2.5 Der Mythos der Androgynie

<<< Kapitel 2: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit

“Leute, die mich nicht kennen, sagen am Telefon manchmal ‘Monsieur’ zu mir. Ich verbessere sie nicht, und oft antworte ich: ‘Sie ist nicht zu Hause.'” (Leonor Fini)

 

Im Ursprung seien die Geschlechter eins gewesen, so wollen es die Mythen verschiedener Völker. Dies aber sei vor der Zeit der Trennung zwischen Himmel und Erde gewesen, vor dem Beginn der Geschichte und deshalb unwiederbringlich dahin. Wenn wir uns auf Platons “Gastmahl” beziehen, wird von einem Wesen phantasiert – Androgyn mit Namen (andro = männlich, gyne = weiblich), kreisförmig von Gestalt, mit vier Armen und vier Beinen -, dessen strahlende Stärke und ungeheuerliche Kraft die Götter herausforderte, bis ein wütender Gott es wie eine Frucht in zwei Hälften zerteilte und einer jeden den Kopf umdrehte, damit der Mensch, “seine Zerrissenheit vor Augen habend”, sittsamer würde! In die Welt auf gut Glück geworfen, irren seitdem diese beiden Teilabschnitte unglücklich und unvollkommen auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte umher. Ihr Schicksal, ihr Verhängnis: wenn sie nicht zueinander finden, können sie sich nicht verwirklichen.

Für Platon ist die Liebe eine Suche nach der ursprünglichen Einheit. Die Liebe entsteht durch den “Mangel”. Aber die Männer, die die Frauen lieben und die Frauen, die die Männer lieben, bilden nur eine Kategorie von Menschen. Es gibt noch zwei andere Kategorien: die Frau, die sich den Frauen zuwendet, weil sie Teilabschnitt einer Frau ist, und der Mann, der die Männer liebt, weil er Teilabschnitt eines Mannes ist. Von allen drei Kategorien privilegiert Platon moralisch die dritte. E. Bornemann hat darauf hingewiesen, daß die griechische doppelgeschlechtliche Gottheit eine Neigung zum Männlichen hat: sie ist die “Wunschfigur des Päderasten”, der die Vagina häßlich, schön hingegen Penis, Busen und After findet.

Die Mehrzahl der Menschen zieht dennoch die erste, die heterosexuelle Kategorie vor und ignoriert häufig die zwei anderen. Auch in der eschatologischen Anschauung des Seelenheils kehrt der Mensch in eine Vollkommenheit zurück, in der die Trennung zwischen den Geschlechtern sich aufhebt. Auf daß man an diesen Mythos oder an die Lehren der christlichen Gnosis erinnert werde, wird die Androgynie als der Urzustand dargestellt, der zurückerobert werden muß. Nach der gnostischen Tradition besaßen daher der Mann und die Frau in ihrer ursprünglichen Form einen einzigen, mit zwei Gesichtern ausgestatteten Körper. Gott trennte sie, indem er jedem einen Rücken gab. In diesem Augenblick begannen sie ein differenziertes Leben zu führen. Zu zeigen – nach dem Mythos der Genesis -, daß Eva aus Adams Seite geschaffen wurde (was sozusagen das Ei vor das Huhn stellt), weist darauf hin, daß das Menschliche (der archaische Adam Kadmon) ursprünglich doch undifferenziert war. Alle diese Mythen drehen sich um das primäre Begehren, das die Psychoanalyse als die nostalgische Sehnsucht nach der verlorenen Einheit (mit der Mutter) verstanden hat.

Am Anfang war das Begehren ein “reißender Wildbach, den Natur und Gesellschaft in einen Kanal, in eine Mühle, in eine Maschine eingesperrt haben, um ihn zu einem Zweck zu unterjochen, an dem ihm von sich aus nichts gelegen ist: der Erhaltung der Art.” So schreibt der Schriftsteller Michel Tournier, der sich auch gern in Wäldern von androgynen Allegorien verliert. Nach Tournier ist das Begehren seiner Romanfigur, Robinson, nicht aus Mangel an Nahrung zugrunde gegangen, sondern im Gegenteil durch das Fasten gänzlich frei geworden:

“Anstatt sich gehorsam in das von der Gesellschaft im voraus bereitete Bett zu begeben, fließt (es) von allen Seiten über und rieselt sternförmig, gleichsam tastend sich einen Weg bahnend, wo es sich sammeln und einmütig auf einen Gegenstand zusteuern wird.”

Natürlich geht es hier um eine Fiktion und dennoch wird genau der ekstatische Zustand beschrieben, den viele magersüchtige Frauen durch das Fasten erreichen. Die Magersucht ist eine “Robinsonade”, eine Welt ohne die Anderen. Das Objekt des Begehrens ist nicht der Körper, sondern dessen himmlisches, hauchdünnes Bild. Indem sie eine Welt ohne die Anderen aufrichten, leben magersüchtige Frauen wie Robinson auf einer verlassenen Insel, d.h. sie trennen das Begehren von seinem Objekt, um die Eingeschlechtlichkeit des Urzustands zurückzufinden:

“Sie hält in ihrer Hand die Kartoffel für eine Woche”, schreibt Violette Leduc. “Einer Knolle ähneln, von Erde umhüllt sein, nicht mehr die Zerrüttung der Eingeweide ertragen.”

“Ich wollte meinem körperlichen Wunschbild nahekommen, einer Kombination aus Mann und Frau, dem sogenannten androgynen Menschen”, schreibt Karin Margolis in ihrem Bericht , und weiter: “Tief in mir bin ich mir meines androgynen Wesens als Definition meines Seins bewußt.”

Die magersüchtige Frau möchte also kein Junge, sondern unisex sein. In dieser Phantasie erkennen wir auch Antigones Anspruch auf die Freiheit, den Körper, die Sexualität, den Tod und schließlich jedes Gesetz, das nicht von ihr selbst stammte, zu ignorieren. Wir dürfen daher sagen, daß die Magersucht das Verlangen nach einer Identität diesseits und jenseits der Geschlechtlichkeit widerspiegelt. Für B. Brusset handelt es sich dabei nicht unbedingt um eine Ablehnung des eigenen Geschlechts, sondern um die Suche nach “etwas anderem”, nach einer anderen Weiblichkeit durch eine reinere und geistigere Ästhetik. Zur Begründung dieser Hypothese präzisiert Brusset, daß die magersüchtige Frau zuerst “schlank” und nicht “mager” sein möchte, daß sie die Macht der Faszination, die sie von den unbestimmten Formen der Frühjugend erwartet, ins Unermeßliche steigern will und damit letztlich der Zeit trotzt, indem sie die Formveränderungen ihres Körpers zurückhält, um sich eine relativ geschlechtliche Undefinierbarkeit zu erhalten.

“Ich hatte das Gefühl, daß ich von irgendeiner schrecklichen Strafe heimgesucht würde, einer Strafe für ein Verbrechen, das ich niemals begangen hatte. Doch unbewußt war mir klar, daß das vermeintliche Verbrechen zweifach war: ich wurde bestraft dafür, daß ich weiblich war und daß ich herangewachsen war. Gleichzeitig fühlte ich mich im sexuellen Sinn gar nicht weiblich. Männlich fühlte ich mich auch nicht, sondern empfand mich eher als Neutrum, wie ein Kind sich vieilleicht als Neutrum empfindet” , schreibt auch S. Mac Leod. Und sie fährt fort: “Das Frauensein lehnte ich nicht deshalb ab, weil ich es vorgezogen hätte, ein Mann zu sein, sondern weil ich lieber ein Mädchen sein wollte.” Also doch ein Neutrum: DAS Mädchen!

Die Angst, erwachsen zu werden, unterstützt die Flucht aus der Gegenwart in eine idealisierte Vergangenheit, in eine tiefe Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter, in dem die Menschen noch wie Götter lebten, geschützt vor Sorgen und Leiden; wo es kein Altern gab und sie dem Gesetz der Arbeit nicht unterworfen waren; und wo niemand ans Töten dachte, in einer Zeit ohne Gesetze, ohne Städte, als Nomaden lebend (in Nomadenzeiten gab es keine Grenzen; es herrschte Konfluenz). Diese Phantasien bringen deutlich die Ablehnung des Erwachsenenalters zum Ausdruck, einer materiellen Welt voller Zwänge und Pflichten, in der die Dimension des Begehrens völlig abwesend, ausgeschlossen ist. “Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”, sagt die Ameise zur Grille, die den ganzen Sommer gesungen hat, in der bekannten Fabel von La Fontaine. “Essen, um so ein Leben zu führen? Niemals!”, antwortete Valérie Valère leidenschaftlich darauf. “Lieber der Tod.” Jenen Tod, der in ihren Augen die einzige Zuflucht war: Auflösung des Körpers und Fusion mit dem Ganzen, einzige Rettung vor einer Welt ohne Begehren. Die Schlußfolgerung:

“Ihr habt mir eure Welt wie einen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet, ich werde den Weg nie finden, ich bin verloren. Was besitzen die Leute eurer Welt, abgesehen von ihrem Reich des Sex? Was besitzen sie in ihrem Inneren? (…) Wofür leben sie? Für nichts, um zu tun, was man ihnen sagt.”

Und Violette Leduc:

“Warum sollte leben nicht dasselbe sein wie sich in der Sonne zu wärmen, man muß essen, um zu leben, auch die Blattlaus ist dieser Meinung. Brot bedeutet Zukunft. Wenn sie weiterleben will, darf sie nicht essen. Das ist nun mal so.”

Essen heißt daher nichts anderes, als der allmächtigen Arbeitswelt der Kernfamilie den Vortritt zu lassen, die ein reales Objekt – die Nahrung – aufzwingt, und das ernährte Wesen zu einem Wesen reduziert, das von Bedürfnissen lebt. Die Anorektikerin sagt “Nein” zu der Nahrung, damit das Begehren eintritt. Sie opfert ihren Körper, der nur das Bedürfnis erfahren hat, damit das Leben von der symbolischen Ordnung bewohnt wird. Ungezähmt geht sie freiwillig auf einen “Entre-deux-morts” zu, diesen Raum, wo der Tod auf das Leben und das Leben auf den Tod übergreift. Wie Antigone läßt sie sich freiwillig in der Familiengruft “lebendig einmauern”. Imaginär stellt sie diesen Raum dar, den fehlenden Unterschied zwischen Tod und Leben verkörpernd. Damit drückt sie aus, daß sie noch nicht geboren ist. Sie ist ein NICHTS:

“Ich bin verängstigt bis auf die Knochen. Tot und verängstigt. Wenn ich mich mit einer Schaufel und Erde neu machen könnte, würde ich mich neu machen”, wünschte sich Violette Leduc.

Sind die Erde und der mütterliche Bauch aber nicht die zwei Räume des gleichen Bildes? Nach Bachelard sind Tod und Schlaf zwei ähnliche Verwandlungen in die verpuppte Larve eines Wesens, das aufwachen und neu auferstehen muß. Auch dieser Wunsch nach Auferstehung läßt sich in der Magersucht erkennen. Er wird deutlich von Sheila MacLeod ausgedrückt:

“Ich wußte nicht, wie ich mich aus dem Grab erheben und die bleiche Jungfräulichkeit meines Fleisches und meiner Psyche verlieren, meinem Verlangen nach einem Leben folgen sollte, das ich jetzt als erstrebenswerter anzusehen begann als das halbe Leben, in dem ich gefangen war.”

Wenn Magersüchtige das Gefühl haben, daß sie noch nicht geboren sind, heißt es mit anderen Worten, daß sie sich noch im Schoß ihrer Mutter befinden, daß sie sich von ihr nicht getrennt haben. Für den Embryo im Uterus existieren Trennung, Schmerz und körperliche Bedürfnisse noch nicht, er lebt in einem Zustand der Einzigartigkeit, des ungetrübten Glücks, der narzißtischen Vollkommenheit:

“Wenn ich meine Kindheit nochmals leben könnte, (würde ich) sie im Beutel eines Känguruhs leben” , schrieb Violette Leduc. Vom Schreiben erwartete sie die Erlösung bzw. das “Tor zur Welt”, also die Möglichkeit, selbständiger zu werden. Werke sollen aber auch den Schriftsteller überleben. Er erfüllt sich damit den Wunsch nach Unsterblichkeit. Dem Tod entkommen und dem Leben entfliehen: die Androgynie ist eines der Gesichter dieser Sehnsucht, die sich in der Kunstschrift erraten läßt. Dies ist auch die Geschichte von Orlando, ein Werk, das Virginia Woolf vielleicht aus der Psychose rettete, indem sie über das Imaginäre einen Zugang zu der bisexuellen Androgynie fand, die sie bei ihrer Freundin Vita Sackville-West faszinierte. Ihre Romanfigur “Orlando” war zunächst männlich, dann weiblich, aber als er zur Frau geworden war, liebte sie dennoch die Frauen weiter, wie in der Zeit, als sie ein Mann war. Orlando erlebte zwar eine geschlechtliche Verwandlung, behielt aber den Urzustand und die Abstraktion eines androgynen Idealbildes.

Virginia Woolf gab sich über ihren Zustand keinerlei Selbsttäuschung hin: “Arme Billy”, schrieb sie über sich selbst “ist weder das eine noch das andere – kein Mann und keine Frau”. Ihre Ansicht mag durch ihre Romanfigur “Mrs. Dalloway” zum Ausdruck kommen, die, obwohl Ehefrau und Mutter, “eine übers Gebären hinaus bewahrte Jungfräulichkeit nicht abstreifen” konnte, “die ihr anlag wie ein Leintuch”. Mrs. Dalloway hatte eine Abneigung gegen Sexualität – gegen diese Sache, die sie “dieses kalte Wesen” nannte. Für Virginia gab es schon seit der Kindheit nur Intellekt und Gefühle – kein gesundes Austoben im Freien – und sie konnte sich nicht erinnern, sich je ihres Körpers erfreut zu haben, denn sie “habe beim Tod ihrer Mutter und ihrer Halbschwester Stella irreparable Schläge erhalten.” Daher erschien sie in den Augen ihres Mannes Leonard als die Aspasia von Platon:

“Wenn ich an Aspasia denke, denke ich an Hügel, die sich sehr klar, aber in großer Ferne gegen einen kalten blauen Himmel abheben, auf ihnen liegt Schnee, den nie eine Sonne zum Schmelzen gebracht hat und auf den nie ein Mann seinen Fuß gesetzt hat.”

Die “nur aus ewigem Schnee bestehende” Virginia fand wie viele andere eßgestörte Frauen keinen Gefallen an der sexuellen Liebe. Schon bald nach ihrer Hochzeit bezogen Leonard und sie getrennte Schlafzimmer. “Und Leonard brachte ihr auf einem Tablett das Frühstück, das sie im Bett einnahm.” Hatte Virginia sich anfangs passiv verhalten, so verhielt sie sich bald eindeutig ablehnend gegenüber der Sexualität. Danach lebten sie “keusch”.

Virginia blieb auch in der Ehe wie eine Art “Jungfrau”. Zu ihrer Zeit war es eine Kunst gewesen, einen geduldigen und verständnisvollen Mann ausfindig zu machen, der sie nicht zu sehr bedrängte. Doch schließlich hatte sie ihn doch entdeckt: “Aus eigenem Antrieb hätte sie gar nichts gegessen und wäre allmählich verhungert”, schreibt Leonard Woolf über sie. “Oberflächlich gesehen wird man vermutlich sagen, daß sie (absolut unbegründet) Angst davor hatte, dick zu werden. Aber da war in ihrem Hinterkopf oder in ihrer Magengrube noch etwas, das tiefer lag, ein Tabu zu essen. Ihr Wahnsinn war von einem Schuldgefühl durchdrungen, dessen Herkunft und Eigenart ich nie recht ermitteln konnte, der aber auf eine besondere Weise vor allem an Nahrungsmittel und Essen gebunden war.” Heute weiß man, daß die Selbstverleugnung in bezug auf das Essen und die Leugnung des sexuellen Genusses und der sexuellen Befriedigung zusammengehören. Beides galt früher als “Sünde des Fleisches”.

Virginia wollte ihre eigene Herrin sein und zu keinem Geschlecht gehören. Der Kampf zwischen Lebenswillen und Todessehnsucht, zwischen “Ruhe- und Mastkuren” und Essensverweigerung, wurde zum Streit zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen in ihrer Seele. Ihre Beziehung zu Leonard nahm dennoch immer mehr die Form einer inzestuösen Liebe an. Er ersetzte gleichzeitig den bewunderten Vater, den keuschen und geliebten verstorbenen Bruder, die gütige, zu früh verlorene Mutter und übernahm die Rolle der Krankenschwester, wenn sie das Essen verweigerte. Seine Enthaltsamkeit war auch notwendig, um die Erinnerung an die sexuelle Mißhandlung durch die zwei Halbbrüder auszulöschen. Ohne besondere Betonung oder merkliche Hemmung sagte Virginia einmal von ihrem Mann: “Leonard ist meine Mutter.”

Für sie waren das Männliche und das Weibliche eindeutig austauschbare Bilder: das eine und das andere führten zu ihrer Verschmelzung in der Phantasie der Androgynie. Allein diese Phantasie schien die Schmerzen lindern zu können. Das verlorene mütterliche Paradies wurde durch eine pantheistische Fusion mit der Natur ersetzt. Orlando bezeichnete sich als “Schwester der Heide” und träumte von einer Hochzeit mit der Natur, denn viel mehr als die Vervielfältigung der Geschlechter wünschte sich Virginia deren Aufhebung. Weder männlich noch weiblich, aber auch nicht homosexuell stellte Virginia schon damals allen die Frage nach dem Unterschied zwischen den Geschlechtern. Auch die magersüchtige Frau von heute schwankt zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, dem Wunsch, allein über ihr Leben und ihren Körper zu verfügen, und ihrer Sehnsucht nach Verschmelzung, ohne aber den Zugang zu der zweigeschlechtlichen Androgynie zu erreichen, nach der sie strebt. Sie fühlt sich hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Naturen, und ihre Eßstörung drückt schließlich eine geschlechtliche Identitätskrise aus.

Baudrillard spricht daher auch von Amerika als der Inkarnation einer “anorektischen Gesellschaft”, in der es kein Männliches und kein Weibliches mehr gäbe, sondern eine Ausbreitung individueller Geschlechter, die sich nur auf sich selbst beziehen, jedes von ihnen sich wie ein autonomes Unternehmen verwaltend. Das von ihm zitierte Beispiel der “muscle-woman”, die durch die alleinige Übung ihrer vaginalen Muskeln die männliche Penetration zu reproduzieren in der Lage ist, erläutert eben diese Hypothese der Selbstbezüglichkeit und der Ökonomie der Differenz in der westlichen Welt. Dieses Phänomen wird schon deutlich im erotischen Standardwerk “Emmanuelle”, das die Masturbation preist, weil sie die Autonomie der Lust zuläßt. Emmanuelles Ideal war es, einer Molluske ähnlich zu sein, die männlich zur Welt kommt, zum Hermaphroditen wird und schließlich weiblich ist: eine Phantasie, die auch in Virginia Woolfs “Orlando” zu finden ist. “Sich selbst gebären”, sich selbst gestalten: das ist der tiefste Wunsch auch der magersüchtigen Frau. Männlichkeit und Weiblichkeit gehen über ihre Grenzen hinaus, um schließlich das Ganzheitsimago des Menschen zu realisieren, das dem Abbild der Göttlichkeit ähnelt, denn jede Göttlichkeit ist androgyn, braucht keinen Partner, gebiert solo, ist eine Jungfrau-Mutter.

Diese Sehnsucht nach der ursprünglichen Ganzheit, wo Alles in Allem ist und Alles mit Allem und das Männliche ohne Geschlechtsunterscheidung mit dem Weiblichen kommuniziert, ist typisch für die Magersucht. Die Lust wird auf der körperlichen Ebene – durch die Gegenbesetzungen, die sie verdecken – in einer Art regressivem, außerhalb der erogenen Zonen gelebten Autoerotismus wiederentdeckt: Lust des in Bewegung befindlichen Körpers und Erotisierung des Hungers, die nach Kestemberg, Kestemberg et Décobert im “Orgasmus des Hungers” ihren Kulminationspunkt erreichen kann. Magersüchtige Frauen sind immer “hungrig”, aber jenseits des Gastrointestinaltrakts, nämlich nach Liebe und Anerkennung. Dieses Verlangen nach Liebe und symbiotischer Fusion, und der Gegenpol zu diesem intensiven Gefühl, die panische Trennungsangst, wird von vielen Betroffenen geschildert:

“Ich weiß, daß ich nichts tun kann als schreien”, schrieb Valérie Valère, “ein irrer Schrei, der nur mein eigenes Herz, nur meine eigene Stimme zerreißt, ein Schrei für die verlassenen Kinder, ein neuer Appell, eine Bitte um Liebe, die wiederum in der Leere der schmutzigen Straßen, in der Leere dieser von prostituiertem Sex eingenommenen Hirne untergehen wird. Niemand hört.”

Nach dem französischen Philosophen Jean Baudrillard hat “Sex”, bzw. die sexuelle Befreiung, auf die Valérie sich bezieht, zu einer Rollenverwirrung beigetragen und seit Mai 1968 uns alle in einem Zustand der Undefinierbarkeit zurückgelassen. Seit jener Zeit wurde das Recht zur sexuellen Freiheit ausgerufen, und die jungen Mädchen durften plötzlich, mit dem Einverständnis ihrer Mutter, die Pille nehmen. Die eigenen sexuellen Bedürfnisse wurden endlich ausgelebt (unter der Kontrolle der Mutter) und manchmal sogar zur Schau gestellt wie im Fall von Maryse Holder, die an ihrem unersättlichen sexuellen Verlangen scheiterte. Die sexuelle Befreiung wurde bei ihr tatsächlich zu einer Pflicht und zu einem bitteren Kampf:

“Meine neueste Masche, mich wie ein Mann zu verhalten (männliche Emotionen und Bedürfnisse an den Tag zu legen), nur gekonnter (cleverer, subtiler). Der Typ gefiel mir und ich schleppte ihn ab – wie kann er dann noch wagen, mich als passive, dumme Kuh hinzustellen, die er rumgekriegt hatte, die er in aller Öffentlichkeit betatschen kann.”

In Mexiko prallte Maryse mit ihrem Emanzipationsanspruch immer wieder gegen eine grausame, restriktive Moral – wie ein Vogel gegen eine Fensterscheibe: “Ich kann ihm nicht beibringen, daß ich eine Klit habe oder vielmehr, daß die Klit das weibliche Geschlechtsorgan ist. Der Kontext fehlt völlig”, schrieb sie an ihre Freundin. “Was die Frauen wahrscheinlich am meisten trifft, ist die Tatsache, daß sie das unsichtbare Geschlecht sind.”

Die Geschlechtsteile des Mädchens, die es ja spürt und hat, werden meist nicht benannt. Das, was Maryses Briefe zum Ausdruck bringen, ist eigentlich der Wunsch der Frau nach eigener, erlaubter sexueller Befriedigung und nach Wertschätzung des weiblichen Geschlechts durch das andere, das männliche Geschlecht. So kam es bei Maryse zu Phantasien, die die Differenz der Geschlechter verleugneten, obwohl sie sich in einer Kultur eines “Machotums” bewegte, die sie ständig in die traditionelle passive weibliche Rolle zurückzudrängen versuchte. “Wie der Mann zu sein”, war wie die Erlaubnis, Sexualität zu haben. Maryse hing aber nach einer Weile dermaßen alles “zum Hals heraus”, daß sie sich im Laufe ihres Aufenthalts immer mehr in einem Gefühl des “mich kotzt alles an” in einen Brechzwang steigerte. Ihre Wut ließ sie nicht richtig heraus, denn für sie bedeutete “wütend auf Männer zu sein” auch “fett zu werden”. Und fett zu sein, bedeutete, nicht nur ihr Thema zu verlieren, sondern auch die Sache, für die sie lebte: “das Verlangen”. Sie ließ sich daher auf keinen Mann richtig ein, fühlte sich aber nach jedem Abenteuer wie “ein Stück Fleisch auf dem Fleischmarkt.” Das Drama ihrer Kindheit, der Tod ihrer Mutter, wurde bei jeder Trennung auf unerträgliche Weise wieder erlebt. Sie kam sich immer mehr wie eine Ausgestoßene vor, und ihre Entwurzelung führte sie zwangsläufig dazu, in den mexikanischen Gassenjungen nur dem höhnischen Echo, dem Spiegel ihres undifferenzierten Schreies nach Liebe zu begegnen.

Magersüchtige Frauen sind wie Maryse Holder von der Vorstellung eines Verlustes besessen, von der Angst, “zu kurz zu kommen”. Sie suchen im Spiegel Gründe zum Selbstmitleid (“Meine Häßlichkeit wird mich bis zu meinem Tode isolieren”, sagt Violettes “Affamée” ), “knallen mit den Türen”, verwandeln sich in “Furien”, weil sie sich “überflüssig” vorkommen. Sie zweifeln insgeheim an ihrer sexuellen Identität trotz ihrer scheinbaren Koketterie, die sie häufig charakterisiert, und sie empfinden ihren Körper als minderwertig, unvollkommen. Es fehlt “etwas”, was sie verloren haben. Danach suchen sie, aber wo immer sie suchen, drehen sie sich im Kreise: “Wer bin ich? Wo bin ich hergekommen? Wo gehe ich hin? Was bedeutet es alles? Zur Lust will ich zurückkehren. Wahrheit, Sein und Lust, will ich erfahren. Unschuld, und Unsterblichkeit suche ich.”

 

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