2.4 Zu einer Metaphysik der Sexualität

<<< Kapitel 2: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit

Bei aller Sehnsucht nach inniger Verschmelzung haben magersüchtige Frauen gleichzeitig Bindungsangst. Daher wird die Distanzierung vom Liebesobjekt durch die Essensverweigerung realisiert, obwohl die Anwesenheit und die Eindringlichkeit des Objekts von den jungen Frauen dringend ersehnt werden. Die Existenz des Anderen, d.h. die Existenz von zwei unterschiedlichen Geschlechtern, die phantasierte Urszene (die Beobachtung des elterlichen Koitus) und die Kastrationsangst, das ödipale Erlebte und das Über-Ich, das sich davon ableiten, werden in diesem Fall “überströmt” in einem strengen und stillen Kampf gegen die Vernichtungsangst, die die Trennung von der Mutter mit sich bringt. Hieraus entsteht eine massive Erotisierung der Essensverweigerung und der Lust, innerhalb dieser Weigerung zu funktionieren; dies wiederum schließt eine Enterotisierung der oralen Zone als erogener Zone ein, da nicht die Lust an der Nahrung empfunden wird, sondern daran, sie abzulehnen , sowie ferner eine Enterotisierung der genitalen Zone. In die Vagina soll nichts mehr eindringen.

An dieser Stelle ist es wichtig, die Einzelheiten bei der Entwicklung der weiblichen Sexualität kurz zu erinnern. Von der präödipalen bis zur ödipalen Periode muß das Mädchen das Liebesobjekt wechseln, während der Junge das gleiche Objekt, die Mutter, behält. So wird bei dem Mädchen das ursprüngliche Anklammerungsobjekt zum Rivalitätsobjekt. Für Freud sei dennoch “die Wendung der Tochter zum Vater nicht der Ausdruck natürlicher weiblicher Bedürfnisse, sondern ist Folge komplizierter, konfliktauslösender psychischer Verarbeitungen bestimmter Wahrnehmungen und konflikthafter Erlebnisse mit der Mutter.” Man kann auf jeden Fall mit gegengeschlechtlicher Anziehung allein die Wendung zum Vater nicht erklären. Nach der Psychoanalyse “trägt die Enttäuschung über die Mutter dazu bei, daß sich das kleine Mädchen auf der ödipalen Stufe nach einem Objekt umsieht, von dem sie mehr Befriedigung erhofft.” Später wird der Verzicht auf den Penis des Vaters nur möglich sein, wenn das Verhalten des Vaters und der in den zwischenmenschlichen Beziehungen aufgewerteten Erwachsenen männlichen Geschlechts weder verführerisch noch zweideutig sich dem Mädchen darstellt. In diesem Verzicht (der Ödipuskomplex gipfelt in dem lange gehegten Wunsch, vom Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären) keimt die Sublimierung der genitalen Triebe. Dabei ist es notwendig, den immensen intellektuellen und affektiven Kraftaufwand zu betonen, den eine Frau leisten muß, um das andere Geschlecht als erotisches Objekt zu finden. Simone de Beauvoir hat dies erkannt, als sie die weibliche Sehnsucht nach dem Körper der Mutter, diesem Weichen, Fülligen, und die Sehnsucht nach diesem glatten Fleisch, diesem ‘schmelzenden Mark’, die ‘die Frau dem Mann ausliefert’, und ihr Begehren, einen ‘ähnlichen Schatz’ zu umschließen, zu ‘besitzen’, beschwor. Dies sei der Grund, sagte sie, daß “jede Frau von Natur aus homosexuell” sei.

Auch Maryse Holders Kampf mit den Männern veranschaulicht die Schwierigkeit der Frau, das Liebesobjekt im anderen Geschlecht zu finden. Die Unterscheidung Mann-Frau schwankte bei ihr:

“Miguel. Er hatte recht. Meine Zuneigung für Frauen rivalisiert manchmal mit meiner Zuneigung für Männer.”

Es wird bald offensichtlich, daß Maryse die Mutter im Mann suchte:

“Er blickte mich sanft an und ehe ich mich versah, kam seine Hand hervorgeschnellt, und ich fühlte ein zähes, gummiartiges Ziehen in meiner Nase. Er hatte diese lange Rotze herausgezogen (…) Er zeigte überhaupt keinen Ekel, war wie eine Katze, die ihr Junges leckt.”

Maryse suchte bei den mexikanischen Männern die ambivalente homosexuelle Abhängigkeit, die ein kleines Mädchen bei seiner Mutter erlebt.

Diese unglückliche Vorliebe für – latent oder manifest – homosexuelle Männer finden wir ebenfalls bei Violette Leduc wieder, die sich mit ihnen in der Glut des Unerreichbaren aufzehrte. Von ihrer Begegnung mit Jean Genet sagte sie: “Ich küsse ihn, das interessiert ihn nicht, er ähnelt meiner Mutter.”

Für die Frau, schreibt C. Olivier, steht die körperliche Liebe in innerem Zusammenhang mit der Art, wie sie sich aus der unbefriedigenden “oralen” Beziehung zur Mutter herausgeholfen hat. Ihre sexuelle Erregung wird daher unvermeidbar davon abhängen, ob sie in ihrem Partner eine gute oder eine böse Mutter findet. Als Ursachen für die Magersucht gibt es verschiedene Komponenten wie die Gefühlskälte des familiären Milieus, die strenge Erziehung, die religiösen oder moralischen Tabus und den unberührbaren Sexus. Die magersüchtigen Frauen, die in der Einsamkeit und in Scham leben, stimmen interessanterweise mit einem bestimmten Profil überein. Im Anfangsstadium neigen sie zu einer Vervielfältigung der Beziehungen und der Tätigkeiten, geben sich aber mit ihnen nie zufrieden und streben immer nach neuen Begegnungen mit einer Begierde, die an die der Bulimie erinnert. Dieses Verhalten steht mit ihrer Bindungsangst in Zusammenhang. Am liebsten sind sie da, ohne richtig da zu sein. Ihr Geheimnis besteht in eben dieser scheinbaren Anwesenheit: nie da zu sein, wo man sie erwartet und wo man sie erwünscht, unerwünscht, wie sie sich seit ihrer Geburt fühlen. Sie möchten viel bekommen, da sie zu kurz gekommen sind, wollen aber nichts von sich geben müssen. Sie möchten sich verstanden fühlen, ohne sich dafür zu öffnen. Sie wollen nicht wie die Anderen sein, wollen nicht mit dem Anderen (ob Person oder Institution) verwechselt, gleichgestellt oder vereinnahmt werden, möchten aber auch nicht isoliert, ausgeschlossen sein oder ins Abseits gedrängt werden. Da sein und nicht da sein: in diesem Spannungsfeld finden wir das Trostkind wieder, diesen lebendigen und zur Unsterblichkeit bestimmten Ersatz eines Toten, die unartikulierte Wunschgestalt der Mutter. Was die Magersucht zum Vorschein bringt, ist das Stück Stein in der Tochter oder, besser noch, der Fetisch, den sie in sich enthält, die Mumie, das Skelett, die leblose Puppe (viele sammeln Porzellanpuppen), die jede von ihnen verheimlicht, die schließlich aber doch in Erscheinung tritt. All das versuchen sie auszuhungern. Es führt sie am Ende zu diesem Raum des “entre-deux-morts”, wo sie lebendig eingemauert leben können:

“Wenn die Toten ihr frugales Mahl sähen, sie drehten sich im Grabe um. Sie lachte, Komplicin oft ihrer Selbst, Herrin und Opfer ihrer Situation”, schreibt Violette Leduc. “Der Verfall, sagte sie mit Emphase (…) Scheiße, sagte sie, da geboren werden schon Verfall ist.”

Es gibt eine Art Grausamkeit im Spiel der magersüchtigen Frauen, auch sich selbst gegenüber. Der Tod steht auf dem Spiel. “Ich bin unsterblich”, glauben sie, d.h. ewig jung und ohne Zukunft. Folglich sind sie ohne eigenen Körper und ohne eigenes Begehren. Alle Frauen wurden ihres Körpers, ihrer Lust, ihres Begehrens und ihrer Rechte enteignet. Dieses Schicksal bringen die magersüchtigen Frauen zum Ausdruck, wenn sie sich transparent, unsichtbar machen und stellen damit zugleich die Macht der Männer in den Schatten. Sie entziehen sich deren Blicken, so dünn werden sie, und entgehen ihnen, manchmal auch durch die Lüge – wie die Hysterikerinnen früher – oder die Erfindungsgabe. Am Beispiel von Tania Blixen wird dies deutlich:

“In Wirklichkeit konnte meine Schwester weder reiten noch Bogenschießen”, schreibt Thomas Dinesen über sie, “und sie hat nie die Wahrheit gesagt.” Tanne “besaß eine Begabung dafür, von allem, das ihr im Leben begegnete, ein attraktives Bild zu malen. Von Menschen und Landschaften, von Verzückung und Verzweiflung. Zuweilen kann der Künstler von seinem Bild so hingerissen sein, daß selbst seine besten Freunde seine Echtheit, seinen Wahrheitsgehalt in Zweifel ziehen.”

Viele Magersüchtige erkennen andererseits, daß sie von Ängsten geplagt werden, die durch die Unkenntnis ihres Körperschemas unterhalten werden:

“Draußen in der Stadt hat sie Angst vor allem. Aus Schüchternheit spielt sie allein. Der Anblick der Kinder, die zusammen spielen, erdrückt sie”, schreibt Pièr Girard über Violette Leducs Kindheit.

Die Angst magersüchtiger Frauen wird häufig durch eine “hemmende” Familie oder das Verbot von Onanie und Sexualität durch die Mutter hervorgerufen. In diesem Zusammenhang drückt die Eßstörung von Maryse Holder ihren Haß auf all diejenigen aus, die ihr Verlangen unterdrücken und sie als Frau ausschließen, Haß auf ihr verzweifeltes Gefühl der Einsamkeit, aber auch Haß auf sich selbst. Obwohl sie die Liebhaber sammelte, dachte jeder in Mexiko, sie sei “lesbisch”, wahrscheinlich wegen ihres Appetits “für kurzhaarige, dünne, indianische, mexikanische Matrosen mit scheu vorgezogenen Schultern” oder “mit schwulem, wiegendem Gang”. Sie sehnte sich “nach Neuem und Ungewohntem”.

Maryse wollte bedingungslos geliebt werden; sie wollte, daß die Männer für sie verfügbar seien, war aber nicht in der Lage, sie als gesondert von sich zu betrachten. Ihre Dunkelheit war nichts anderes als eine Spiegelung. Dieses Beziehungsmuster gleicht der frühen Mutter-Kind-Beziehung, der Symbiose.

Bei Miguel suchte sie die transsexuelle affektive Haltung, die stets verzeihende Güte und Liebe einer Mutter. Die Anorexie ist in diesem Sinne wie die Melancholie ein Witwenstand, dessen Kenotaph das Emblem ist. Der Schatten des Objekts ist auf den Melancholiker gefallen, diagnostiziert Freud. “Auch in der Melancholie, in der das Ich sich mit dem verlorenen Objekt identifiziert und die Libido auf die Stufe des Narzißmus regrediert, werden alle nun im Über-Ich enthaltenen destruktiven Impulse, die ursprünglich dem verlorenen Objekt galten, gegen das eigene Ich gewendet.” Diese dunkle Gefangennahme spaltet also den Melancholiker und macht ihn regungslos. Er ist zugleich Wunde und Messer eines Blutbads ohne Wut, schlägt sich lieber selbst, als daß er die Mutter schlägt.

Diesen Zug erkennt man auch bei Virginia Woolf. Ihre Mutter starb, als sie dreizehn war, und seitdem fühlte sie sich wie ein Baby-Känguruh, das in den Beutel seiner Mutter zurückkriechen möchte. Über Vita Sackville-West, für die sie als Erwachsene schwärmte, schrieb sie: Vita “verschwendet an mich jene mütterliche Fürsorge, die ich mir aus irgendeinem Grund immer am meisten gewünscht habe.”

Virginia Woolf machte Vita Sackville-Wests androgyne und bisexuelle Natur unsterblich, als sie den Roman “Orlando” über sie und für sie schrieb. Vita liebte Virginia, eine Liebe, die von Virginia auf subtile und etwas zögernde Weise erwidert wurde, obwohl sie eher bissige Bemerkungen über Vitas sapphische Freundschaften machte. Aber die Psychotherapeutin Charlotte Wolff, die im Jahre 1935 mehrere Gespräche mit ihr führte, glaubte, “daß dies ihre Art war, zu ‘reden’ und ‘sich selbst zu schützen'”. Ihre Ablehnung der sexuellen Stereotypen fand in der Psychotherapeutin eine begeisterte Resonanz, “weil sie (…) der erste Mensch (ihres) Gesichtskreises war, der sich der menschlichen Sexualität in allen ihren Formen, nämlich als gemeinsames Ganzes bewußt war.”

Viele junge magersüchtige Frauen erkennen sich in Virginia Woolf bzw. in ihrem “androgynen Ideal” wieder. Der Mythos des androgynen Menschen erlaubt ihnen, auch ohne Platon gelesen zu haben, der Differenz zwischen den Geschlechtern und der Angst vor dem Ursprung zu entgehen, da sie entweder nicht zur Welt hätten kommen dürfen (Virginia Woolf, Violette Leduc) oder nach dem Wunsch der Eltern allenfalls als Junge (Valérie Valère und Simone Weil) oder aber eine(n) Tote(n) ersetzen mußten, entweder die tote Mutter (Virginia Woolf und M. Victoire Rouiller) oder den toten Vater (Tania Blixen, Violette Leduc).

“Ohne zu wissen, warum”, fühlte sich auch Tania Blixen “außerordentlich angezogen von der Zweigeschlechtlichkeit mancher Figuren in Shakespeares Lustspielen; sie sehnte sich nach der Freiheit, in der Verkleidung eines jungen Mannes ihr Talent für die Rolle des Pagen, das sie insgeheim kultivierte, unter Beweis zu stellen”, berichtet Judith Thurman über sie.

Die Zweideutigkeit der Kleidung betonte bei ihr die Befreiung aus ihrer körperlichen Hülle, die Ausstrahlung ihres grundlegenden Zwitterwesens und die Ablehnung, Frau zu sein, die zugleich mit einer offensichtlichen Weiblichkeit verbunden war. In Afrika gab ihr die Löwenjagd schließlich einen berechtigten Grund, androgyn zu sein. Zu gleicher Zeit war die Jagd aber für sie ein aufregender Kompromiß mit der Welt des Blutbads. Von ihrer eigenen Blutgier überrascht, war sie nach einer Woche Safari dermaßen berauscht, “daß sie allen Jägern Abbitte für ihr früheres Unverständnis gegenüber ihrer ‘Ekstase’ leistete.” Wie die mythologische Jägerin Diana, jene von Raubtieren begleitete Göttin, verfolgte sie dennoch unbewußt weniger das Tier als vielmehr die Tierhaftigkeit und die Gewalt der für ihre Zeit ungezähmten Triebe und des unersättlichen Begehrens. Die ethische Motivation, die sie dazu bewegte, gegen ihre Begierde in dieser Weise anzukämpfen, gründete in ihrem “Hang zur Askese”, in ihrem “Verlangen nach Ekstase, nach dem Überwältigenden, nach einem Schicksal, dem sie sich hingeben konnte.”

 

<<< Kapitel 2: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit