3.3 Die todbringende Frau

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter

Für den Mann und für die Frau ist der Verlust der Mutter eine biologische und psychische Notwendigkeit, das erste Merkmal der Autonomisierung. Der Muttermord ist eine Lebensnotwendigkeit, schreibt Julia Kristeva in ihrer Studie über “Depression und Melancholie” (1987), die conditio sine qua non unserer Individuation, vorausgesetzt, daß er auf eine optimale Weise stattfindet und erotisiert werden kann: sei es, daß das verlorene Objekt als erotisches Objekt wiedergefunden wird (wie im Fall der männlichen Heterosexualität und der weiblichen Homosexualität), sei es, daß das verlorene Objekt auf das andere Geschlecht (im Fall der heterosexuellen Frau) übertragen wird durch eine unglaubliche symbolische Bemühung, die das andere Geschlecht erotisiert oder die kulturellen Aufbauten in ein “sublimiertes” erotisches Objekt verwandelt. Die je nach Individualität und Milieu mehr oder weniger ausgeprägte Gewalt des muttermörderischen Triebes hat zur Folge, daß sie sich gegen das Ich wendet, wenn sie gehemmt wird. Wenn das mütterliche Objekt introjiziert worden ist, erfolgt statt des Muttermordes jene depressive Tötung des Ichs, die auch in der Melancholie zu finden ist. Karl Abraham vergleicht in seiner “Studie über die Entwickung der Libido” (1925) die Anorexie mit der Melancholie: “Um Mama zu schützen, bringe ich mich um, obwohl ich weiß (phantastisches und schützendes Wissen), daß sie die Ursache meines Leidens ist. Auf diese Weise ist mein Haß unbeschadet, und meine muttermörderische Schuld ausgelöscht. Ich mache aus meiner Mutter ein Todesbild, um nicht in Stücke zu zerbrechen vor Selbsthaß, wenn ich mich mit ihr identifiziere. Im Grunde richtet meine Abscheu vor ihr eine Sperre auf, die aus mir ein Individuum macht, indem sie mich vor der konfusionellen Liebe schützt.” Die Magersucht kennt die gleiche depressive Ökonomie wie die Melancholie: “Ist meine Mutter Ich? Infolgedessen, hasse ich mich selbst und vermeide zudem den offenen Ausdruck von Feindseligkeiten gegen sie.”

Für Laurence Igoin verdeckt die Bulimie ebenfalls die lauernde Depression. Sie vergleicht die Bulimikerin mit der mythologischen Figur Proserpina, die ewig zwischen zwei Welten wandelte – der Welt der Lebenden und der Unterwelt – und immer das Gefühl hatte, nicht in ihrer Haut zu sein und sich in einem Spiegel zu sehen. Gefährtin von Hades, des Gottes der Unterwelt, der zugleich ihr Onkel, ihr Entführer und ihr Ehemann war (man findet hier das Inzestthema wieder), war Proserpina auch seine Gefangene. Hades hatte sie dazu verführt, einen Granatapfelkern zu essen, um auf diese Weise das gebotene Fasten in der Unterwelt zu brechen. Da sie sich hatte verführen lassen, wurde sie verurteilt, ein Drittel ihres Lebens in der Unterwelt und die zwei anderen Drittel bei den Lebenden zu verbringen. Vermittelnd zwischen Leben und Tod stehen Essen und Sex. “Die Todesfrucht ist zum Zeichen der Auferstehung geworden. Der tödliche Biß, Stachel und Phallus, zur Impfung gegen den Tod”, schreibt Jan Kott hierzu. Der Mythos Proserpinas ist daher vergleichbar mit dem Los aller Süchtigen, die jenseits des Grabes wie Schatten ihrer selbst überleben.

Marie-Victoire Rouiller legte Zeugnis von diesem Instinkt des Überlebens ab, der sie in eine lebende Tote verwandelte und der in ihr die Angst hervorbrachte, der sie draußen in der Welt nicht mehr zu trotzen vermochte. Aus einem Brief an ihre Tante:

“In Ihrer Nähe, in Ihren Armen, die mich so schlecht umfingen, fühlte ich mich wie eine Leiche. Meine Haut, die mit Ihrer Haut nie vereint war, war gespannt über einem Herzen, das genauso zersetzt war wie diese wabbligen und blutigen Organe in den Metzgereien. Dieses Fleisch gehörte, so schien es, zu meinem eigenen Fleisch, denn die Nahrung, die ich ununterbrochen kaute, um zu wachsen, versuchte bei jedem Hinunterschlucken dorthin zurückzukehren, woher sie kam, in die Tiefe meiner Eingeweide, dort, wo das Geheimnis des Todes und von all dem, was mich faszinierte, sich verbergen mußte.”

Hier ist der Körper schon anderswo, abwesend, eine lebende Leiche. Er wird von der Magersüchtigen nicht ernährt, weil diese Angst hat, ihn vollzustopfen, und so besser ohne ihn leben kann. Das Bild ihres Körpers ruft in ihrem gekränkten Narzißmus die Gewalt und den Wunsch zu töten hervor, gegen den sie sich schützt, indem sie ihren Körper malträtiert. Die mit der Einverleibungsphantasie verbundene Angst der Magersüchtigen läßt eine Spaltung zwischen dem Ich und dem Körper entstehen; der als von der Mutter beherrschte (oder als Substitut der Mutter) erlebte Körper wird zum “bösen Objekt”, das als “dicker werdend” und “gefährlich” empfunden wird, während das Ich mit dem Ichideal der Grandiosität ineinanderfließt. Palazzoli schreibt hierzu: “Das in den zwischenmenschlichen Beziehungen frustrierte Machtmotiv wird auf die intrapersonale Struktur verschoben, d.h. auf eine rigide Kontrolle des Körpers der Patientin. Das Unannehmbare wird in den Körper projiziert, nicht auf die Umwelt.”

Groll und Wut werden durch das Erbrechen ebenso entladen wie die Vergangenheit, die die magersüchtige Frau gefangen hält. Marie-Victoire zum Beispiel fühlte sich machtlos ihrer Tante gegenüber, wie “ein Tänzer auf dem zerrissenen Seil ihrer Kindheit.” Indem sie sich mit der verstorbenen Mutter und mit dem Tode selbst identifizierte, erschaffte sie einen Raum psychischer Einsamkeit, der von der Wahrnehmung der asexuellen Gestalt ihrer Tante unterstützt wurde:

“Sie sind nicht Gott”, schrieb sie, “und dennoch haben Sie ohne Paarung und ohne Blut zu vergießen dem bösen Geist, der ich geworden bin, das Leben wiedergeschenkt.”

Ob die Mutter unentbehrlich, erfüllend, aufdringlich und darum als todbringend phantasiert wird oder ob sie gehaßt wird, weil kalt und distanziert: in beiden Fällen tötet sie ihre Tochter und versperrt ihr alle Ausgänge:

“So häufe ich die Mißerfolge an”, schrieb Marie-Victoire, “um mir zu beweisen, daß ich es nicht verdiene, geliebt zu werden, und daß Sie Recht haben, es so schlecht gemacht zu haben (…) Heute habe ich gelernt, auf einem einsamen Abhang zu gehen, da wo die Hunde neben einer Leiche heulen, und ich schreibe Ihnen wie ein in der Falle gefangenes Tier.”

Hier muß allerdings hinzugefügt werden, daß Marie-Victoire im Blut ihrer gerade verstorbenen Mutter gebadet hatte und daß sie später in den Augen ihrer Tante die geliebte und verstorbene Zwillingsschwester (ihre Mutter) ersetzen mußte:

“Ihre Erwartung an mich war so groß, daß ich keine Chance hatte, sie erfüllen zu können. Wie sollte ich Ihre Zwillingsschwester, Ihr Spiegelbild sein, wenn ich Ihr Kind sein wollte?”

Als Antwort auf die todbringende Symbiose mit der Mutter-Tante wurde später Marie-Victoires Leidenschaft für ihre spanische Freundin Nièves zu einer der intensivsten Figuren dieser Verdoppelung:

“Ihr Name aus ‘Schnee’ ließ meine Lippen glühen, wenn ich ihn in der Dunkelheit eines Korridors ganz leise aussprach (…) Im Grunde sind Sie kaum für die Verzweiflung verantwortlich, die mich nach Nièves’ Abschied erschüttert hat. Wie hätte ich damals verstehen können, daß diese Trennung mich auf die Ängste eines terrorisierten Kindes zurückwarf?”

Die Nicht-Überwindung der prä-genitalen, homosexuellen Ambivalenz (die mit einer Nicht-Trennung von der Mutter verbunden ist) hat zur Folge, daß diese Ambivalenz jede Form späterer Beziehungen prägt. Das Subjekt hat sich dem Ödipus (der “Triangulierung”) nicht gestellt, der es aus der dyadischen Beziehung zur Mutter hätte erlösen können. Die Pubertät reaktiviert diese Sackgasse. Die Trennung von der Mutter wird genauso gefährlich wie die Fusion mit ihr. Ein regressiver Ausweg wird in der Oralität und der Analität versucht, in der Absicht, das Objekt und das Ich wiedergutzumachen. Dieser Mechanismus ist an depressive Angst und Schuld geknüpft: “Die phantasierte Wiedergutmachung des äußeren und inneren mütterlichen Objekts ermöglicht die Überwindung der depressiven Position, indem sie dem Ich eine stabile Identifizierung mit dem günstigen Objekt sichert.” Der Hunger der Magersüchtigen drückt also ein sehr regressives Verlangen aus. Er zielt darauf, eine Rückkehr in eine vollständige Umsorgung durch die Mutter oder durch den Partner, etwa als Verdoppelungsfigur, zu beschwören:

“Ich kann mich nicht erfrischen, mich nicht wärmen, mich nicht ernähren”, schrieb Violette Leducs “Affamée”. “Neben ihr sterbe ich vor Durst, vor Kälte, vor Hunger. Sie ist frei, frei. Ich habe mich an sie gebunden. Ich bin mein eigener Aushungerer.”

Jenseits von Eros finden wir Thanatos. Die Liebe, die dem Leben einen Sinn gibt, wird gleichzeitig mit dem Tode assoziiert, da “ich ohne Liebe nicht leben kann”. Bei Violettes “Affamée” ist die Essensverweigerung eine Abwehr gegen die Todesangst, sie ist die Angst, verlassen zu werden, die Angst vor dem Nichts:

“Um elf Uhr morgens sind unsere Anfangsbuchstaben zusammen gestorben. Jeden Tag denke ich an den Tod. Ich lauere einer Katastrophe auf.”

Die Angst vor dem Tode ist die Angst vor dem Leben. Die Zuflucht in die Angst bedeutet hier eine Art Tod im Leben. Violette greift zum Nicht-Sein, um einem katastrophalen Tod auszuweichen. Wenn die Mutter (oder die Eltern) das Kind zu eigenen Zwecken ausnutzen, es ablehnen oder vernachlässigen, bekommt das Kind das Gefühl, daß es sich auf ihre Unterstützung nicht verlassen kann, wenn es die eigene Unabhängigkeit probt. Infolgedessen wird es sich an die Mutter (oder an die Eltern) klammern und sein Unabhängigkeitsbedürfnis nur in der Form von Negativität und Eigensinnigkeit ausdrücken.

Violette etwa fühlte sich als uneheliches Kind von der feindseligen Mutter abgelehnt. Daraus leitete sie ab, sie hätte kein Recht zu existieren (“ich war eine Fliege auf einem weißen Wäschestück” ). Ihre Aggression, wenn sie schrie: “Ich will nicht, daß man mir hilft”, war eine Reaktion auf die Frustration oder das Bedrohungsgefühl, das sie empfand, wenn die Mutter sich mehr für Krankheiten und Mißerfolge des Kindes interessierte und für die Zukunft schwarze Prognosen zeichnete. Einer positiven Veränderung gegenüber blieb die Mutter aber gleichgültig, auf die Freude des Kindes antwortete sie negativ: “Beim Frühstück unterhielt mich meine Mutter mit den Häßlichkeiten des Lebens. Sie gab mir jeden Morgen ein schreckliches Geschenk: das des Mißtrauens und des Verdachts.”

Violettes Lebensfreude wurde erstickt. Mütter wie die ihre bringen ihren Kindern den Tod. Ihre Angst vor Krankheit und Tod trägt dazu bei, daß ihre Kinder Angst vor dem Leben bekommen und eine nekrophile Neigung entwickeln. Violettes Metaphern sind das beste Beispiel dafür. Sie deuten auf Krankheit, Tod, Verfall, Leichen, Blut hin. Ihre Essensverweigerung wirft sie auf ihr erstes Lebensjahr zurück. Hier steht das hilflose prä-verbale Kind, das sich in jedem von uns verbirgt.

 

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