2.6 Die Verleugnung der Trennung

<<< Kapitel 2: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit

Je härter die Gesetze des Gewinns werden, desto eher kehrt man in die Kindheit zurück, auf der Suche nach dem verlorenen Glück. In diesem Sinne ist die Magersucht die Bestrafung für die Auflehnung der Frau gegen die Produktionswelt und die genitale Sexualität des Vaters, der sie erzeugte. Die Magersucht ist eine Art zu verschwinden, sich aus dieser “käuflichen” Welt zurückzuziehen; eine Art Schlaf, tief wie ein schwarzes Loch, in dem die Frau den Boden unter den Füßen verliert, ohne es zu merken; eine Art, in die graue Vorzeit zu treten und auf das Unbestimmte, die materia prima zurückzukommen.

Geboren werden heißt, aus dem Bauch der Mutter herauszukommen, sterben hingegen, dorthin zurückzukehren. Wir machen daher im Laufe unseres Lebens nichts anderes, als die ersten Todeserfahrungen zu wiederholen, die für uns die Geburt, das Abstillen und jede Trennung von der Mutter waren. Nach Freud wiederholen wir all dies in unseren Spielen, unseren Träumen und in der künstlerischen Kreativität, wenn es stimmt, daß der Dichter das Gleiche tut wie das spielende Kind. Für die magersüchtige Frau hat diese Trennung nicht richtig stattgefunden. Zum Teil, oder auch im Ganzen, gehört ihr Körper noch der Mutter. Sie hat das mütterliche Objekt, das sie haßt, regelrecht verschlungen, bewahrt es im Tiefsten ihres inneren Selbst auf, wütend gegen sich selbst und mit einem Gefühl der inneren Leere.

Im Verlangen, von der Mutter geliebt zu werden, wendet sie also ihre eigene Gewalt gegen sich selbst. Die Folge ist eine andauernde Vorwurfshaltung, gemischt mit unbefriedigten Abhängigkeitsbedürfnissen und Selbsthaß. Mitscherlich hierzu: “Symbiotische Wünsche nach Vereinigung mit der guten Mutter-Imago bleiben ein Leben lang bestehen.” Im Fall der Anorexie bleibt die Mutter zudem ein Selbstobjekt, das die Tochter zu hassen beginnt, weil die nötige Distanz nie hergestellt werden konnte. Es kommt noch hinzu, daß “die als allmächtig empfundene Mutter der ersten Kinderjahre (…) für unvermeidbare Enttäuschungen verantwortlich gemacht und folglich gehaßt” wird. Die Mutter erscheint als Herrin über Leben und Tod. Sie ist keine weibliche Figur mehr, sondern eine intrapsychische Dimension, ein verlorenes, meist als paradiesisch phantasiertes Reich, ein Zustand des Ungeteiltseins. Darum fühlte die junge Antoinette vermutlich Trost bei der Entdeckung von Michel Tourniers Werk “Freitag oder im Schoß des Pazifik”, das eine “neue Menschlichkeit” preist, “wo jeder seine männlichen oder weiblichen Attribute stolz auf dem Kopf trüge – riesengroß, farbig, duftend.” Tourniers Romanfigur, Robinson, mit dem sie sich identifizierte, vereinigt sich mit der Mutter-Erde und kehrt in ihren Schoß zurück:

“Er war dieser weiche Teig, der eine allmächtige Faust aus Stein ergriffen hatte. Er war diese Bohne, eingebettet in das wuchtige, unerschütterliche Fleisch von Speranza.”

Diese noch phantastischere Regression als die der Neurose hat nun wie das anorektische Verhalten das Ziel, ein mächtiges und präverbales Band mit der archaischen Mutter wiederherzustellen. Manche magersüchtige Frauen äußern in der Tat den Wunsch, “neu geboren zu werden”, wenn sie sich hauptsächlich von warmen Flüssigkeiten (Tee, Kaffee, Gemüsebrühe) oder vom Speiseeis ernähren, von einer sonnigen, von Milch und Honig rieselnden Erde träumend. Als Symbol aller Süßigkeiten schlechthin fließen Ströme von Milch und Honig in allen gelobten Ländern, aus denen der Mensch vertrieben wurde. Die heiligen Schriften aus dem Orient und aus dem Abendland assoziieren Milch, Honig und das gelobte Land miteinander und besingen sie mit sehr nahestehenden Ausdrücken, in denen das Symbol oft eine erotische Konnotation bekommt. Es war die Erde von Kanaan, aber es war auch der Honig der unsterblichen Liebe des Hohelieds Salomonis, der die Aufhebung des (Trennungs-) Schmerzes verwirklichte:

 

“Deine Lippen, meine Verlobte / vergießen reinen Honig. / Honig und Milch / sind unter deiner Zunge. / Ich trete in meinen Garten, / meine Schwester, meine Verlobte, / Ich ernte meine Myrrhe und meinen Balsam, / Ich esse meinen Honig und meinen Strahl / Ich trinke meinen Wein und meine Milch.”

 

Die Milch ist “die Begegnung des Säuglings mit der Erde, das Band zum Leben, zur Mutter und den Menschen.”

Viele Magersüchtige kochen gern für andere. Dabei scheint ein gewisser sozialer Faktor eine Rolle zu spielen. Füttern ist immer ein Symbol von Fürsorge gewesen, also ein Thema, das im Leben von Frauen von großer Bedeutung ist. “In vielen Familien, in denen die Mutter mit der Küchenarbeit betraut ist, übernimmt die magersüchtige Tochter das Kommando, backt ausgefallene Kuchen, ja drängt den anderen das Essen regelrecht auf und verheimlicht auf der anderen Seite, wie wenig sie selbst ißt” , schreibt Hilde Bruch hierzu.

Süßigkeiten sind eine Rückkehr in die Kindheit, in die Unschuld. In der christlichen Religion werden die Engel immer mit Kindergesichtszügen dargestellt. Die Zeichnungen magersüchtiger Mädchen und Frauen, ihre Tag- und Nachtträume, sind ebenfalls voller Darstellungen, die von der sogenannten “Sehnsucht nach dem Paradies” inspiriert werden. “Das Selbstbild einer Klientin, die sich als ‘präraphaelitischen Jüngling’ sah, wäre niemals ans Licht gekommen, hätte ich sie nicht ermuntert, in allen Einzelheiten zu beschreiben, wie sie sich in ihrem gegenwärtigen magersüchtigen Zustand fühlt”, berichtet Marylin Lawrence in diesem Zusammenhang.

“Ich glaube, daß ich die Größe des Unheils nicht merkte”, erzählt die Betroffene Antonella. “Ich fühlte mich wohl, vielleicht weil ich zwischen Leben und Tod war. Ich war nichts mehr, ich dachte nicht mehr, ich hatte keine Angst mehr, ich war quasi vegetativ. Ich schwebte auf einer Art Wolke, ich näherte mich dem Paradies.”

Paradies, das sie in einer Art “Null-Grad-Sexualität” bzw. A-sexualität, in der transzendierten Sexualität jener Engel wiederfand, deren ätherischen und luftartigen Körper sie haben wollte: Antonella hatte sich nie als ‘mager’ empfunden – auch nicht mit 32 kg bei 159 Zentimetern -, da ihr Idealgewicht Null war.

Unter Sexualtität der Engel verstehen wir das Verlangen, das menschliche Dasein zu transzendieren und den Zustand vor dem “Sündenfall” wiederzuerlangen, so wie Karen Margolis es beschrieben hat:

“Du sollst dem Teufel, der Eva mit dem Apfel verführte, widerstehen (…) Deshalb habe ich gehungert, um den Teufel auszuhungern; denn nur wenn ich mir alle Vergnügen des Lebens versagte, durfte ich hoffen, vor Verführung geschützt zu sein.”

Der bloße Gedanke daran, verführt zu werden, erschreckt die magersüchtige Frau. Dies führt dazu, jedes fleischliche Zeichen aus ihrem Körper auszuradieren, um der Verführung zu widerstehen. Auf diese Weise entgeht sie der dualistischen Diskrimination der Geschlechter und drückt ihren Wunsch nach der mythischen Fusion der entgegengesetzten Polaritäten, nach dem Reich der Ambiguität aus.

Als beseligende Figur par excellence ist der Engel zugleich androgyn: dies tritt in der Ikonographie in Erscheinung, die ihm geweiht wurde, doch auch in bestimmten theologischen Thesen. Darüber hinaus berichtet eine lange Tradition darüber, daß der Engel nicht nur rein geistig ist, er hat eine körperliche Dimension, die aber wiederum a priori die sexuelle Dimension ausschließt. Jean Libis spricht von einer verfeinerten Körperlichkeit, einem “subtilen Körper”. So vereinigt der Engel in sich einige wesentlichen Tendenzen der Psyche: die Aufhebung jeder abgegrenzten Sexualität, die Harmonisierung zwischen dem männlichen und dem weiblichen “Prinzip”, die Versöhnung zwischen Macht und Grazie.

Dieser Wunsch nach Vollkommenheit läßt sich auch in der Kunst offenbaren sowie im berühmten Wandgemälde von Delacroix erkennen: der Engel kämpft gegen Jakob, strahlt aber zugleich eine weibliche, schützende und umhüllende Tendenz aus. Ob die Geschlechter vereinigt, aufgehoben oder in einer erschreckenden Synthese transzendiert werden: das anorektische Syndrom schließt grundsätzlich den Wunsch ein, die Differenz der Geschlechter zu verleugnen und zu gleicher Zeit das ontologische Drama zu widerrufen, das sich darin abspielt. In dieser Hinsicht ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Eltern sich in dieser androgynen Phantasie in einem undifferenzierten phallischen Imago vereinigen, in dem der Penis nicht mehr als der einen oder der anderen Imago gehörend spezifiziert wird, da der Vater der magersüchtigen Frau fast immer als Partialobjekt der Mutter erlebt wird. Demnach würde der anorektische Körper den Phallus symbolisieren, der sich als “phantasiertes Bindeglied zwischen Vater und Mutter” entlarvt. Vater und Mutter sind Partialobjekte, die die magersüchtige Frau zusammenzubringen versucht. Sie selbst macht sich damit zum Teilobjekt des Elterngesamts. Man kann also sagen, daß es über die biologische Bisexualität hinaus hierin eine sexuelle Lust gibt, wobei das Geschlecht nicht wissen möchte, auf welcher Seite es steht. Dies ist alles andere als eine Verneinung der Sexualität.

Das erotische Leben, das sich in Tania Blixens “Sieben phantastische Geschichten” entfaltet, veranschaulicht diese Hypothese: “Männer lieben ihre Schwestern, Tanten ihre Nichten, etliche Charaktere sind in sich selbst verliebt, und junge Frauen können und wollen keine Kinder bekommen.” Die Liebe wird verstanden als ein Mittel, die Erlösung zu erreichen, jedoch unter der Bedingung, daß die Liebe im Wesentlichen androgyn sein muß, um die ursprüngliche Vollkommenheit wiederzufinden. Liebe wird zur “wahren” Liebe, wenn der Mann und die Frau innerlich weder Mann noch Frau sind. Außerdem ist es bemerkenswert, daß die literarische Welt, in die die magersüchtige Frau sich in der Regel innbrünstig vertieft, ihrerseits ähnliche Bilder produziert hat. Ein schönes Beispiel wird in Valérie Valères Roman “Malika” vorgelegt, in dem die inzestuöse Leidenschaft der Schwester für ihren Bruder auf ähnliche Weise wie von den Romantikern inszeniert wird: “Malika ist im Labyrinth der Gräber untergetaucht, und ich bin am anderen Ende, ich sehe den Ausgang, bald werde ich ihn erreicht haben, und ich weiß, daß sie auch kommen wird.”

Wir haben gesehen, daß Valéries junge Romanfigur “Malika” sich auf die Idee einer gemeinsamen Zugehörigkeit zum mütterlichen Körper, dem Behältnis der ursprünglichen androgynen Einheit, bezieht, um so ihre inzestuöse Neigung zu rechtfertigen. Die Verbindung zwischen dem Mythos des androgynen Menschen und der inzestuösen Versuchung ist zeitlos: bei Charles Baudelaire, als er die ideale Frau “mein Kind, meine Schwester” nannte, was auf die platonische Gefährtin, die andere Hälfte der verlorenen Androgynie hinweist, woraus eine ganze Reiseträumerei entsteht, die Jean Libis als metakosmisch bezeichnet. “Irgendwohin außerhalb der Welt”, will der von seiner Hälfte amputierte Dichter fliehen. Mehr als jede andere Liebesform wurzelt die Geschwisterliebe im Schema der ursprünglichen Einheit. Auch Violette Leduc “zitterte für Chateaubriand, für Lucile (…) Sie hoffte, daß der Inzest vollzogen war.”

Der Wunsch der magersüchtigen Frau nach dem Inzest, nach einem “Zwilling”, wäre dann nichts anderes als der Wunsch nach einer Wiedervereinigung in einer schützenden Hülle und ihre Ablehnung der Sexualität eine Strategie, die verlorene Androgynie zu verleugnen (séduire [verführen] = seducere = séparer [trennen]). Nur so können wir verstehen, warum sich hinter dem Mythos des Androgynen eine Metaphysik des Sexus abhebt, die auch ein Drama des Exils ist. Immer unzufrieden, träumen magersüchtige Frauen von dem unerreichbaren Unbekannten. “Les vrais voyageurs sont ceux-là seuls qui partent pour partir”, sagt Baudelaire. Aber immer wieder stoßen sie auf das, vor dem sie eigentlich entfliehen wollten: auf sich selbst.

Die Reise wird hier zum Zeichen und Symbol von Zerstreuung und von einer anhaltenden Ablehnung der eigenen Person. Aus der Unfähigkeit, die Trennung als Realitätsprobe zu akzeptieren, läßt sich die Unmöglichkeit ableiten, die Liebe voll zu leben. Die magersüchtige Frau hat Schwierigkeiten, damit zu leben, daß die Liebe der Ort der größten Einsamkeit, der Ort der Abwesenheit ist. Nun gibt es ohne Exil keine lebensfähige Liebe. “Trennen muß man sich, um sich schätzenzulernen”, schreibt Violette Leduc. Die Trennung selbst definiert das eigene Geschlecht und gibt ihm seinen Namen: secte (Sekte), section (Sektion), intersection (Durchschneidung, Kreuzung). Erst durch die Katastrophe oder Urgrenze, die aus uns, ursprünglich Hermaphroditen, d.h. gemischten Körpern, Frauen und Männer machte, können wir die Anderen spüren und kennenlernen. Die Öffnung Anderen gegenüber wächst im Verhältnis zu der Lebhaftigkeit dieser Trennung. Der wesentliche und bedingte, transzendentale Urzustand bleibt aber die Mischung, von der wir immer einige Spuren zurückbehalten. Darum wünschen sich magersüchtige Frauen sehnsüchtig ein Kind “für sich selbst”. Von ihm versprechen sie sich eine mögliche Wiederherstellung der Androgynie, gleichsam eine Liebe inzestuöser Art, die allerdings Gefahr läuft, eine neue Verleugnung eines möglichen Verlustes zu sein. Leider ist die Liebe, von der sie träumen, keine Objektliebe wie es sie in ihrer konkreten Realität gibt. Magersüchtige lieben den Anderen wie ein “Selbstobjekt” und sind auf solche Weise untrennbar mit ihm verbunden, Bestandteil von ihm und zugleich wie ein “Idealobjekt”, “Phantasie von einer unablässig gebenden, grenzenlos liebenden und akzeptierenden Elternfigur”. Sie lassen sich von Idealbildungen faszinieren, die sie als rein geistig erleben, nach außen projizieren und nach denen sie sich sehnen. So auch Valérie Valère, als sie von dem Tod träumte:

“Ich bin fest entschlossen, meine geliebte Herrin wiederzufinden, die schönste von allen.”

Valérie identifizierte sich nur mit idealisierten Projektionen von sich selbst und nicht mit den ödipalen Imagines. Sie wollte niemandem ähneln, weder der Mutter noch dem Vater.

Viele magersüchtige Frauen haben, wie wir gesehen haben, in ihrer frühen Kindheit eine Mangelerfahrung erlebt und sind deshalb “liebeshungrig” geblieben, immer wie Valérie Valère auf der Suche nach einem Idealobjekt, das sie in der frühesten Zeit ihres Lebens meist nicht erhalten haben. Es zeigen sich bei ihnen Fusions-tendenzen mit idealisierten Objekten sowie eine Neigung zu Spiegelbeziehungen bzw. Übertragungen. Bei Valérie drückten sich diese Tendenzen in der Geschwisterliebe aus, bei Virginia Woolf in der Suche nach der geliebten verlorenen Mutter in anderen Menschen bzw. in ihrem Mann und bei Maryse Holder in ihrer Neigung, die mexikanischen Männer so sehen zu wollen, wie sie sie benötigte, ohne sie jedoch als Objekte wahrzunehmen.

Virginia löste zum Teil ihr Problem, indem sie eine asexuelle Ehe einging; Leonard nahm die Stelle der Mutter ein. Bei Maryse läßt sich erkennen, daß sie immer noch “hungrig” nach jener Geborgenheit und jenem emotionalen “Ernährt-werden” strebte, das ihr in der Kindheit fehlte. Da sie diese notwendige “Nahrung” im mexikanischen Alltag nicht erhielt, fiel sie immer wieder zurück in die übermäßige Nahrungszufuhr. Das verschluckte Objekt war für sie jeweils nicht mehr gegenwärtig, und so mußte sie – gierig- weiter essen (und trinken), ohne jemals gesättigt zu werden. Auf diese Weise regredierte sie auf eine “Zeit vor der Sprache”, das heißt jenseits der Erinnerung. Ihre Erfahrung mit den mexikanischen Männern, deren Sprache sie nicht sprach, führte sie zwangsläufig auf die Ebene unbewußter Wünsche nach imaginärer Ganzheit, nach Teilhabe an der Macht der archaischen Mutter, nach Symbiose im Begehren.

Dies finden wir auch bei Marie Victoire Rouiller wieder, als sie von der Zeit in Spanien erzählte:

“Diese Worte mit dem unsicheren Sinne warfen mich auf die Morgendämmerung der Sprache zurück, auf dieses Paradies vor der Vernunft, in dem die mütterlichen Stimmen sich um uns herum wie ein Kokon aus Speichel und Seide weben.”

Sie lernte also eine andere Sprache, eine Fremdsprache, “in einem Ort vor dem Gedächtnis”, wo sie noch nicht mit dem Tod ihrer Mutter gefesselt war. Schließlich fand aber der Wunsch nach Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit, der mütterlichen Symbiose, seinen Ausdruck in dem Wunsch nach dem Tod.

Das Modell des Todes erscheint, wenn der Körper die Organe zurückstößt und sie ablegt: kein Mund, keine Zunge, keine Zähne. Die Anorektikerin ißt NICHTS, wie Lacan erinnert – manchmal bis zum Selbstmord: sie verweigert die Nahrung, weil diese sie bloß als Nachfrage befriedigt und als begehrendes Subjekt verschwinden läßt. Indem sie in das Nichts hineindringt, um sich der Unsterblichkeit zu versichern, setzt die Anorektikerin, gleichsam als Tochter der Nacht, ihr Leben aufs Spiel. Und der Körper, den ihr Ich wie “ein Ding” anschaut, ähnelt seltsamerweise dem “organlosen Körper” des Schizophrenen. So für Violette Leduc:

“Sie weiß nicht mehr, ob sie betrübt ist oder Hunger hat. So leben, den Kopf nach vorn gebeugt, das Kinn an die Brust gezogen, ohne Muskeln, ohne Nerven, ohne Knochen.”

“Ich wünsche das Nichts”, schrieb auch Valérie Valère. “Ich bin allein, allein mit meinem Körper, der nichts will, der nichts verlangt, außer zu sterben.”

Valérie sagt nicht mehr wie im “Haus der verrückten Kinder”: “Ich weiß, daß der Tod schön ist”, sondern sie preist in ihren Romanen die Liebestollheit, die übermäßige Leidenschaft zwischen Bruder und Schwester, die mit dem Tod der Schwester endet. Sie geht also von der Autobiographie zum Roman über und nimmt die großen Liebesmythen wieder auf. Dabei müssen wir berücksichtigen, daß Valérie sich nicht gespürt und geliebt hat wie “eine andere”, das heißt, wie ein Bild, das als Stütze der Identifizierung fungiert hätte. Sie blieb mit der imaginären Achse zusammengeschweißt, die die leere Sprache (ohne Zunge) mediatisiert. Und die Leere der Sprache wurde durch einen gierigen und leer funktionierenden Bauch metaphorisiert. Valérie war unfähig, jenen Abschnitt der Spiegelstufe zu überschreiten, in dem der Anfang der Strukturierung des Selbstbildes sich durch ein asexuelles Bild des Anderen konstituiert. Wenn ein Spiegelbild den Spiegel undurchsichtig macht, zersplittert die ganze Identität in einer bestürzenden Entstellung, so als ob es Narzissus, konfrontiert mit der Gefahr, das aus dem Auge zu verlieren, was ihm als Spiegelbild auf der Wasseroberfläche dient, vorzöge zu sterben, ja sogar sich in den bodenlosen Teich zu werfen, auf eine tödliche Fusion zu, als sich dem eigenen Leben zu stellen. Leere nicht nur als sexuelles Wesen, sondern als Anderer des Anderen, schreibt hierzu J. McDougall.

Auf die Frage “Wer bin ich?”, weist der aufgezehrte und skelettartige Körper der Anorektikerin auf das, was von der Mutter nicht symbolisiert worden ist (ein Tod, dessen Trauerarbeit nicht geleistet wurde? ein Verlust, der eine unerträgliche Spur zur Folge gehabt hätte?) und legt von dieser Abwesenheit Zeugnis ab. Die betroffene Antonella:

“Dank einer Psychotherapie habe ich den Grund oder vielleicht einen der wichtigsten Gründe für meine Anorexie herausgefunden: ein Jahr vor meiner Geburt hat meine Mutter ein totes Kind zur Welt gebracht, und sie hat sofort ein anderes Kind gewollt, um das verstorbene zu ersetzen. In Wirklichkeit war ich also nicht Antonella, sondern Vincenzo. Ich glaube, daß ich schon immer dieser verstorbene Sohn sein wollte. Es wird erzählt, daß man in der Anorexie geschlechtlos sein will. Wenn ich das Essen verweigerte, wollte ich Vincenzo, diesen anderen in mir aushungern. Als ich selbst mit einem Sohn niederkam, habe ich sofort zu meinen Eltern gesagt: ‘Das Kind wird meinen toten Bruder ersetzen. Ich kann ihn euch endlich zurückgeben!’ Und ich nannte ihn Vincenzo. Ein Jahr später war ich wieder in der Klinik: Lustlosigkeit, Gewichtsverlust, völlig daneben; ich konnte mich um das Baby nicht kümmern. Ich war verloren. Ich war nicht mehr da.”

Durch ihr Überleben stellt die Anorektikerin also die Frage nach dem Unterschied zwischen einem Toten und einem Lebenden. “Wer bin ich? Lebe ich? Bin ich ein Toter?” “Sie kriegen mich nicht”, wiederholte Valérie ständig. “Sich kriegen lassen” heißt nichts anderes, als die Nahrung einzunehmen, die symbolisch das repräsentiert, was von außen kommt, d.h. die Kolonialisierung des Körpers. Nun hat Valérie seit ihrer Frühkindheit gelernt, daß sie sich auf die Anderen nicht verlassen kann, daß sie ohne sie über-leben muß und vor allen Dingen nicht von ihnen abhängig sein will, da sie alle die Sprache des Aggressors sprechen:

“Ich hätte mir Wörter gewünscht, die durch alle Häute dringen, durch die falschen, gezierten … Worte, die sich in ihre Gedanken einschleichen, ohne daß sie sie los werden können”, schrieb Valérie, “Worte, die in ihnen einen Kloß von Bitterkeit hinterlassen, der so schwer runterzuschluken ist wie der, gegen den ich seit Ewigkeiten ankämpfe.”

In einer Welt, in der die Sprache die symbolische Ordnung verhöhnt, denunziert die anorektische Frau durch ihr Opfer das Herabsetzen des Menschen zum Tier. Sie verachtet die Welt, entlarvt wie einmal Kafka ihr “Menschen- und Tiergericht” als eine Instanz, die sich aus Lügen und hemmungsloser Triebhaftigkeit zusammensetzt.

Wird nicht genau das durch die Mund-Maschine der Bulimikerin parodiert? Das Reich der Bedürfnisse erscheint als Paradies im Vergleich zu dem Unheil des Sexuellen; das ursprüngliche Objekt – die archaische Mutter – ist das erträumte Objekt; Objekt der Sehnsucht und Objekt, das noch nie existiert hat, schreibt C. Balasc ; Krankheit eines rein animalischen Hungers, aus dem das Begehren ausgeschlossen ist, und auch Unmöglichkeit, das Bild der abwesenden Mutter zu verinnerlichen. Die magersüchtige Frau lebt eine Zeit ohne Negation, ohne Entscheidung, eine neutrale Zeit, in der nichts anfängt und nichts zu Ende geht. Sowohl bei einer nicht verarbeiteten Trauer als auch bei einer unerwünschten Geburt ist die Trennung problematisch, da sie die Frage nach dem Begehren der Mutter oder der Abwesenheit des mütterlichen Begehrens für das Kind aufwirft. Daraus entsteht das Bedürfnis, geliebt zu werden, und die Angst, es nicht zu sein, und das Verlangen nach dem Begehren der Mutter, das das Subjekt dazu verurteilt, den Versuch der Loslösung von dieser endlos zu wiederholen.

Marie-Claude, die fiktive Figur in Nicole Châtelets Novelle “La belle et sa bête”, verzehrt riesige Nahrungsmengen, weil sie vom Anderen nichts erwartet. Danach erbricht sie die Nahrung, um auszudrücken, daß sie sich etwas anderes wünscht. Durch ihr Jojo-Spiel mit der Nahrung (jeu de va-et-vient) regrediert sie in die mythische Zeit des Abstillens, die Zeit der Entwöhnung und des Entzugs, und versucht, sie auf diese Art zu symbolisieren.

Die Frustration entspricht aber Tantalusqualen. Sie bezieht sich nicht auf das Objekt des Bedürfnisses, sondern auf die Liebesgabe. Die Ablehnung des Abstillens, die Verleugnung der Abwesenheit des Objekts, der Wunsch danach, die Mutterimago wiederzufinden, die masochistische Suche nach einem realen Objekt, um den durch die Wahrnehmung der Abwesenheit hervorgerufenen Schmerz zu verneinen, zeugen von der Spezifität des süchtigen Verlangens: der Mund ist zugleich Wiege und Grab. Er bietet das Bild einer Frau, die sich entmenschlicht. In der Phantasie kaut sie ihr eigenes Fleisch, sie zerstückelt etwas Leeres und erweckt die Geister, von denen sie besessen ist. Ihr Hunger hat schlechthin “aufgehört, menschlich zu sein.”

Die Familie ist zwar im Besitz des Geheimnisses, gibt es aber unter keinen Umständen preis. Die Kehrseite des mit so viel Sorgfalt bewahrten Geheimnisses ist der Heißhunger und wird als der “böse Kern” bezeichnet:

“Wie soll man sich in Frieden ernähren, die Nahrung in sich behalten, sie im Körper arbeiten zu lassen, ohne zum Menschenfresser oder zum Teufel zu werden?”, fragt sich Marie-Victoire Rouiller. “Ich wollte nichts verschlingen, nichts zu mir nehmen. Ich wollte nur genommen und beibehalten werden.”

Engel oder Tier? Geist oder Fleisch? Keine der zitierten Frauen wird diese Frage erörtern, indem sie mit vollen Händen den Kuchenteig in ihren weit aufgerissenen Schlund schiebt. Denn es geht hier um das Nicht-geboren-sein. Die schwarze und nackte Tiefe der Trostlosigkeit, in die sie stürzen, symbolisiert die ungestalteten Zustände des Daseins. Auf der psychologischen Ebene entspricht diese bodenlose Tiefe der Unbestimmtheit der Kindheit wie der Undifferenziertheit der Endzeit, dem Verfall der Person. Auf der sozialen Ebene entspricht sie eher einer fast barocken Todesnähe und Koketterie mit der Endzeit, der “coolen” und leeren Selbstinszenierung der New-Wave-Generation, die es ablehnt, die Verantwortung für das eigene Leben zu tragen. Solange das Subjekt zwischen dem “Alles oder Nichts” gefangen ist, nimmt die Schuld die Stelle der Verantwortung ein. Diese Bemächtigung zeigt, wie das Subjekt von einem Geist bewohnt wird, von dem es nicht weiß, woher er kommt; dieser Geist ist nach Balasc eine Art ahistorischer Figur. Wonach Marie-Victoire jedoch verlangt, ist, daß jemand das Messer erhebt, um sie zu opfern, damit sie aus der Asche (oder dem Blut) ihrer toten Mutter neu erstehen kann und die Mutter in ihr getötet wird. Nur als eigenständige Person will sie leben.

 

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