3.2 Das Spiel mit der Mutter

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter

Mit etwa sechs Monaten probt das Kind das selbständige Loslassen von der Mutter. Es vergewissert sich dabei jedoch, daß die Mutter immer in Reichweite ist. Diese Reichweite wird mit zunehmendem Alter und Vertrauen größer. Das Wissen, das die Mutter existiert, auch wenn sie kurz fortgeht, nennt man Objektkonstanz.

In der Abwesenheit der Mutter besitzt das Kleinkind ein Objekt, ein Stückchen Wolle, eine Decke, ein weiches Stoff- oder Plüschtier, das es zum Mund führt und eine Verbindung mit der Mutter, ein Übergangsobjekt zwischen ihm und dem mütterlichen Körper, darstellt. Später wird der Säugling seinen “Übergangsraum” und “Spielraum” haben. Der Übergang von der Tastwahrnehmung (Warze im Mund) zur Fernwahrnehmung (Gesicht der Mutter fixieren) ist entscheidend für die Ausbildung der Objektkonstanz. Bei eßgestörten Frauen hat Göckel beobachtet, daß “sie in ihren Beziehungen eine geringe Frustrationstoleranz haben. Sie verkraften Trennungen sehr schlecht, es ist, als ob ihre ‘Batterie’ sehr schnell leer wäre, weil ihnen das Vertrauen fehlt”. Die Objektkonstanz hat sich nicht entwickeln können.

Maryse Holder und Marie-Victoire Rouiller haben als Kleinkinder eine Trennung von der Mutter erlebt. Wie sie reagieren viele Magersüchtige depressiv auf Trennungen von Partnern oder Freunden. Abschied nehmen, macht ihnen große Schwierigkeiten. Vom Meer erzählt Maryse:

“Betrunken und mit geschlossenen Augen konnte ich mich endlich dieser passiven Aktivität hingeben, nach der ich mich sehnte – ein Leben ohne Anstrengungen. Jedesmal, wenn ich rausschwamm, wußte ich nicht, ob ich absinken oder zurückkommen würde.”

In dem neuen Land Mexiko hoffte sie, in der Anerkennung durch die mexikanischen Männer den besonderen Gefühlsraum zu erleben, der normalerweise zwischen Mutter und Kind entsteht, und der das Gelingen der Trennung/Individuation möglich macht. In ihrer frühen Kindheit hatte sie weder Vertrauen noch Zuversicht, weder Freude noch Liebe zur Realität erlebt. So gelang ihr nicht der Übergang zum Bewußtsein des Andersseins und damit zur Herstellung einer Grenze zwischen innen und außen:

“Wir brauchen Raum” hatte sie Miguel gesagt. “Raum, in dem sich unser Geist und unsere Sexualität entfalten können, Raum für unsere Spiele – er auf einem Stuhl, mich auf seinem Schoß festhaltend (…) Raum für unser Bewußtsein.”

Ihr Hunger nach Männern und ihr Durst nach Alkohol ließen erkennen, daß sie im Grunde genommen auf eine narzißtisch-orale Entwicklungsstufe fixiert war und sich der Objekte, die sich ihr früher entzogen hatten, bemächtigte bzw. mit ihnen fusionieren wollte. Das Trinken machte sie “besonders glücklich” , was heißt, daß “die orale Einverleibung, wohl aber auch die narzißtische Verstärkung durch die Einnahme dieser Art ‘Muttermilch’ entscheidend zum Trinken beiträgt.”

Die Einverleibung, die vorwiegend mit der Aktivität des Mundes und der Nahrungsaufnahme im Zusammenhang steht, gehört zum psychischen Prozeß der magischen Wiedererlangung des verlorenen Objekts, der Kompensation des Verlusts. Die Nahrungs- und manchmal Alkoholzufuhr wäre in diesem Fall wie eine anschauliche Mimesie der Einverleibung, die nicht stattgefunden hat. Was die Tochter mit der Nahrung (Verschwinden/Erscheinen im Fall des Erbrechens) und ihrem eigenen Körper macht, der “anschwillt und abschwillt” wie ein Luftballon, sowie das Versteck-Spiel mit der Mutter bringt Aimez und Ravar auf den Gedanken, daß die Nahrung und der eigene Körper gewissermaßen wie Übergangs-, Transaktions-, Handelsobjekte mit der Mutter manipuliert werden. Das “Spiel mit der Mutter” wird zu einem aktiven Mittel, geistige Leere zu beschwören und dabei mit der Mutter auf eine aggressive Weise das zu früh unterbrochene Band wieder anzuknüpfen. In dieser Bewegung des Hin-und-her, die die nicht zersetzte, nicht gekaute verschlungene Nahrung ausführt, können wir eine Analogie sehen mit dem von Freud beschriebenen Spiel mit der Spule, das dem Kind suggeriert, es sei der Herr des Spiels und fähig, ganz nach seinem Belieben die Sequenz Erscheinen/Verschwinden des mütterlichen Objekts von neuem zu schaffen.

Meist bekam die Magersüchtige als Kind statt Zärtlichkeit etwas zu essen. Die Folge ist ein Verlassenheitssyndrom. “Die Symptomatologie dieses Syndroms bietet beim ersten Hinsehen nichts streng Spezifisches: Angst, Aggressivität, Masochismus, Selbstunwertgefühl.” All diese Zeichen waren besonders ausgeprägt bei Maryse Holder. Sie schrieb:

“Ich fühle mich total wertlos, eine Wertlosigkeit, die ich auf alle anderen ausdehne, denke, wir wären alle nichts als Oberfläche, hübsch oder nicht hübsch, und darunter dieselbe Leere.”

Diese Gefühle müssen nicht notwendigerweise wie bei Maryse mit einem realen Verlassenwerden von der Mutter, sondern können mit einer affektiven Haltung der Mutter, die als Liebesverweigerung empfunden wird, verbunden sein (z.B. “fausse présence” = Schein-Anwesenheit der Mutter). Die Mutter muß keine “Rabenmutter” sein, die Ursachen dieser vom Kind erlebten Verlassenheitsgefahr sind häufig ganz andere: Müdigkeit, Überarbeitung, Zeitmangel, Sorgen, Krankheit, eigene nicht verarbeitete Probleme der Mutter. Es wird von vielen Psychotherapeuten behauptet, daß Magersüchtige wie ihre Familien ein eindeutiges “Profil” aufweisen. Dabei werden aber selten die kulturellen Differenzen berücksichtigt. Eine italienische Mutter zum Beispiel wird mit ihrer Tochter anders umgehen als eine deutsche oder eine französiche Mutter, und auch innerhalb des gleichen Landes sind die individuellen Gegensätze groß. Auf einer Seite findet man die asketische, kühle, leistungsbezogene Mutter und auf der anderen Seite die überbesorgte Glucke; auf der einen Seite den schwachen, nichtssagenden Vater und auf der anderen Seite den furchterregenden Tyrann. Zwischen diesen Extremen gibt es natürlich viele Schattierungen. Zudem ist die Magersucht nicht mehr wie früher auf die Oberschicht beschränkt. Sie wird schrankenlos, vom Mittelstand bis zum städtischen Kleinbürgertum und der Arbeiterschicht. Sogar in ländlichen Gebieten wie Sardinien ist sie sehr stark verbreitet. Die Magersucht ist eine pathologische Störung multifaktorieller Ätiologie (die Begegnung und die Addition mehrerer begünstigender, überstürzender und verstärkender Faktoren, die allein über die Entstehung und die Aufrechterhaltung der Pathologie Rechenschaft ablegen können). Bulimiker, Anorektiker, Alkoholiker, Drogenabhängige und Melancholiker beider Geschlechter (wobei es nicht selten ist, daß sie von einer Phase zu einer anderen übergehen), alle haben ein mehr oder weniger konfliktuelles, ambivalentes, affektiv überlastetes Verhältnis zu ihrer Mutter – ob zu der aktuellen oder der archaischen. Je archaischer ein Konflikt ist (das ist der Fall des oralen Konflikts), desto mehr besteht die Möglichkeit, daß dieser Konflikt bei vielen Menschen Spuren hinterläßt. “Denn Schooß ist Alles”, sagte einmal Rilke.

Am Beispiel von Maryse Holder läßt sich dies am deutlichsten aufzeigen. Durch eine extrem vernachlässigte Kindheit hatte sie keine Gelegenheit zum Aufbau einer soliden Selbstrepräsentanz und zur Heranbildung einer realitätsangepaßten Objektrepräsentanz erhalten. Sie strebte deshalb zeit ihres Lebens nach jener totalen Fusion mit einem Objekt, um damit diese frühe, von Winnicott geschilderte Objektbeziehung nachzuholen und sich so auch eine größere Selbstsicherheit zu verschaffen. Da sie aber nie das früh Versäumte nachholen konnte, blieb sie fixiert auf ihre bedingungslosen Fusionswünsche. Maryses Suche nach einer symbiotischen Beziehung drückte sich in der Freundschaft zu ihrer Freundin Selma Yampolsky aus. Schon in der Jugendzeit fühlte sie sich von ihr abhängig, jede war außerdem immer in den Freund der anderen verliebt. Ihre Leere und Langeweile füllte sie mit Projektionen und Imitationen: “Die Amouren meiner Freundin sind auch meine Amouren”. Sie lebte das Leben der anderen mit, war angewiesen auf deren Reaktionen, um überhaupt zu existieren. Auf eine frühere Selbstmordanzeige von Selma antwortete Maryse aus Paris 1966: “Deine Briefe erwecken in mir den Wunsch, mit dir zu sterben. Du höhlst mich allmählich aus. Ich werde zu einer völlig schwerelos schwebenden Sache. Ich war immer nur das, was du in mich hineinlegtest.” Später wurde ihre innere Entleerung auf ihr Körperbild übertragen:

“Und warum empfand ich nichts? (…) Ich habe Angst, abstoßend zu sein. Kann also nur noch Behälter sein – für seinen Schwanz und seine Worte. Und seinen Charme und seine Schönheit.”

Die Angst weckte in ihr Haß und Todesgedanken:

“Wie hübsch hätte es sein können – das Messer im Bauch, das ich aus purer Feigheit nicht mehr herausziehe, ich wühle durch seine Gedärme, rasend und voller Wonne und gleichzeitig ein Meer von Tränen vergießend.”

Der Wunsch zu töten, getötet zu werden, durchläuft wie ein Fieber ihre letzten Briefe: die Faszination, die der mexikanische Mann ausübt, der bis zum Mord liebt, die erotische Anziehung, die bis zur Identifikation mit dem anderen geht und die zum Verlangen wird, der andere zu sein, und damit selbst getötet zu werden, erinnern sehr an die Werke von Marguerite Duras: “Du tötest mich, du tust mir Gutes.” (aus “Hiroshima mon amour”) Ihr Verlangen nach dem Körper des Liebhabers war aber eigentlich ein Verlangen nach dem Körper einer Liebhaberin: eine Haut wie Chagrinleder, tief braun und makellos, und Maryse hatte noch nie “so etwas Glattes; Festes, Feinstrukturiertes berührt.” Sie sehnte sich danach, ihn sich einzuverleiben. Den anderen nähren, sich an ihm nähren, unersättlich sich an ihn schmiegen: hier drückt sich ein nostalgisches und verzweifeltes Verlangen aus, das wir auch in den bemerkenswerten Briefen von Marie-Victoire Rouiller an ihre Tante wiederfinden:

“Lassen Sie mich in sich verschmelzen, mich in Ihrem Schoß vergraben, mir eine Höhle in Ihren Armen errichten, lassen sie mich meinen Hauch in Ihrem Atem finden, mir eine Sprache aus den Liebesworten erfinden, die Sie mir nie gesagt haben; lassen Sie mich meine Augenlider unter Ihren Küssen vernähen, damit ich mich endlich in Ihrem Blick sehe.”

Die wiederholte Bitte um Liebe und um Einverleibung (durch die Haut, die Atmung, das Sehen) an die allmächtige, bewunderte, geliebte Tante (hier der Ersatz der Mutter) suggeriert schließlich, daß in der Frühkindheit etwas nicht zur Genüge gespielt wurde. Die Folge ist eine dauernde, mit unbefriedigten Abhängigkeitsbedürfnissen und Selbsthaß gemischte Vorwurfshaltung. Das Minderwertigkeitsgefühl ist wiederum die Antwort auf die realen oder phantasierten Schäden, die das Kind erleiden kann: Liebesverlust und Kastration. Gemäß Freud fühlt sich das Kind minderwertig, wenn es merkt, daß es nicht geliebt wird, und ebenso der Erwachsene. Marie-Victoire akzeptierte keine Dualität, weil sie die Bedrohung der Trennung in sich trug. Jeder Bruch ließ auf eine unerträgliche Weise das frühkindliche Drama wieder aufleben: den Tod ihrer Mutter sofort nach ihrer Geburt. Auch in der Liebe war daher kein Austausch mehr möglich.

“Ich habe Angst, verlassen zu werden”, ist das Leitmotiv auch vieler magersüchtigen Frauen. “Du willst mich zerstören”, sagte Gabriel, Violette Leducs Ehemann, zu ihr. “Ja. Um zu eliminieren, was sie unterscheidet, und um sich zu rächen, da sie zusammen kein Einzelwesen bilden konnten”, sagte Simone de Beauvoir hierzu. Wenn Violette verlassen wurde, geriet sie in Verzweiflung (wie früher mit vierzehn Jahren, als ihre Mutter heiratete), obwohl sie selbst es herbeigeführt hatte. Insgeheim hatte sie diese Liaison zu Gabriel, diese Heirat, immer brechen wollen, weil sie auf ihre eigene Destruktion hinzielte, weil sie “die sich selbst verzehrende Gottesanbeterin” war.

In der Geschichte jeder jungen magersüchtigen Frau, in der Geschichte ihrer ersten Beziehungen zum mütterlichen Objekt, ist diese Art von “Ichstörung” zu suchen, die später dann zu den sich aufdrängenden Gefühlen der Leere, der Sinn- und Wertlosigkeit führen kann. Auch die Figuren aus Valérie Valères Romanen empfinden ein kontinuierliches Gefühl von Depression und auszufüllender Leere und die Unmöglichkeit, das Leiden in Worten auszudrücken:

“Ich versuche, in meinem Inneren den Anflug meiner Gedanken zu befreien, aber ich finde nur eine immense, schwarze Gestalt, das Schwarze der Nacht.”

Valérie ähnelt einer Melancholikerin, deren Selbstaggression sich in Wirklichkeit auf ein verlorenes Objekt richtet, mit dem sie sich identifiziert. Melancholiker haben die gleichen Schwierigkeiten wie Magersüchtige, sich einer Person gegenüber zu stellen, die sich im realen Leben von ihnen abhebt, von ihnen abgetrennt ist. In der Magersucht wie in der Melancholie wird die gleiche unmögliche Trauer um das mütterliche Objekt – sei es gehaßt oder geliebt, verachtet oder idealisiert – und die gleiche Ambivalenz dem Objekt der Trauer gegenüber aufgedeckt: “Weil ich es liebe, trage ich es in mir, um es nicht zu verlieren, aber weil ich es hasse, ist dieses andere Objekt in mir ein böses Ich, ich bin böse, ich bin wertlos, ich bringe mich um.”

Einige magersüchtige Frauen haben diese Interpretation von der Mutter in ihrem eigenen Körper bestätigt. “Ich trage immer ein Idol in mir, und es müßte meine Mutter sein”, sagte einmal eine Patientin von Kestemberg in einer ergreifenden Umkehrung der schwangeren Mutter, um die Fusion mit ihr wiederzufinden. Diese Phantasie kommt häufig in Zeichnungen von Bäumen zum Ausdruck. Magersüchtige Frauen skizzieren gern Höhlen in Stämmen (Symbol ihrer Körperbildes), in denen sich entweder eine Eule oder ein Vogel mit großen, offenen Augen (Inquisitionssymbol einer wachsamen, allgegenwärtigen Mutter) eingenistet hat. Da sie die Mutter in sich tragen, wendet sich der Haß nicht nach außen, sondern er verschließt sich in ihnen. Sie verhalten sich infolgedessen, als ob sie keine Zähne hätten, damit die introjizierte Mutter intakt, isoliert als Fremdkörper im Organismus bleibe. Im Fall der Bulimie wird das Mutterobjekt vollständig verschlungen, aber nicht zerstört. In beiden Fällen, in der Anorexie wie in der Bulimie, wird es jedoch nicht assimiliert; es bleibt lebendig und intakt.

 

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