die Mutter noch der Penis außerhalb des Individuums sein können; und die Urszene wird dann phantasiert als die endlich verwirklichte Verschmelzung zweier Menschen, die unrettbar getrennt sind. Dolto hält deshalb die Magersucht für eine “Familienneurose”: das Subjekt ist in einem fusionellen Ich gefangen, das sich vom asexuellen Ich der Eltern nicht unterscheidet. “Beide Elternteile, vom Partner zutiefst enttäuscht, ermutigen die Patientin heimlich, dessen Mängel auszugleichen”, schreibt Palazzoli. “Das hat zur Folge, daß die Patientin zur Hälfte heimlich die Rolle des Gatten wie die der Gattin spielt, um ihre Sympathie auf beide gleichmäßig zu verteilen.” Sie selbst bleibt auf der Strecke.

Die Figuren der Mutter und des Vaters verdienen unsere Aufmerksamkeit, denn wenn sie in ihrer Verhaltensweise von den Betroffenen als sehr voneinander verschieden und daher sehr individuell gezeichnet dargestellt werden, besteht de facto ein offensichtlicher Widerspruch zur Organisation der Imagines. Diese werden schlecht differenziert. Das Drama der Magersüchtigen ist das der Identität ihrer Person. Wenn wir Violettes Beispiel nehmen, die ihrem Vater ähnlich sah, aber von ihm nicht anerkannt wurde und immer wieder von ihrer Mutter hören mußte, daß alle Männer Schweine sind, können wir ihre Verwirrung verstehen. Die Verbote und die Drohungen der Mutter hinderten sie daran, zu ihrer eigenen Affinität zu gelangen: auf keinen Fall durfte sie wie der Vater sein. Und in den Augen ihrer Mutter sah sie nur das Spiegelbild einer lebendigen Schuld: das der verbotenen Frucht, deren schreckliches Produkt sie war: “eine Bastardin”.

 

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter