3.1 Die ernährende Mutter

<<< Kapitel 3: Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit mit der Mutter

Die Natur erscheint vielen Schriftstellern als eines der Gesichter der Sehnsucht nach dem verlorenen mütterlichen Paradies. Virginia Woolfs Werk “Orlando” ist erfüllt von pantheistischem Geist und Sinnlichkeit. Tania Blixen “gibt sich der ‘Stille der Nacht’ hin und apostrophiert die Elemente als ihre Freunde. Die mächtige Stimme des Meeres ruft nach ihr, und der ‘unbändige Wind’ ist ihr Bruder. Schon in früheren Jahren bezeichnete sie sich selbst als Pantheistin.”

Für jeden von uns ist die Natur eine Verlängerung unseres primären Narzißmus, schreibt Bachelard. Violette Leduc sah in Simone de Beauvoir ihre “Lieblingslandschaft”. Die Erinnerung an die Einsamkeit französischer Landstraßenkreuzungen beklemmte sie. Die immense Sehnsucht nach einem archaischen Objekt, an dem man hängt, wirft einen wie ein Spiegelbild auf die Leere, die Kleinheit und die Verlassenheit der öden Wege zurück und bedeutet zugleich die Abwesenheit der Mutter und die existentielle Einsamkeit des Kindes. Gefühlsmäßig ist die Natur eine Projektion der Mutter. In ihrer psychoanalytischen Studie über den Zyklus der Mutter-Landschaft fügt Marie Bonaparte hinzu, daß das Meer im besonderen eines der großen und beharrlichsten mütterlichen Symbole für die Menschen ist.

Das immer wiederkehrende Bild des Meeres in den verschiedenen Werken von Virginia Woolf, Valérie Valère und Maryse Holder hat auch autobiographische Bedeutung. “Das Meer ist ein Wunder”, schrieb Virginia 1908, “das mir mehr zusagt als jedes menschliche Wesen”. Was Maryse am Meer fand und von dem sie annahm, daß sie es von ihrer Mutter gebraucht hätte, war die symbiotische Verschmelzung:

“Wieder im Wasser zu sein war so, als ob ich wieder mit meiner Mutter, meinem eigentlichen Element vereint wäre. Wasser, überall nur Wasser (…) Konnte mich nicht davon trennen.” Sie sah sich als “eine Tochter des Meeres” an: “Mutter Mar sprach mir Trost zu, nahm mich auf, badete mich, machte mich frei, sauber, stark, schlank und geschmeidig”. Maryse fühlte sich dann wie neu geboren.

Die Liebe zu einem Bild veranschaulicht immer eine alte Liebe, und wir finden dafür, ohne es zu wissen, eine neue Metapher. Die Liebe zum Meer gibt einen materiellen und einen objektiven Sinn für die unbegrenzte Liebe zur Mutter. Nach Bachelard ist jedes Wasser eine Milch. Sobald man von ganzer Seele eine Wirklichkeit liebt, heißt dies, daß die Wirklichkeit eine Erinnerung ist.

Zu einer gesunden Entwicklung benötigt das Kind die “Spiegelung” durch die Mutter, will von ihr gesehen, verstanden, ernst genommen werden. Eine junge Magersüchtige nannte einmal ein Schmuckkästchen voller Muscheln “Meeresspiegel”, was nichts anderes bedeutete als “eine Mutter (mer/mère) – ein Spiegel”. Spiegelung bedeutet, die Reaktionsweisen des Kindes, seine Gefühle und Wahrnehmungen zu erkennen und sie ihm verbal zu vermitteln. Wenn das Kind nicht gespiegelt wird, wird es ausgebeutet, weil es für die Eltern bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen besitzen soll, die gegen seine Natur oder seine Eigenart sind. Diese speziellen Wünsche und Forderungen an das Kind bestehen häufig schon vor seiner Geburt, spätestens aber, wenn es auf die Welt kommt. In diesem Fall findet das Kind im Antlitz der Mutter nicht sich selbst, sondern die Not der Mutter. Es selbst bleibt ohne Spiegel und wird ihn in seinem späteren Leben vergeblich suchen.

Nach Raymond Battegay liegt die Grundlage der “Hun-gerkrankheiten” zu einem großen Teil in einer nicht geglückten Mutter-Kind-Beziehung, die sich in mangelnder Liebe und fehlendem Einfühlen in den Säugling oder in Verwöhnung und Überbehütung äußert. In beiden Fällen fühlt sich das Kind gefühlsmäßig “im Stich gelassen” und enttäuscht, weil es nicht so anerkannt und geliebt wird, wie es ist. Die Phantasie der Verschmelzung aber, die Sehnsucht nach der verlorenen Osmose mit der Mutter gehen in den Texten der von uns untersuchten Schriftstellerinnen Hand in Hand mit dem Wunsch nach Distanz und Trennung. Mit der Zurückweisung der mütterlichen Speise wollten sie sich von der Mutter abgrenzen, im Eßanfall zu ihr regredieren. “Entweder Alles oder Nichts” war das Leitmotiv ihres Liebeshungers, und das betraf alles: ihre Ansprüche an Männer und Frauen und an sich selbst. Wir werden alle von einer Frau geboren, und wir wünschen uns, in ihren Schoß zurückzukehren, wenn die Realität zu hart wird. Wir kommen zwar vorwärts, drehen uns dennoch auf dem Weg, der uns von unserer Kindheit entfernt, unaufhörlich um.

In den folgenden Abschnitten werden wir zeigen, wie die Anorexie und die Bulimie sich an die Mutter als erste Lebenspartnerin wenden, die Mutter, mit der lange vor der Sprache durch Blicke und Berührungen die erste menschliche Begegnung etabliert wird, und die Spenderin allen Wohlbefindens (und aller Verzweiflung) ist. Die leidenschaftliche Feindseligkeit, die manche magersüchtige Frauen gegen die Mutter hegen, ist der Grund für ihre Tobsuchtsanfälle und für ihre Verzweiflungs- und Rachegefühle: Rache an der Mutter einerseits, nicht als unmittelbare Rache, sondern als mittelbare, vermittelt über den eigenen Körper, der unbewußt als noch zu der Mutter gehörend, als ihr Substitut, empfunden wird; Wiedergutmachung (oder deren Versuch zumindest) einer Kränkung oder einer Leere in der Kindheit andererseits, die durch die pubertären Veränderungen, den Verlust eines geliebten Menschen (Tod, Trennung) neu belebt werden, und die dann durch das Streben nach einem Zustand narzißtischer Fülle und spiegelbildlichen “Jubilierens” aufgefangen werden müssen. Dieser Zustand wird von Nicole Châtelet beschrieben: “Marie-Claude irrte mit Entzücken mitten in der Landschaft ihres Körpers herum. (…) Die Gewißheit ihrer Allmächtigkeit erfüllte sie mit Stolz. ‘Ihr Werk!'”

Leider erweist sich bald der Versuch, das narzißtische “Loch” des Körpers mit Hilfe der Nahrung auszufüllen, absurd. Wie Tantalus wird die Bulimikerin zur Wiederholung der Unzufriedenheit verurteilt. Durch ihre anarchische, rasende Nahrungszufuhr erhält sie sorgfältig einen “Mangel” aufrecht, dessen Mangel (“der Mangel des Mangels”) eine entsetzliche Leere entlarven würde. Die Anorektikerin hingegen weist den “Mangel” zurück, den sie durch die Leere beschwört. “Es mangelt mir an nichts, also esse ich nichts”, fordert den elterlichen Schlüssel-Satz heraus: “Worüber klagst du? Es mangelt dir an nichts!”, und scheint alles in Frage zu stellen, was lange Zeit über “den Ekel vor den Nahrung” geschrieben wurde. In Wirklichkeit drückt die Anorektikerin unmittelbar aus, daß die Nahrung selbst keine Rolle für sie spielt. Was für sie wichtig ist, ist das Hungergefühl, das bei der Essensverweigerung entsteht. Kestemberg, Kestemberg und Décobert machten sogar aus der Suche nach dem Hunger ein spezifisches Zeichen der Magersucht, da die Anorektikerinnen Abführmittel nehmen und sich zum Erbrechen zwingen, um sich wieder leer und hungrig zu fühlen.

An dieser Stelle müssen wir noch einmal betonen, daß Magersüchtige immer “Ausgehungerte” sind. Ihr Heißhunger ruft die Vorstellung eines enormen Körpers hervor, der auf Kosten ihres Ichs wächst. Für die Magersüchtige ist “Körper-sein” gleichbedeutend mit “Ding-sein”. Wenn der Körper wächst, wächst auch das “Ding”, und die “Person” beginnt zu schrumpfen. Der Kampf gegen den Körper ist der Kampf gegen die Mutter, die sich wenig um ihre Seele gekümmert, sie dafür aber wie eine Gans gestopft hat.

Die Problematik der Magersucht scheint also die der Selbstzugehörigkeit, der Bestimmung eines “eigenen” Raums, eines “eigenen” Handelns zu sein. Sie weist auf Winnicotts Werk hin, auf die Suche des Säuglings nach einem Übergangsobjekt und -raum zwischen Mutter und Kind, die es ihm ermöglichen, sich von seiner allzu großen Abhängigkeit zu befreien. Das anorektische wie das bulimische Verhalten haben nämlich zum Ziel, ein archaisches, mächtiges und präverbales Band mit der Mutter wiederherzustellen. Das von Aimez und Ravar “Spiel mit der Mutter” genannte Spiel wird dies veranschaulichen.

 

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