2.7 Alles durch den Mund: eine Organlust

<<< Kapitel 2: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit

 

“L’être est d’abord moitié brute, moitié forêt;

Mais l’air peut devenir l’Esprit, l’homme apparaît.”

(Victor Hugo, Le Satyre in La légende des Siècles)

 

Der bulimische Raptus oder Anfall hat eine regressive und autoerotische Bedeutung, die, aus Angst zu leiden, die Frustrationen durch eine Lust kompensiert, die den Anderen ausschließt. Nach Christiane Balasc nimmt dann der Raptus selbst in seiner Wiederholung die Dimension eines Glaubensbekenntnisses und einer Herausforderung einer unmöglichen Begegnung mit dem Anderen an. In diesem Zusammenhang wird von Perrier betont, daß die “auto-béance”, die Selbst-Leere, allein durch die Monstrosität ausgefüllt werden könne, im Bauch der Mutter zu sein, ihr ein Kind zu zeugen, das man selbst wäre, nicht zur Welt käme und unsterblich wäre. In Tapors Werk vereinigt sich hingegen das Groteske des “Liebeshungrigen” mit dem Absurden. Der Bulimiker verliebt sich in seinen linken Fuß (Substitut des Phallus der Mutter, an den das Kleinkind geglaubt hat und auf den es nicht verzichten will). Sein Fuß heißt Suzanne und seine Verwundbarkeit gibt eine Schwäche der Psyche und eine Entstellung sexueller Natur zu erkennen. Für die französische Schriftstellerin Violette Leduc wird der Fuß-Penis von Simone de Beauvoir, den “L’affamée” schmerzlich begehrt, mit dem Fetisch (Ersatz für den mütterlichen Phallus, dessen Fehlen verleugnet wird) gleichgesetzt. Indem sie ihn zärtlich in ihre Hände nimmt, erhofft sie, das Genießen und die Sinneslust zu erlangen, die ihr von der Mutter verboten wurde. Man darf im Fall von Violette Leduc sogar davon ausgehen, daß das Übergangsobjekt seine Rolle nicht vollkommen hat spielen können, da ihre Mutter die autoerotische Aktivität nicht erlaubte. In der Tat bleibt das Übergangsobjekt der Mutter entfremdet und der Penis (für Violette das Recht auf Onanie) unter der mütterlichen Herrschaft.

“In der psychoanalytischen Erfahrung und Theorie bezeichnet Sexualität nicht allein die Aktivitäten und die Lust, die vom Funktionieren des Genitalapparats abhängen, sondern eine ganze Reihe von Erregungen und Aktivitäten, die bereits in der Kindheit bestehen und eine Lust verschaffen, die nicht auf die Stillung eines physiologischen Bedürfnisses (Atmung, Hunger, Ausscheidungsfunktion, etc.) reduzierbar ist. Sie finden sich als Komponenten in der sogenannten normalen Form der sexuellen Liebe wieder”, schreiben Laplanche und Pontalis. So trennt die Psychoanalyse zwischen der Erregungslust einerseits und der Entladungslust andererseits. Die Sexualität spielt sich also unter dem Primat der Genitalzone erst am Ende einer komplexen und fraglichen Entwicklung ein. Nichts ist am Koitus im Grunde natürlich, da das am wenigsten ambivalente Begehren bei dem “reifesten” Subjekt nicht ohne orale, anale und phallische Nebentöne einhergeht. Die französischen Autoren Bruckner und Finkielkraut gehen sogar so weit zu behaupten, daß der Koitus “ein Produkt der Geschichte”, “die Festschreibung eines bestimmten Machtverhältnisses zwischen Mann und Frau” ist; infolgedessen sei er noch heute “Gegenstand eines Kampfes”.

Diese Einstellung teilen auch viele magersüchtige Frauen. Maryse Holder nahm sogar die Corrida als Beispiel für die Beziehung der Männer zu den Frauen. Erotisch angezogen fühlte sich Tania Blixen dennoch “von demonstrativer Virilität, von Nietzsches Männlichkeitsideal: ‘der Mann soll zum Krieger erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers.'” Um sich aber vor dieser Rollenverteilung zu schützen, weigert sich der erogene Körper, dem “Primat des Genitalen” untergeordnet zu werden. Der Mund, als Öffnung, durch die der Atem, die Sprache und die Nahrung gehen, wird zum Vermittler zwischen der Situation, in der das Subjekt sich befindet, und der unteren oder der oberen Welt, in die er das Subjekt mit sich ziehen kann. Der Mund wird in der universellen Ikonographie sowohl durch das Maul des Monsters als auch durch die Lippen des Engels dargestellt: er ist sowohl die Tür zur Hölle als auch die zum Paradies. Darin erinnert er an Kronos, eine andere mythologische Figur, der den ersten Göttergenerationen ein Ende bereitete, als er die Hoden seines Vaters abschnitt. Um seinerseits von seiner Nachkommenschaft nicht verdrängt zu werden, wie dies seine Eltern vorhergesagt hatten, verzehrte er seine eigenen Kinder nach ihrer Geburt. Daher symbolisiert Kronos den verzehrenden Lebenshunger und das unersättliche Begehren, andererseits aber auch die Angst vor einem Erben, einem Nachfolger oder vor jemandem, der ihn ersetzen könnte. Der Kronoskomplex stellt daher eine Art Umkehrung zu Ödipus dar, da Kronos sich keine andere Gesellschaft vorstellt als seine eigene und sich weigert, einer anderen Ordnung zu dienen als der, die er entworfen und gewollt hat. Wenn seine Herrschaft mit der der Erinnerung eines goldenen Zeitalters verbunden bleibt, liegt es daran, daß dieses in der vergehenden Zeit einen idealen Abschnitt hervorhebt, der die Verwirklichung aller Träume zusammenfaßt und der zwangsläufig unbeweglich bleiben muß. Es ist dies der Widerspruch der Zeit, eine Unterbrechung in unausweichlicher Entwicklung, ein Sich-tot-Stellen.

Die zwingende und herrschende Zeit mit den biologischen Rhythmen des Hungers, der Sättigung und des Schlafes bilden zahllose Kränkungen für einen ungeschützten Narzißmus, der die Autonomie seiner subjektiven Zeit beansprucht. Wie für Baudelaire ist die Zeit für die magersüchtige Frau “der wachsame und verhängnisvolle Feind, der finstere Feind, der unser Herz quält” (Spleen und Ideal). Verallgemeinert darf man sagen, daß die Magersüchtige eine “Entsprungene außerhalb der Zeit” ist. Ihre Essensverweigerung wäre dann nichts anderes als die Furcht vor dem “Baum des Wissens um Gut und “Böse”, der dem Menschen nur Unheil brachte: sie will nicht daran sterben, das heißt, sie will nicht aus dem paradiesischen Zustand bzw. aus der fötalen Fusion vertrieben werden. Dieser phantasierte pränatale Zustand verbildlicht für sie die unmittelbare Befriedigung des Bedürfnisses, oder besser: das völlige Fehlen von Bedürfnissen, das die Nicht-Manifestation des Triebes in sich schließt. Sie fühlt sich weder Leiden und Tod, noch den Regungen ihres Fleisches ausgesetzt. Sie befindet sich nicht mehr in der conditio humana, die die ständige Suche nach einem Lebenssinn voraussetzt, der uns andererseits erst durch die Begegnung mit dem Anderen gegeben wird. Statt dessen genügt sie sich selbst, läßt Andere nicht an sich heran und wird dadurch zu einer unvermeidlichen Niederlage verurteilt. Ohne die Begegnung wird sie sich selbst fremd, ja gar feind. Sie fühlt sich machtlos und “kastriert”. Um sie herum ist unfruchtbare Wüste:

“Alles hatte sich über mir geschlossen, wie um mich vor Angriffen zu schützen, ich existiere nicht mehr (…) Und verloren in den Straßen, immer auf der Suche nach der richtigen Tür, allein mit den Träumen und der tristen Realität, irrte ich durch eine neue Anstalt, die noch viel schrecklicher war.”

Tatsächlich kann man nur menschlich sein, wenn man aus sich selbst herausbricht hin zum Nächsten. “Existieren, was heißt das?”, fragt sich Tourniers Robinson auf seiner einsamen Insel. “Das heißt außen sein, sistere ex. Was draußen ist, existiert. Was innen ist, existiert nicht (…) Das ist wie eine Zentrifugalkraft, die alles nach außen treibt, was sich in mir regt, Bilder, Träumereien, Pläne, Phantasmen, Wünsche, Zwangsvorstellungen. Was nicht ex-istiert, in-sistiert. Insistiert, um zu existieren. Diese ganze kleine Welt drängt sich zur Pforte der großen, der wahren Welt. Der Nächste ist es, der den Schlüssel besitzt.”

Was die magersüchtige Frau sucht, ist ein Zustand, in dem sie sich selbst genügt, und sie verrät damit ihre Sehnsucht nach einem verlorenen (oder nie gekannten) Paradies. Indem sie den Status einer “Nicht-Esserin” (oder “einsamen Esserin” im Fall von Eßanfällen) beansprucht, weigert sie sich, das dämonisch-aufreizende, verlockende Geschöpf Eva, Schöpfung des Mannes, zu sein, und beschwört so das Bild von Lilith, die, unabhängig von Adam von Gott geschaffen wurde. Mit ihrem Haß auf die Familie und auf die “normalen” Paare und Kinder sowie ihrer Weigerung, sich dem “Gott-Psychiater” unterzuordnen, hat Valérie Valère Gemeinsamkeiten mit Lilith. Ihr echter Feind ist dennoch immer wieder die Leere – in sich, außer sich -, die Abwesenheit: “primitive Agonie der Verlassenheit” nach R. Gaddini, “Entzug des mütterlichen Objekts”, der einen unerträglichen Schmerz zur Folge hat, und für ihren “psychischen Tod” verantwortlich ist.

Seitdem Valérie geboren ist, erzählt Isabelle Clerc, sind alle Annäherungsversuche auf ihre Mutter hin im Leeren verlaufen. Sie fand nichts Authentisches, an das sie sich hätte anklammern können, bis sie eines Tages ihre Mutter mit deren eigenen Leere konfrontierte. In der Weigerung, sich mit Nahrung zu füllen, machte sie aus ihrem Körper einen Umkehrspiegel und löschte aus ihm jedes fleischliche Zeichen, entsexualisierte ihn und verließ sich dabei auf Erpressung und Ultimaten: “Ihr kriegt mich nicht; ich fordere euch heraus, mich zu kriegen.”

An dieser Stelle wird auch die Verführung in der Verleugnung deutlich, da ja nach Baudrillard die Herausforderung eine der wesentlichen Modalitäten der Verführung ist. Die Magersüchtigen, die von Eßanfällen überwältigt werden, mimen nämlich das Szenario des “Sündenfalls” und die Ängste des moralischen Gewissens. Eva, in den Apfel beißend, ist ein Motiv, das immer wieder in den kunst- und märchentherapeutischen Sitzungen auftaucht und vielleicht einen großen Bereich der weiblichen Pathologie offenbart. Der Apfel, Symbol der fleischlichen Liebe, bedeutet zugleich Leben und Tod, ist aber vor allem seit dem paradiesischen Fehltritt “die verbotene Frucht”, Symbol der verbotenen und um so mehr begehrten Wünsche. Das tyrannische Bedürfnis, ohne Genuß und jenseits der Sättigung Nahrung zu verschlingen, spielt sich daher in der Einsamkeit, hinter verschlossenen Türen ab: Kampf gegen die Versuchung, gegen Hölle und Verführung sowie gegen jenen Sündenfall, der in Nicole Châtelets Novelle als Kampf gegen eine nicht zu zügelnde Bestie beschrieben wird:

“Sie ergab sich ein letztes Mal vor dem Klageruf, vor der Auflehnung des Körpers, und schwor, daß nun Schluß damit sei, endgültig Schluß. Bis der Eindringling sich in der Tiefe seiner Grube beunruhige, bis er in die Richtung des verbotenen Eingangs krieche, schleichend und das ihm Zustehende fordernd, von seinen tausend Mündern getragen, bis sie schließlich trotz ihrer Versprechungen nachgebe.”

Valérie Valère hingegen eröffnet in ihrer Ablehnung der Körperlichkeit – Nahrung, Menstruation, und auch Sexualität – und in ihrem Willen zur Selbstbeherrschung die Perspektive auf eine erlösende Reinigung, unter der Voraussetzung freilich, daß sie unermüdlich gegen die Erregbarkeit ihres Fleisches angeht. Sie erweckt die Tradition der ewigen, von niemandem abhängigen Jungfrau. Valérie macht sich unantastbar. Sie versteht es, zu erscheinen und wieder zu verschwinden, sich zur Hälfte hinzugeben, sich in ein Geheimnis zu hüllen und als Spiegel der Phantasien zu dienen, kurz: zu verführen. Und wozu? fragt sich Isabelle Clerc, wenn die Frau, die sie verführen wollte, ihre Mutter nämlich, ihrem Charme gegenüber unzugänglich und kalt blieb.

Valérie blieb trotzdem bis zum Schluß ihre eigene Herrin, jungfräulich und eins, wobei sich allerdings das Wort “jungfräulich” hier auf einen subjektiven Zustand, auf ein psychologisches Verhalten und nicht auf eine physiologische oder objektive Tatsache bezieht. Valérie wollte geschlechtlos sein und, besser noch, gar keinen Körper haben, in einem endlosen Spiel von Grausamkeit und Verzweiflung. Der Wunsch nach ewiger Jugend und Unsterblichkeit, von dem die Magersüchtige besessen ist, berührt wieder das Thema der Rückkehr in eine primäre Menschlichkeit, in der es den Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht gibt. Die junge Valérie fühlte sich in Wirklichkeit weder als Mann noch als Frau, allenfalls als Mann UND Frau, androgyn wie David Bowie, von dem sie die Musik so sehr liebte. Ihr Körper war kaum weiblich. Sie hatte sehr flache Brüste, schmale Hüften, und nichts von diesem Monatsfluß, der unerbittlich an den weiblichen Zustand erinnert. Als ein Narziß neuer Prägung, ganz in Traurigkeit versunken und voller Selbstekel, grübelte Valérie lange in sich hinein, bis sie sich für die Einsamkeit und gegen das Begehren und damit schließlich für den Tod entschied.

Nach der Psychoanalyse schließt die Fusion das Begehren aus. Das Begehren führt das Kind dazu, sich von seiner Mutter zu differenzieren. Das Recht des Kindes auf ein ihm entsprechendes Ausmaß an autoerotischer Befriedigung ist hier zu beachten. Nun wird Onanie dem Knaben von der Mutter eher zugestanden als dem Mädchen. “Psychonalytiker haben darauf hingewiesen, daß das Verbot der Lust am eigenen Körper den Haß auf die Mutter schüren kann”, schreibt Margarete Mitscherlich. “Als Folge treten Angstgefühle und erneute Anklammerungstendenzen auf, weil das Kind die Abwendung der Mutter als Reaktion auf seinen Haß fürchtet.” Das Begehren wiederzuerlangen, heißt also, die Integrität des eigenen Körpers wiederzugewinnen und sich mit dem “Mangel” zurechtzufinden. Das bedeutet, daß man sich der Außenwelt zuwenden muß, um sich befriedigen zu können. “Kurz, es ist unmöglich, menschlich zu sein, ohne gleichzeitig auch geschlechtlich zu sein: männlich oder weiblich”, behauptet Deveureux. “Männlichkeit wie Weiblichkeit setzen implizit auch die Existenz eines anderen Geschlechts voraus und stellen signifikante Reaktionen auf dessen Existenz dar. In gewissem Sinne könnte man sogar behaupten, daß die Existenz der Männer die Weiblichkeit ‘schafft’, wie die Frauen die Männlichkeit.” Die Tatsache, daß die magersüchtige Frau sich – unbewußt oder bewußt – androgyn fühlt, birgt also den aufschlußreichen Paralogismus, der indirekt die Irreduzibilität der Existenz zweier Geschlechter leugnet. Das Geschlecht löst sich auf in seine Einzelteile, in seine Partialobjekte und fraktalen Elemente:

“Es ist die Stunde der Leibeskultur. Die Stunde des Fließens der Hüften, die Stunde des Taillenumfangs, die Stunde der Jagd auf das Doppelkinn, die Stunde der Fußknöchel, die Stunde des Handgelenks”, schrieb Violette Leduc.

Zwischen Zeit und Ewigkeit, Leben und Tod schwebend und mit einer kindlichen Unschuld versehen, hat die magersüchtige Frau Zugang zu einer sich selbst genügenden Sexualität. Sie transgrediert die biologischen Gesetze der Fortpflanzung und glaubt, dadurch dem Werk des Werdens zu entgehen. Wir sind hier nicht weit entfernt vom Traum der Alchimisten und seiner hermaphroditen Symbolik. Daher ist auch die Faszination verständlich, die von Fernandez’ Roman “Porporino” auf magersüchtige Frauen ausgeht. Die Identifikation mit dem mutigen Kastraten kann Frustrationsgefühle entlasten, die aus der Eingeengtheit der Geschlechterrollen entstehen. Mythologie und Literatur, in der viele magersüchtige Frauen bei künstlerischer oder kultureller Arbeit wertvolle Kraft und geistige Nahrung finden, gehören zur Sphäre von Venus, Aphrodite, Dyonisos, Orpheus und all diesen Göttern oder Halb-Göttern, die zweigeschlechtlich, hermaphroditisch oder geschlechtlich auf eine eigenartige und reizvolle Weise sind. Das aber heißt, daß keine Gefahr besteht: die magersüchtigen Frauen werden von beiden Seiten angenommen (auch dann, wenn die Eltern sich nicht verstehen oder getrennt sind…). Wo auch sollen sie sonst Trost suchen? Wo sollen sie jemanden finden, in dem der Sexus unausgesprochen bleibt, oder wo den Ort, an dem sie sich mit ihrer Kindheit versöhnen können? Und wie sollen sie sich entscheiden, ohne sich zu täuschen? Genau das sind die Fragen.

 

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