2.9 Die neuen Kastraten

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Das in Neapel von den Kastraten verkörperte Bild einer ursprünglichen geschlechtlichen Einheit, die wir heute in den neuen androgynen Idolen wiederfinden, hat einen sexuellen Ausdruck, der meist als Unschuld oder als zurückzueroberndes goldenes Zeitalter dargestellt wird. Die “Moral” dieser Geschichte ist: die Dualität der Scheinwelt, in der wir leben, ist falsch (= phallsch). Sie ist ein Trugbild und macht den Zustand der “Sünde” aus.

“Seelenheil” gibt es nur in der Rückkehr zur grundsätzlichen Einheit, die im Fall der Magersucht bis zur Selbstzerstörung des Begehrens und der Verdrängung des mütterlichen Prinzips gehen kann. In der Perfektion der Künstlichkeit hatten die Kastraten eine grenzenlose Grazie, die eher verführerisch war denn sexuell. Alles spielte sich im Schwindelgefühl oder in der von ihren Stimmen hervorgerufenen Ekstase ab, dank derer die Napoletaner sich von der kriegerischen spanischen Herrschaft freizumachen versuchten. Wie oben angedeutet, lassen sich heute ähnliche Phänomene beobachten. Auch die provozierende Transsexualität des jubelnden und sich selbst gestaltenden Sängers Michael Jackson preist den Zusammenbruch der symbolischen Ordnung. Unantastbar entfliegt der androgyne Michael in einem Video dem Pharaon (dem ‘symbolischen Vater’), verwandelt sich in eine Säule aus goldenem Sand, in eine phallische Statue und löst sich schließlich ins Nichts auf. In “Black or White” läßt er die Männer zu Frauen werden und sich selbst zu einem schwarzen Panther. Diese und ähnliche Metamorphosen weisen auf den Glauben an die grunsätzliche Einheit des Menschen hin: weder das eine noch das andere Geschlecht sei er, er vereinige stattdessen beide Geschlechter in sich und integriere das Tier bzw. die Natur des Instinkts in sein Leben. Er macht sich dadurch zur Verkörperung eines Schönheitsideals, dessen Ästhetik jenseits der Geschlechtlichkeit und jenseits der Rassendifferenz liegt: weder schwarz noch weiß, vermischen sich bei Michael neuerdings das Weiße und das Schwarze in einer undifferenzierten Blässe. Das Wunschbild, ein kleiner Junge zu bleiben (siehe die immer zu kurzen Hosen), wird aufgegeben und wie in der Magersucht durch das Ideal ersetzt, ein geschlechtloses und reines Wesen bzw. eine Art “Kastrat” zu sein. Man vergleiche hiermit die Phantasie von Valérie Valère:

“Ich will ein Junge sein, ohne Brust, ohne Eierstöcke, aber auch ohne Glied” , schrieb sie ähnlich wie Virginia Woolf, die ihrerseits behauptete, daß es großartig sei, “ein Eunnuch zu sein, wie ich es bin”.

Freud ging noch ein Stück weiter, wenn er annahm, daß alle Menschen mit bisexuellen Neigungen geboren würden und von der großen Rätselhaftigkeit der biologischen Tatsache der Zweiheit der Geschlechter sprach. Er spürte aber, daß dieses Problem nicht durch die Psychoanalyse gelöst werden könne, obwohl diese im Seelenleben der Menschen viele Reaktionen von dem, was er “diese große Antithese” der Geschlechter nannte, aufdeckte. Belege für die Universalität der Bisexualität lassen sich jedenfalls auf der organischen wie auf der psychischen Ebene finden. Im Hinblick auf die erstere schrieb Freud in seinen “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie”:

“Ein gewisser Grad von anatomischem Hermaphroditismus gehört nämlich der Norm an; bei keinem normal gebildeten männlichen oder weiblichen Individuum werden die Spuren vom Apparat des anderen Geschlechts vermißt.” Auch bei der Entwicklung seiner Libidotheorie hat das Konzept der Bisexualität eine wichtige Rolle gespielt. Bereits in einem Brief an Fließ hatte er geschrieben: “Ich gewöhne mich auch, jeden sexuellen Akt als einen Vorgang zwischen vier Personen aufzufassen.” Dies erinnert zwangsläufig an die androgyne indische Göttlichkeit Shiva mit ihren vier Armen. Die zwei Geschlechter existieren in Shiva wie in jedem von uns. Die Welt ist zweigeschlechtlich, eine neue Entdeckung des Abendlandes, in Indien jedoch ein seit Jahrtausenden wesentliches Konzept. Freud stellte fest, daß die sexuelle Konstitution eines Menschen sich aus der ursprünglichen Bisexualität herausbildet und die normalen Sexualäußerungen sich nicht verstehen ließen, ohne der Bisexualität Rechnung zu tragen.

Unsere Libido schwankt lebenslang zwischen dem männlichen und dem weiblichen Objekt. Gerade da liegt auch das Problem der Magersucht: die Magersüchtige ist weit davon entfernt, die Geschlechter in sich zu vereinen, wie ihr Ich-Ideal es bereits macht. Wie die “Orlando” von Virginia Woolf fühlt sie sich entzweit. Nach der Beendigung dieses Werkes, das als Liebesgeständnis an Vita Sackville-West verstanden wurde, fiel Virginia in eine tiefe Depression. Anschließend schrieb sie aber einen ihrer besten und ausdruckvollsten Essays “Ein Zimmer für sich allein”, in dem sie die Schranken zwischen den Geschlechtern mit Humor und Bitterkeit denunzierte, die durch das männliche Joch und die viktorianische Erziehung aufrechterhalten wurden. Zweifellos ist ihr Essay das schmerzhafte Echo, das auf Orlandos wundersame Verwandlung antwortet, jene Verwandlung, zu der die Frauen nicht fähig sind. Virginia Woolf schwankte also lebenslang zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, zwischen der Selbstanalyse und dem Verlust ihres Selbst, dem Wunsch zu bestimmen und ihrer Sehnsucht nach Verschmelzung. In der Identifizierung mit Orlando dachte sie, daß der Schriftsteller oder die Schriftstellerin die gleichen Wechselfälle wie ihre fiktive Figur durchzumachen habe. Die Kunstschrift mache sich das Schicksal des Androgynen zu eigen, denn allein die Kunstschrift sei in der Lage, die Geschlechter zu transzendieren.

In den schlimmsten Zeiten ihrer Depressionen mußte Leonard Woolf wochenlang bei fast jeder Mahlzeit oft eine Stunde oder länger bei Virginia sitzen und versuchen, sie dazu zu bringen, ein paar Happen zu essen. “Ganz tief in ihr war die Verweigerung, etwas zu essen, mit einem seltsamen Schuldgefühl verbunden”, schrieb Leonard in seiner Autobiographie. “Sie behauptete, sie sei nicht krank, sondern ihr Geisteszustand sei auf ihre Fehler zurückzuführen – Faulheit, Antriebslosigkeit, Unersättlichkeit.” Sie führte also ihren Wunsch zu hungern auf das Bedürfnis zurück, ihren nicht zu stillenden Appetit unter Kontrolle zu halten. In Zuständen von Trennungsschmerz (Virginia versank in der Depression jedes Mal, wenn sie mit einem Werk fertig wurde) begegnen wir in der Tat der völligen Essensverweigerung (Ablehnung jedes Mutterersatzes) ebenso häufig wie der Gier nach Nahrung (symbolischer Ersatz der Mutterliebe durch orale Befriedigung am Essen). Nicht die Nahrung flößte Virginia Angst und Furcht ein, sondern vielmehr der Akt des Essens, den sie als bedrohlich empfand. “Die Gleichzeitigkeit, mit der der verzweifelte Wunsch nach Nahrung und der Ekel davor erlebt wurde, legt die Vermutung nahe, daß der ursprüngliche Konflikt, den die Besessenheit der Magersucht verdeckt, der Widerstreit zwischen Abhängigkeits- und Unabhängigkeitsbedürfnissen sein könnte, der Widerstreit zwischen dem Wunsch, umsorgt zu werden und dem Wunsch, allein zurecht zu kommen”, vermutet M. Lawrence. Die Ablehnung oraler Befriedigung (und damit die Verleugnung des Bedürfnisses nach Nahrung) würde in diesem Fall unmittelbar aus dem Gefühl resultieren, daß eine solche Befriedigung dem Bedürfnis nach Sicherheit, Autonomie und Effektivität zuwiderläuft. Als Virginia in ihrer Verteidigungsrede schrieb, daß jede Schriftstellerin “ein Zimmer für sich allein” benötige, “meinte sie nicht nur den physischen Raum für eine ruhige und fruchtbare Arbeit, sondern auch den geistigen Raum und die Freiheit zu schreiben.” Ihr Hungerstreik könnte tatsächlich das Fehlen eines solchen Raumes zum Ausdruck bringen, ein Zeichen für “die mangelnde private Sphäre” , die sie schon in ihrer Jugend mit ihrer Familie erlebt hatte. Das unerklärliche, obskure Gefühl fataler Machtlosigkeit, das sie zur Verzweiflung brachte, hinderte sie offenbar, über ihr Leben zu bestimmen. Daher bestimmte ihr Mann schließlich sogar über ihren Körper. Er wog sie regelmäßig und schrieb die Ergebnisse in sein Notizbuch. Nach dem ersten Selbstmordversuch führte er zehn Jahre lang über Virginias Menstruationsperioden Buch. 1913 lagen einmal 98 Tage zwischen zwei Perioden, als Virginias Gewicht einen Tiefpunkt erreichte. Leonard achtete darauf, daß sie keinen Vorwand zum Nicht-Essen hatte, da sie ihr geistig-seelisches Gleichgewicht “nur durch viel Ruhe und Regeneration ihrer körperlichen Kräfte wiedergewinnen” könne.

Die Muttergestalt war in Virginias Denken zeit ihres Lebens dominierend. “Bis ich in den Vierzigern war”, schrieb sie, “war ich von der Gegenwart meiner Mutter besessen”. Als ihre Mutter starb, erlitt sie einen doppelten Verlust an Sicherheit: ihre Mutter war nicht mehr da, und statt ihr eine Stütze zu sein, beanspruchte der Vater ihr ganzes Mitgefühl und das der restlichen Familie. Virginia aber wollte bedingungslos geliebt werden. Sie wollte, daß ihr Mann für sie verfügbar sei, auch wenn sie während ihrer schlimmsten Krisen schrie, daß sie ihn nicht sehen wolle und daß sie alle Männer hasse.

Dieses Beziehungsmuster der Haßliebe gleicht der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Haß und Wut sind charakteristische Züge des Ichs, das sich zu behaupten versucht. Nach Laing und Cooper entspringt der Haß einer Weigerung, mit der das Ich der Außenwelt begegnet, zugleich aber auch einer Abwehr gegen die Zerstörungsangst, die die Trennung von der Mutter verursacht. Die Magersüchtige ernährt sich vom Haß. Der Haß rückt an die Stelle der pathologischen Illusion der Liebe und des Begehrens, die im Grunde nur mit den alten Rachegefühlen abrechnet. “Viele Mütter neigen dazu, die Tochter mehr noch als den Sohn als Teil des eigenen Selbst zu sehen, und das führt dazu, daß sie die Eigenart der Tochter und ihre individuellen Bedürfnisse ungenügend wahrnehmen”, schreibt Mitscherlich. Es besteht dann die Gefahr, daß die Tochter eine übergroße Abhängigkeit entwickelt, die ausgenutzt werden und folglich Haß erzeugen kann. Nach Christiane Olivier hat die Mutter die einmalige Möglichkeit, an den alten Traum der Menschheit, an die Bisexualität des Menschen zu glauben, die meist durch die griechische Skulptur der Sphinx in der Form des Androgynen dargestellt wird. Das Drama des kleinen Mädchens spiegelt sich in diesem Ausgeschlossenwerden und in diesem Entrissenwerden wider, ferngehalten von der Mutter. Wenn androgyn Vereinigung der Geschlechter bedeutet, fühlt sich das Mädchen seiner Mutter und derem Sohn gegenüber wie ein Kastrat, in einem Körper, der weder der Mutter noch dem Vater gleicht. Das Neutrum des Geschlechts (DAS Mädchen) drückt gut die Einbeziehung eines Dritten aus: der Körper des Mädchens hat weder die Geschlechtsteile des Vaters noch die Brüste der Mutter. Hier spielt die Kastration die Rolle des neutralen Elements für jegliche Art von Operation, die die Andersheit aufs Spiel setzt. Der Körper des Mädchens hat also die Neutralität des zu allen mimetischen Wirkungsmöglichkeiten fähigen Chamäleons. Er hat scheinbar keine andere Funktion als die der Verzierung. Das kleine Mädchen hört immer wieder: “Sei schön und sei still!” Wenn man nun dem Mädchen die Existenz der Klitoris, des einzigen sexuellen Bezugspunktes, der mit dem der Mutter vergleichbar ist, verschweigt, bleibt ihm nichts anderes übrig als zu simulieren: Wer? Was? Die Mutter, eine Frau mit dem Penis, eine falsche (phallsche) Frau? Oder eher die unerreichbare, ideale Frau, die Essenz, die ihr erlaubt, die Sexualität vorzuspielen, die in Wirklichkeit nicht mehr existiert? Die einzige Realität für das Mädchen ist in diesem Fall der Schein der weiblichen Rolle, seine reine Theatralik und das Einüben in die Fähigkeit, sich für jemand anders auszugeben, kurz und gut, sich “hysterisch” zu verhalten. Dazu schrieb Virginia Woolf:

“Wenn ich auch sonst sehr eitel bin (…), ist meine Eitelkeit sehr snobistisch. Ich setze mich dem Rezensenten mit einer großen Hautoberfläche aus, aber mit sehr wenig Fleisch und Blut (…) Da schon vierundzwanzig Stunden vergangen waren, seit ich die Rezension gelesen hatte, war mir denn der Eindruck meiner äußeren Erscheinung als Frau wichtiger, als ich den Salon Argyll House betratt, als mein Renommé als Schriftstellerin.”

Zu erscheinen war der jungen Virginia wichtig, und sie war Erscheinung der Abwesenheit in der Anwesenheit, die im Goyastil oszillierend zwischen Lachen und Tod reguliert wurde. Auch hierin erkennen sich Magersüchtige:

“Gefallen, sich gefallen. Die doppelte Knechtschaft.” “Das ist entsetzlich, das ist nicht auszuhalten. Ich bin nicht der Mittelpunkt der Welt.”

“Sei doch Weib!”, sagte die Mutter zu Violette, denn diese trug am liebsten Männerhüte. Dabei imitierte sie nicht ihren Vater, den sie nicht einmal gekannt hatte. “Meine Mutter, das ist mein Vater” , erzählte sie in ihrer Kindheit. Sie imitierte den erigierten Penis der Mutter, um dennoch zu symbolisieren, daß die Erektion nur ein Schein ist: die Mutter war zwar im Besitz von allem, aber nicht als Trägerin der beiden Geschlechter. Sie war “die allmächtige, eher asexuelle als bisexuelle Mutter”, so wie sie von Kestemberg, Kestemberg und Décobert beschrieben wird. Darin liegt nach Jessica Benjamin das Problem der Frau, denn “die ‘wahre’ Lösung für das Dilemma des weiblichen Begehrens setzt eine Mutter voraus, die sich als sexuelles Objekt artikuliert, die ihr eigenes Begehren zum Ausdruck bringt.” Es fällt auf, daß die Mütter magersüchtiger Frauen ihrer Tochter zu verstehen geben, daß Begehren und Lust in einer Beziehung zu dem Mann nicht vorkommen sollten. (“Männer sind alle Schweine”) Vermutlich verschweigt zudem die erste Aussage der Kastrationsdrohung, die von der Mutter formuliert wurde (“paß auf die Männer auf, sie werden dir antun, was dein Vater mir angetan hat”), gleichzeitig die von der Mutter erfahrene Lust und vaginale Aufnahmefähigkeit. In den meisten Fällen lehrt die Mutter Keuschheit und Selbstlosigkeit, und die Töchter befolgen das Schema der christlichen Religion: Vater-Mutter-Ich, das Christkind, die Engel, brav-und-lieb-sein, den Eltern gehorchen, ihnen kein Leid verursachen, keine “Dummheiten” (mit den Jungen) anstellen. Viele magersüchtige Frauen haben zunächst eine sehr religiöse Erziehung gehabt, in Extremfällen bei Nonnen oder in einer katholischen Schule mit der Verpflichtung, zu beten und sich einem phantasierenden Religionsunterricht zu unterwerfen. Auch die protestantische Tania Blixen “verlieh den antagonistischen Kräften die Namen, die ihre Erziehung und ein schwärmerisch religiöses Zeitalter ihr lieferten: Gott und Teufel, Tugend und Sünde, Christentum und Heidentum. In gewissem Sinne durchlebte sie eine religiöse Krise mit all ihren Seelennöten, ihrer sexuellen Spannung und Bedrängnis, ihrer Sinnsuche.” Die Hefte aus ihrer Jugend waren voll von hingeworfenen Zeichnungen, die “geschmeidige Seejungfrauen, Ballettänzerinnen in durchsichtigem Tüll, athletische muskulöse Reiter, grimmige Bösewichter und geflügelte Nymphen” darstellten.

Der kalte Fischschwanz der Seejungfrau, mit der die Magersüchtige sich häufig identifiziert (Seejungfrauen machen die Beine nicht breit!), repräsentiert die traurige und dunkle Realität, die ihre charmante Naivität verheimlicht, ihre beharrliche Zwangsvorstellung von Spiegel und Kamm. Die Seejungfrau ist nicht asexuell, sie ist vielmehr, wie der Kastrat, die Inkarnation des erotisierten, dem Tode geweihten Gesangs und Symbol des primären Begehrens, des Begehrens der Mutter. Wenn die Seejungfrau das Absolute schon nicht erreicht, so zieht sie sich lieber aus der Welt zurück, und sei es um den Preis ihrer eigenen Zerstörung. Der Gesang, die Verführung durch den Gesang, gehörte ebenfalls zu dem kollektiven Abenteuer Neapels. Aber auch das Scheitern gehörte hierzu, das Scheitern durch den Gesang, durch den Selbstmord und den Tod, durch die Unzulänglichkeit des Gesangs. Das nymphomane, pseudosexuelle Verhalten der Seejungfrau stellt im Grunde eine Abwertung ihres Selbst dar. Es gelingt ihr weder, sich selbst zu lieben, noch sich zu schätzen.

In der Phantasie ist die magersüchtige Frau noch fest mit der Mutter verwachsen wie die Seejungfrau mit dem Meer. Sie fühlt sich als ihr “Anhängsel”, ist nur ein Bestandteil von ihr. “Was machte ich auf Erden? Nichts. Ich lebte von der Arbeit meiner Mutter,” schrieb Violette Leduc. “Was würde ich sein? Was würde aus mir werden? Was war ich? Was werde ich sein? Mager, wünschte ich mich noch magerer (…) Meine entfleischten Schultern grinsten.” “Kehren wir zum Anfang zurück, mach dir den Bauch auf, nimm mich zurück. Laß uns noch zusammen leiden. Fötus, ich möchte es nicht gewesen sein. Anwesend, in dir erwacht. In deinem Bauch habe ich deine Schande von einst gelebt, deine Sorgen. Du sagst manchmal, daß ich dich hasse. Die Liebe hat unzählige Namen. Du bewohnst mich, wie ich dich bewohnt habe (…) Stirb nicht, solange ich leben werde.”

Die narzißtische Komponente bei der Magersucht, alles selbst und allein machen zu können, alles kontrollieren zu können, bedeutet für das Unbewußte “ich bin vollständig und ich habe einen Phallus” und dient der Abwehr des Nichtigkeitsgefühls, erschlagen zu werden. “Ich bin unbedeutend”, dachte Valérie Valère, “ohne Ziel, ohne Freude, ohne alles, eine Larve.” “Ich bin nichts. Ich gehöre mir nicht mehr”, denkt die Magersüchtige in ihrer tiefsten Verzweiflung, was unbewußt einer Kastration gleichkommt. Sie gehört der Mutter, “einer himmelblauen Mutter”, die sie “während der Tragödie liebt”, die sie “nach der Tragödie liebt” , die sie bis zum Tode haßt und liebt.

 

In der antiken Tragödie sind die Mutter und deren Symbole zugleich “liebevoll” und “furchterregend” wie Violettes Mutter Berthe:

“Ich bin sechs Jahre, ich weine, ich schluchze in einem Loch, wo ich allein bin: ich habe keinen Hunger, ich will nicht. Meine Mutter knirscht mit den Zähnen, sie brüllt. Ich bin im Käfig, das Raubtier ist draußen. Sie brüllt, weil sie mich nicht verlieren will. Ich habe lange gebraucht, es zu begreifen. Wie könnte ich meine Gabel heben, wenn sie mich so anschaut. Sie erschreckt mich, sie unterjocht mich; ich versinke in ihren Augen. Ich bin sechs Jahre, ich habe Gefallen an ihrer Jugend, an ihrer strengen Schönheit.”

In der Linie der maßlosen Mütter, die in der ganzen Geschichte der Labdakiden vorkommen, hebt sich hingegen Antigones Mutter, Iokaste, nur auf dem Hintergrund der Sphinx ab. Sie erscheint vor allem als Rätsel. Halb Tier, halb Frau, wurde die Sphinx in der Psychoanalyse zum Symbol des Elternimagos, der Fusion der Eltern im Koitus (wobei das Beobachten des elterlichen Koitus vom beiseite gelassenen und zugleich erregten Kind als angsterzeugendes Moment erlebt wird) und der Vorstellung, daß Vater und Mutter Eins sind. Die zahllosen Monster, die die diversen Mythologien und Phantasien jedes Menschen bewohnen (die Zeichnungen oder die Märchen junger Magersüchtiger werden von Meerjungfrauen- und Nymphenbildern besessen), zeichnen also die Phantasie der kastrierenden und furchterregenden Mutter, die Phantasie der phallischen Mutter, vor. Die griechische Sphinx, die Sphinx des Ödipus, symbolisiert sie besonders gut, die phallische Mutter. Auch der “Phallus der Mutter” ist als unbewußte Phantasie zu verstehen, die nicht bedeutet, daß die Mutter tatsächlich einen Penis hat. Diese Phantasie stammt aus der Zeit der Entdeckung der Differenz zwischen den Geschlechtern, dient aber gleichzeitig ihrer Verleugnung. Für das Unbewußte ist daher der Phallus männlich und weiblich in einem und ähnelt damit einer Kugel, die alles in sich trägt. In der griechischen Tragödie wird berichtet, daß die Sphinx sich von rohem Fleisch ernährt. Auf bildhafte Weise werden Inzest und Kannibalismus in Zusammenhang gebracht, und “die unterschiedlichen Dimensionen der oralen Einverleibung ausgedrückt: Liebe, Destruktion, Aufbewahrung in seinem Innern und Aneignung der Qualitäten des Objekts.” Außerdem beinhaltet das Symbol der Sphinx auch den Widerstand, den die Mutter gegen die Trennung vom Kind empfindet, und das Verlangen, die verlorene Einheit wiederzuerlangen, indem sie das Kind in ihren Bauch zurückholt. Nach den Italienern Carloni und Nobili drückt sich dies im Alltag durch das überbehütende oder besitzergreifende, herrische Verhalten einiger Mütter aus, die die eigene Identität ihrer Kinder “verzehren”, wie auch durch zärtliche Äußerungen, die von kannibalischen Worten begleitet werden (z.B. “Ich habe dich zum Fressen gern”).

Mit “Mutter” wird also Schutz, Wärme, Liebe und Nahrung assoziiert, zugleich aber auch die Gefahr der Unterdrückung durch die Enge des Nestes und der Erstickung durch eine exzessive Verlängerung ihrer nährenden und führenden Funktion. Gerade dagegen wehrt sich die magersüchtige Frau. Die Abhängigkeit (die auf beiden Seiten besteht), belastet sie. Sie will sich loslösen. In Violette Leducs Werk “Die Bastardin” werden die Dramen geschildert, die ihre Abscheu vor den Mahlzeiten hervorriefen, und die Drohungen ihrer Mutter wiedergegeben: “Du hast keinen Hunger. Du solltest Hunger haben. Wenn du nicht ißt, wirst du krank werden wie er” (wie Violettes Vater), “wenn du nicht ißt, wirst du nicht hinausgehen, wenn du nicht ißt, wirst du sterben.”

Violettes Mutter spielte nie mit ihrem Kind. Sie pflegte es, “angefangen vom Bürsten bis zu den Kräftigungsmitteln, und basta, Punktum.” Violette sah ihr Spiegelbild in den beiden harten und blauen Augen: eine lebendige Schuld, ein uneheliches Kind, eine “Bastardin”. Allein die Zärtlichkeit der Großmutter bewahrte sie vor vollständiger Zerstörung. Dennoch liebte sie ihre “böse” Mutter abgöttisch. Sie wollte deren Wunde heilen, die sie dennoch, als Abbild des Vaters, immer wieder aufriß. “Mein Spiegel, manman, mein Spiegel. Nein, ich will dich nicht haben, Erblichkeit.”

Violette verkümmerte in dieser ihrer Haut. Sie erstickte überall, im Büro, bei der Freundin, in der Stadt, und flüchtete in die Natur wie damals “in den schwarzen Rock” ihrer Großmutter. Sie versuchte, den Dingen bildliche Worte zu verleihen, die die zugleich archaische und aktuelle Beziehung zum Körper der Mutter und zu ihrem eigenen Körper ausdrücken sollten. Sie malte aufgewühlte Landschaften, die denen von van Gogh ähnlich waren (“Die Bäume haben ihre Verzweiflungskrisen” ) und vom Körperlichen nicht abstrahierten. Auch andere magersüchtige Schriftstellerinnen träumten davon, Malerinnen zu sein: Virginia Woolf oder Tania Blixen, die sich vom Leben erhoffte, “alles andere als Schriftstellerin zu sein – Reise, Tanzen, Leben, die Freiheit zu malen.” Wir werden im dritten Teil noch zeigen, wie aus der Landschaft ein Substitut der Mutter gemacht wird und wie die Landschaft alle Merkmale des primären Objekts, der ernährenden Mutter, besitzt.

 

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