2.8 Nostalgie des Gesangs

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“Wo möchten Sie leben? Im Haus von Hänsel und Gretel. Was ist für Sie das größte Glück? Wenn meine Katzen für mich singen. Welche Eigenschaften schätzen Sie beim Mann? Weibliche. Bei der Frau? Männliche. Was möchten Sie sein? Ein weißer Tiger.” (Interview mit Leonor Fini)

 

Eins zu werden ist das Ziel des menschlichen Lebens. Die Nostalgie nach dem ursprünglichen Eden, wo alles in Allem ist, und alles mit Allem, auch das Männliche mit dem Weiblichen vereint ist und wo es keine Differenz der Geschlechter und der Personen gibt, lebt von Generation zu Generation in von jeder Kultur jeweils neu kreierten Sitten wieder auf: der von Bettelheim referierte Ritus der couvade, während der die Männer die Schwangerschaft und das Gebären mimen und sich in die Sexualfunktionen des anderen Geschlechts einzufühlen versuchen; die Institution des Kastraten im 18.Jahrhundert in Neapel; die deutsche Romantik im 19.Jahrhundert; die Unisex-Mode der letzten Jahrzehnte. Man kann sich natürlich fragen, ob der Geschmack für den Hermaphroditismus nichts anderes wäre als der Ausdruck eines fundamentalen Bedürfnisses der Menschlichkeit, das im Gedächtnis der Völker schläft und hier und dort mit einer Zeitspanne von Jahrhunderten und in den unterschiedlichsten Regionen der Erdkugel aufwacht, um sich in einer Institution, in Bräuchen oder in einer Mode zu kristallisieren. Die Verwandlung, die in der Jugend stattfindet, und der Todes- und Wiedergeburtsmythos, der damit verbunden ist, läßt sich auch in der Anorexie gleichsam exemplarisch verdeutlichen. Der Wunsch der Magersüchtigen, die Geschlechter in sich zu vereinen, impliziert die Phantasie einer Rückkehr jenseits des Diskurses und hin zu einer präverbalen Phase (vor dem WORT = vor der Sprache), die musterhaft durch den Kastratengesang im Barockzeitalter dargestellt wurde. In diesem Zeitalter, dem sogenannten “ersten goldenen Zeitalter des bel canto”, in dem der italienische Gesang Europa eroberte, wurden ein großer Teil der Gesangsmusik und, im besonderen, alle wichtigen männlichen Rollen in Opern und Kantaten den Kastraten zugedacht, die damit die unbestrittenen Hauptdarsteller der lyrischen Kunst waren. Der Mythos der Androgynie herrschte über das Unbewußte der Barockzeit mit Entstehung und Triumph der Opera seria und ihrer Vorliebe für das Maskenkostüm, die Verkleidung und die zweideutigen Spiele des Seins und des Scheins. Der Rollenaustausch war auch die Essenz des Karnevals. Der Mann maskierte sich gern als Frau, die Frau als Mann, das Kind als Greis, der Greis als Kind. Geschlechter, Altersklassen und soziale Schichten flossen magisch ineinander.

Das Barock lehnte die dualistische Diskriminierung der Geschlechter ab und sehnte sich nach der mystischen Fusion entgegengesetzter Polaritäten. Die Vervollkommnung der Oper wurde durch die Kastration des jungen Sängers, aus dem ein soprano gemacht werden sollte, realisiert. Der Kirchenstaat ließ, indem er die Frauen ausschließlich als Mütter gelten ließ und ihnen den Zutritt zur Bühne untersagte, keinen Raum für die Erotik. An ihre Stelle trat der Kastrat, der für die Kirche nicht provokativ war, da er das Geschlecht der Engel verkörperte, mit weißer Stimme (voce bianca) und daher ebensoviel bedeutete wie “die Stufe Null der Sexualität”. Das Begehren und die Versuchung des Fleisches und des Teufels – für die Kirche ohnehin mit der Frau gleichgesetzt – wurden auf diese Art endgültig aufgehoben.

Besonders interessant war die Institution der Kastraten in Neapel. Die kleinen Jungen stammten aus armen Bauernfamilien und wurden von den Eltern an die Kastratenschulen verkauft, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Einige Kastraten wurden reich, hatten schließlich gesellschaftliche Macht und waren gesucht wegen der Mischung aus Professionalität und “Libertinage”, die für sie so charakteristisch war. In einer Zeit, wo die Vergewaltigung in der Ehe keine Seltenheit war, waren die Kastraten von den Frauen sehr begehrt. Ein Urenkel der neapolitanischen Kastraten lebt auch heute noch in der Gestalt des “femminiello”, des Transsexuellen, weiter. Der femminiello wird in Armenvierteln gekauft, auf seine spätere Bestimmung programmiert, verhätschelt, mit den Hormonen eines mitwissenden Apothekers versorgt und wie früher vom Chirurg kastriert.

Beide, femminiello und Kastrat, verkörpern das Bestreben nach der gleichmachenden Trennung, die die Medizin “Orchiektomie” nennt, eine Bezeichnung die von “orchis” kommt und auf altgriechisch “Hoden” bedeutet. Es muß hier angemerkt werden, daß in dem geographischen Gebiet, in dem die Muttergottheiten angebetet wurden, der Gebrauch von Haremeunuchen weit verbreitet war. Die Erklärung, die allgemein dafür gegeben wird, lautet, daß Eunuchen sichere Haremswächter sind, weil sie mit den Frauen in ihrer Obhut keine sexuelle Beziehungen haben können. Doch wenn dies der einzige Grund wäre, dürfte man sich fragen, warum keine weiblichen Bediensteten benutzt wurden. Und wenn dieser Brauch in Wirklichkeit ein Überbleibsel der Riten um die Muttergottheit war? Wenn er zum Teil auf dem Verlangen der Frauen beruht, Männer als Untergebene zur Verfügung zu haben, die zuvor ihrer männlichen Sexualität beraubt wurden?

Auch die kastrierten Priester der Kybele waren Diener der Muttergottheit, so wie die Eunuchen Diener der Frauen im Harem waren. Bei ihnen war die Selbstverstümmelung nicht auf ein Geschlecht beschränkt. Die Riten der Kybele reflektierten sowohl bei Männern als auch bei Frauen abweichende Tendenzen: entweder einen übermäßigen Wunsch oder eine extreme Angst davor, dem anderen Geschlecht anzugehören. Dennoch war die Verstümmelung der Männer viel schwerwiegender als die der Frauen, der Mann opferte seine primären Geschlechtsmerkmale (das ganze Genital), die Frau nur die sekundären (eine oder beide Brüste). Kybele wurde in der Form eines Steines angebetet. Sie symbolisierte die Mutter-Erde, die “materia prima”, wurde aber auch als Androgyn, als “Frau mit dem Penis” angesehen. Nach Melanie Klein handelt es sich hierbei um sehr archaische und stark angsterzeugende Phantasien, da verborgene Kastrationsängste durch das Hermaphroditenbild von zwei Geschlechtern in einem geschürt werden.

Die Psychoanalyse hat die Spuren der Kastrationsangst auch beim Transvestiten wiedergefunden. Er verkörpert die abscheuliche Macht der phallischen Mutter, wenn er sie mimt, sich mit ihr identifiziert und sich für die “Göttlichkeit” hält, deren Erscheinung er sich mit Hilfe einer Verkleidung zu bemächtigen trachtet. Es wird behauptet, daß diese Verkleidung zu einem mimetischen Besitzergreifen der Frau führt. Doch handelt es sich nicht eher um die extreme Verleugnung des Geschlechtsunterschieds, wie sie auch bei den Magersüchtigen wiederzufinden ist, wenn sie ihre weiblichen Merkmale verschwinden lassen? Bereits in der Eiszeit findet man androgyne Statuetten, bei denen offenbar die Brüste zu Hoden und der Kopf zum Penis werden. Und der Mythos vom ursprünglichen Androgyn, den Platon durch den Mund von Aristophanes wachrief, ließ die Dichter nicht ruhen: “Tatsächlich geht es dabei in erster Linie um die Rekonstitution des ursprünglichen Androgyns, von dem alle Überlieferungen uns berichten”, schrieb auch der Surrealist André Breton, “und um seine über alles begehrenswerte und greifbare Inkarnation durch uns hindurch.”

In den Bildern von Dali werden Männer mit Brüsten ausgestattet, und auch die von Leonor Fini gemalten Sphinxe sind nicht allein ein Symbol des Geheimnisses. Sie werden bei der Künstlerin zu Trägerinnen des Phallus. Marcel Brion beschreibt sie in seiner Monographie und sagt von ihr: “Indem sie in die Erde hineinging, Freundschaft schließend mit allem, was in den Labyrinthen des duftenden Untergrunds wandert, ist sie auf diese Weise in das innerste Reich gegangen, bis zum Reich der Mütter, von dem ihr ganzes Leben und ihr ganzes Werk den rätselhaften Reiseweg schildert.” Im Mittelpunkt ihrer Malerei herrscht eine Hybris, die keine Kategorie ausschließt. Hybris der Gattungen, der Mächte, der Räume, der Zeiten, der Geschlechter. Wie die Transvestiten und die skelettartigen Frauen ihrer Kunstwerke fühlt sich Leonor Fini aus der Gattung vertrieben, und dies ist einer der Gründe, warum sie sich immer weigerte, Kinder zu bekommen. “Ich habe mich nie von der Fruchtbarkeit angezogen gefühlt”, sagte sie. “Es liegt an meiner Abscheu vor dem Nützlichen. Die Teilnahme am Bestand der Gattung ist ein Aufgeben. Um Kinder zu haben, braucht man in der modernen Welt eine fast unfaßbare Demut, eine verstumpfte Passivität oder eine unsinnige Überheblichkeit.”

Da sie von ihrem Standpunkt die Geschlechter vermischt und die weibliche Stärke verherrlicht, ist es offensichtlich, daß Leonor Fini keine feministische Forderung erhebt. Für sie ist das Geschlecht keine agonistische Dualität, sondern eine umkehrbare Funktion. Schon immer dachte sie, daß die Frau von der männerbeherrschten Welt schlecht und ungerecht behandelt wird. Seit ihrem jüngsten Alter rebellierte sie gegen das weibliche Dasein. Bei ihr findet man wieder die Idee von Lilith, die Anti-Eva, die auch bei vielen magersüchtigen Frauen präsent ist, und die Behauptung, daß ihre Welt die des Geistes ist, da sie instinktiv die körperliche Mutterschaft verabscheute. “Irgendeine Zusammenarbeit muß zwischen Mann und Frau im Geist stattfinden, bevor die Kunst des Schöpferischen vollendet werden kann”, schrieb Virginia Woolf in ihrer berühmten Rede.

“Kastriert” fühlen sich also magersüchtige Frauen nur, weil sie meinen, die Fähigkeit, etwas Kreatives, etwas Wertvolles zu produzieren, verloren zu haben. Andere ernähren sich wie Violette Leduc von Symbolen und lieben die Ambiguität, die in jeder hermaphroditischen Verbildlichung ruht. Androgyn und Symbol sind zwei umkehrbare Begriffe. Auch Violette vertrug und liebte wie Leonor Fini nur ambivalente Menschen, so ambivalent und verwirrend wie etwa “Monsieur Venus”, ein Buch, das von einer Frau des “fin-de-siècle”, Rachilde, geschrieben wurde, und von dem Leonor Fini sehr subtile Illustrationen machte. Es ist dies die Geschichte einer seltsamen, asexuellen und libidinösen Liebe zwischen einem “Freudenjungen” von sinnlicher und femininer Schönheit und einer Frau, die ihn schlägt und streichelt, mit ihm spricht und wie ein Mann handelt, nur um das Naturgesetz zu vergessen, den Pakt der Fortpflanzung zu zerreißen und die Unterordnung der Geschlechter zu verneinen. Die einzigen möglichen Beziehungen waren für Leonor Fini Inzeste mit vertriebenen Menschen, die genauso ambivalent waren wie sie selbst. Diese Inzestphantasie finden wir auch in den Schriften von Violette Leduc wieder:

“Ich lebte allein in einer anderen Welt, kalt, steif und an mir selbst zweifelnd, an anderen zweifelnd, ich wünschte extravagante Liebschaften, Inzest. Ich wollte eine Kompensation, eine Revanche mit etwas Anomalem.”

Violette wollte immer “das Unmögliche”, und sie imitierte gern die Männer. Ihre Krawatte war für sie das Geschlechtsteil, das sie ihrem tendenziell homosexuellen Freund Gabriel anbieten wollte. Sie war ihr Mann, und er war seine Frau in diesem “corps à corps” (= Mann gegen Mann) der Freundschaft. Auch Maryse Holder schilderte ihre tiefe Anziehung für die “Homosexualität” der mexikanischen Männer, und schon in New York bezeichnete sie ihren damaligen Freund als “ihre Brust aus Stein.” Immer wieder wird die Frage aufgeworfen: “Was heißt es überhaupt, eine Frau zu sein?”

Wie eingangs schon erwähnt wurde, hängt diese Rollenverwirrung auch mit dem phantasierten “Familienroman” der Frauen zusammen. Die beiden Eltern-Imagines werden in einem einzigen Bild verbunden, das den Urzustand, die Abstraktion und die faszinierende Anziehungskraft der mykenischen Statuen hat: ein versteinertes Idealbild durch enthumanisierte Größe, wie diese große Sphinx aus Granit, auf der Leonor Fini im Schloß von Miramar so gern rittlings saß, als sie noch ein Kind war. Der Ausdruck der “vereinigten Eltern-Imago” wurde von Melanie Klein zur Bezeichnung einer infantilen Sexualtheorie eingeführt, in der die Eltern in einer ununterbrochenen sexuellen Beziehung vorgestellt werden: die Mutter, die den Penis des Vaters oder den ganzen Vater in sich enthält; der Vater, der die Brust der Mutter oder die ganze Mutter in sich enthält; schließlich die im Koitus unzertrennlich verschmolzenen Eltern.

J. Chasseguet-Smirgel hat die von dem knabenhaften Körper der Mannequins ausgeübte Faszination damit erklärt, daß dieser Körper symbolisch einen Phallus darstelle und damit den Narzißmus und die latente Homosexualität des Mannes anspreche. Am Beispiel von Valérie Valère können wir in der Magersucht auch eine Identifizierung mit dem Phallus des Vaters feststellen, der aber kastriert phantasiert und mit den entsprechenden Symptomen der Wertlosigkeit und der Leere einhergeht, wie sie von Thomä beschrieben wurden. Valéries Vater liebte die Männer, heiratete dennoch eine Frau, zweifellos, um den Schein zu wahren, auch auf Kosten seines eigenen Verlangens. Wie sollte Valérie im fötalen und Säuglingszustand unter der Mesalliance ihrer Eltern nicht leiden? Seltsamerweise gibt sie in einem ihrer Romane genaue Beschreibungen von Schwulenlokalen, als ob sie selbst dort Stammgast gewesen wäre, und inszeniert so das vom Vater unbekennbare Geheimnis, macht sich für die Mutter begehrenswert. Nie wurde Valérie ihre Unentbehrlichkeit durch die Sprache der Wörter und der Gesten, und noch weniger durch die stumme Sprache des Begehrens nach ihrer Geburt mitgeteilt. Wie viele andere Magersüchtigen fühlte sich Valérie schon immer überflüssig, und damit war auch ihr Körper “überflüssig”. Dies ist vermutlich einer der Gründe, weshalb Violette Leduc und andere magersüchtige Frauen sich von schwulen Männern häufig angezogen fühlen, verbunden durch eine gemeinsame Einsamkeit. Vor ihrer Heirat trafen sich im Stephenschen Salon am Gordon Square bei Virginia viele homosexuelle Männer. Verginia genoß eine Zeitlang ihre Gesellschaft, da diese “viele Vorteile (hat), wenn man eine Frau ist. Sie ist ungekünstelt, sie ist ehrlich, sie gibt einem in mancher Hinsicht das Gefühl der Unbekümmertheit.”

Umhüllender Mutterleib für diese Unbekümmertheit kann die Oper sein. Tania Blixen suchte Zuflucht in der Oper, um diesen “Ort vor der Sprache” wiederzufinden: Ort der ersten Liebe, Ort der Mutterliebe und der todbringenden Liebe, der die Wünsche nach der Rückkehr des Kindes in das Fleisch der Mutter befriedigt. Denn häufig bewahrt die Sprache die Spuren der Geschlechterdifferenz in den grammatischen Strukturen des männlichen und des weiblichen Geschlechts, in Artikeln, Namen und Pronomen. Die vom Geschlecht und daher von der Sprache befreite Musik hingegen kann sich als androgyn und hermaphroditisch, neutral und vollkommen wie der ihr entsprechende Mythos von Orpheus beschreiben lassen. In der Musik wie in der Absolution lösen sich die Grenzen des Individuums auf, im Absoluten des Orgasmus oder in der mystischen Ekstase. Der Mensch wird auf Lebensverhältnisse vor der Erkenntnis zurückgeworfen, in denen die Unterscheidung zwischen Äußerem und Innerem uns noch nicht vom Paradies abgetrennt hatte. Die Oper ist ein gutes Beispiel hierfür, denn sie hat zwei Stimmen: als androgyn im Paar Sprache/Gesang ist sie hybrid, ambivalent. Benito Pellegrin betont, daß die Vervollkommnung der Oper zudem über die Verstümmelung, über die Kastration des jungen Sängers zum hybriden Soprano führte. Nichts seiend, konnte er alles sein. Die Verstümmelung machte aus ihm ein “Monster”, doch alle Eigenschaften, die ihn bereicherten, machten aus ihm gleichzeitig einen Engel, erzählte Casanova von dem Kastraten Salimbeni. In der Zusammenstellung Genießen/Musik spielte sich aber nur das Ur-Genießen selbst, das in unendlicher Rückkehr zirkuläre Genießen ab. Der Gesang des Kastraten war der Gipfel der menschlichen Vollkommenheit, der höchsten Intensität, die das Fleisch verzehrte und Stimme und Hals zermalmte, ein wahrhaftiges Hinaufsteigen der niedrigen Teile des Körpers über den Rumpf zum Kopf, schreibt Dominique Fernandez in seinem Werk über Neapels Mysterien. Die Kehle des Kastraten erzeugte nicht nur ein Ausatmen der Lunge, sondern einen vollkommenen Austreibungsakt, was den Frauen (…) das Gefühl gab, das sie mit seiner Stimme Liebe machten , mit jener Stimme, die die Frau während der Liebe so sehr vermißt, und deren Abwesenheit ihr Begehren für den Mann nach und nach verglühen läßt. Fast überall fanden daher kollektive hysterische Szenen seitens der napoletanischen Hofdamen statt, vergleichbar mit denen, die der Auftritt der neuen Idole bei der heutigen Jugend hervorruft:

“Von ganzen Horden halbhysterischer Mädchen belagert zu werden, gehörte zu meinen schrecklichsten Erlebnissen in jener Zeit”, schreibt Michael Jackson in seiner Autobiographie. “Tausend Hände greifen nach dir.”

Ein Vergleich mit den Kastraten drängt sich auch durch den Typus der Sänger auf, die heute auftreten. Finden wir nicht bei David Bowie, Prince, Annie Lennox, O’Connor, Grace Jones und im besonderen bei Michael Jackson die gleiche sinnliche, erotische und androgyne Anziehungskraft, die im 18. Jahrhundert bei den Kastraten beobachtet wurde? Vor allem Michael Jackson besitzt jene präpubertäre Stimme, jene Form der Unschuld, die auch den Kastraten eigen war. “Männlichkeit” und “Weiblichkeit” werden zugunsten einer vollkommenen Verwirklichung des Menschen überschritten. Das ist es, was viele Kinder und Jugendliche an Jackson lieben, und der Grund, warum sie sich mit ihm identifizieren. Er personifiziert den alten Menschheitstraum, die Spaltungen und Widersprüche zu überbrüken, die innerhalb der sozialen Gruppen in Erscheinung treten: Spaltung zwischen Kind und Erwachsenem, Spaltung zwischen Mann und Frau, Spaltung zwischen Schwarzen und Weißen, Armen und Reichen. Durch Nasenoperationen erschafft er eine neue Realität, die nicht mehr auf dem Gesetz bzw. der Ähnlichkeit mit der genitalen Sexualität des Vaters fußt (die symbolische Gleichung: Nase = Phallus deutet auf die Kastration hin). Wie der Phönix ersteht er neu aus der Asche und inkarniert damit den Wunsch vieler Magersüchtiger, neu geboren zu werden. Auch die magersüchtige Frau möchte unbedingt anders sein als ihre Mutter. Sie spielt daher gern mit der geschlechtlichen Differenz und treibt den Prozeß der Entdifferenzierung auf die Spitze, die für unsere Postmodernität kennzeichnend ist. Dabei will sie kein Mann sein, sondern sie weist eine geschlechtliche Polarität zurück, die sie für entäußernd hält und strebt wie Michael Jackson danach, in ihrem Körper und in ihrem Äußeren die vielfältigen Persönlichkeiten zu aktualisieren, von denen sie sich bewohnt fühlt.

“Man erringt das andere Geschlecht zunächst einmal in sich selbst”, erklärt die Künstlerin Katharina Sieverding. Leider sind wir aber noch weit davon entfernt, diesen idealen Zustand erreicht zu haben, da der gesellschaftliche Rahmen ihn auf jede erdenkliche Art bekämpft. Dies beginnt schon mit der Grammatik, in der wir sprechen und denken, und deren Genus selbst dringende Aufforderungen sind. Sie treiben uns ständig in die Enge einer Alternative Mann/Frau, die die grundsätzliche Ambivalenz des Menschen verdrängt. Die Transsexualität der Magersüchtigen aber setzt der Differenz der Geschlechter ein Ende: weder weiblich noch männlich, weder homosexuell noch heterosexuell, mobilisiert sie den Körper, um die “ursprüngliche Androgynie” des Menschen zu offenbaren. Sie sind die neuen Kastraten.

 

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