2.3 Sie und ihr Doppel

<<< Kapitel 2: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit

“Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born. Du bist gewachsen wie ein Lustgarten von Granatäpfeln.” (Salomos Hohelied)

 

Simone Weil beschäftigte das Thema der Geschwisterliebe in “Antigone” vermutlich deshalb auf eine besondere Art, weil sie ihrem älteren Bruder André sehr verbunden war. Als beide noch klein waren, machten sie sich einen Spaß daraus, Hand in Hand an den Türen der Nachbarhäuser zu klingeln, um die Ausgehungerten zu spielen. Wer aufmachte, bekam von ihnen zu hören: “Wir sterben vor Hunger! Unsere Eltern lassen uns verhungern!” Ihnen ging es dabei natürlich nicht um die Befriedigung oraler Bedürfnisse, sondern darum, “stützende und erwärmende Zuwendung von anderen” zu erhalten, es ging um “sogenannte Gratifikationen durch Objekte”. Während ihres ganzen Lebens neigte Simone wegen ihrer frühkindlichen Mangelerfahrungen dazu, zur Verstärkung ihres Selbst eine Fusion mit Objekten anzustreben.

Die junge Französin Valérie Valère machte aus der Geschwisterliebe einen Kult und brach auf diese Art das Inzestverbot. Auch für sie bedeutete lieben “sich ähneln”. Im Bündnis der Geschwister, das durch die affektive Abwesenheit der Mutter geschlossen wurde, fand der Narzißmus also seinen Platz. Das Verhältnis zum Anderen, das symbiotischer Natur war, war aber in diesem Fall regressiv, dem Mutter-Kind-Verhältnis ähnlich. Valéries erster Roman “Malika” inszeniert auf vollkommene Weise diesen Wunsch nach der ursprünglichen Einheit: die kleine Malika flüchtet mit dem geliebten Bruder nach Südfrankreich, aufs Landhaus des Vaters, wo sie sich zusammen verstecken. Sie versuchen dort, “eine neue Sprache zu erfinden” und lassen auch ihrer Liebe freien Lauf, ohne das Gesetz des Inzestverbots zu berücksichtigen:

“Ich bewundere sie, ich will sie immer behalten, ich will, daß sie mich bis in alle Ewigkeit liebt”, wünscht sich Wilfrid, Malikas Bruder. “Sie ist ein Teil meines Selbst, wir sind von derselben Frau geboren, leben in derselben Welt, atmen dieselbe Luft, haben dieselbe Worte.”

Valérie stellte sich das Verlangen als ein nostalgisches Bestreben nach einem verlorenen Zustand bzw. nach einer verlorenen Einheit vor. Ihr Verlangen nach Liebe war die Forderung, “ohne Grund erhört und erkannt zu werden”, war “das Verlangen nach einer vollkommenen Anwesenheit genau dort, wo der Säugling in seiner Not Tod und Verlassenheit als ernsthafte Gefahren empfindet.” Indem Valérie die inzestuöse Liebe unter Geschwistern pries, sandte sie dennoch die folgende Botschaft und schlug einen anderen Kodex vor: Jeder von uns ist bisexuell, jeder von uns vereint in sich die beiden Geschlechter, aber diese beiden Geschlechter bleiben durch die Gesellschaft getrennt, unkommunizierend. Wilfrid und Malika symbolisieren Valéries idealisierte Projektionen, wobei dieser Wunsch nach Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit bzw. der mütterlichen Symbiose seinen Ausdruck im Todeswunsch findet. Die Liebe von Narziß für seine Zwillingsschwester ist das Vorbild dieser Rückkehr im Sinne der Psychoanalyse, wenn sie von “Rückkehr des Verdrängten” spricht:

“Das Blut fließt wie ein Meer, wie ein Strom des Grauens, jetzt werde ich die Freude erleben, unsere Blicke, unsere Körper sind zu einem einzigen verschmolzen. Wir haben einander gefunden” , sind die letzten Worte Malikas.

Durch die Inszenierung ihrer Kunstschrift drückt Valérie Valère aus, daß Liebe und Tod eins sind. Das Bündnis zwischen dem narzißtischen Ich und der oralen (archaischen) Mutter funktioniert als Bild des Todes und setzt sich dem Über-Ich der Institution (der Polizei im Roman) und seiner genitalen Sexualität entgegen. Das narzißtische Ich betrachtet das Ich-Ideal im mütterlichen Spiegel des Todes (une mer [mère] de sang, ein Meer [Mutter] von Blut). Im Ich-Ideal bedeuten die Strafmaßnahmen gegen den Körper und die psychischen Schmerzen einen Prozeß der Ent-sexualisierung, der sich vom Über-Ich und von der Ähnlichkeit mit der genitalen Sexualität der Eltern – einer Sexualität, die auf die Arterhaltung zielt – befreit; und im narzißtischen Ich bedeuten diese Strafmaßnahmen die Re-sexualisierung, die dem Ich gerade das Urgenießen gibt, das der Hunger mit sich bringt: die sogenannte “Organlust”- Lustmodalität, die die autoerotische Befriedigung der Partialtriebe charakterisiert, im Gegensatz zu der Lust, die an die Selbsterhaltungsfunktionen gebunden ist.

Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, versinnbildlicht die zirkuläre und in sich geschlossene Geschlechtlichkeit und deutet klar darauf hin, daß die Zwillinge im Imaginären der magersüchtigen Frauen eine der Umwandlungen der archetypischen dualen, sexuell selbstgenügenden Einheit gestalten. Die Negation des Hungers im Fasten und die Negation der genitalen Sexualität in der Keuschheit gehören in der Geschichte häufig zusammen. In der Transgression der biologischen Gesetze der Fortpflanzung entgehen die Frauen aber zudem dem Werk des Werdens. Zeugen heißt, “die kommende Generation zu schaffen, die unschuldig aber unerbittlich die vorhergehende ins Nichts zurückstößt”, schreibt der Schriftsteller Michel Tournier. “Kaum haben die Eltern aufgehört, unentbehrlich zu sein, da werden sie auch schon lästig. Das Kind schiebt seine Erzeuger genauso selbstverständlich beiseite, wie es von ihnen alles angenommen hat, was es zum Wachsen brauchte. Deshalb ist es sehr wahr, daß der Instinkt, der die Geschlechter einander zuneigt, ein tödlicher Instinkt ist.”

Die Magersucht ist in diesem Sinne der Ausdruck einer wahrhaftigen Suche: Suche nach dem Zugang zur göttlichen Perfektion (alle Götter sind bisexuell), nach einem zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Leben und Tod hängenden Ort, der sich nach Bernard Brusset mit der Aufhebung der Differenz zwischen den Geschlechtern, mit der Unsterblichkeit und dem “Selbst-Gebären” vermischt. Näher am Tod als irgendeiner Mensch sind die Magersüchtigen gleichzeitig auch näher an den Quellen des Sexus. Maryse Holder bringt deutlich die wesentliche Beziehung zum Ausdruck, die zwischen Geschlecht und Tod besteht, durch ihren “Flirt mit dem Tod”, ihre heiße Liebe für den Tanz und die Mexikaner; einen Tanz, der laut herausschreiend die Identifikation mit dem Unvergänglichen feiert: “eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, simultan Verlangen und Erfüllung findet, Bewegung und Ruhe, die Schönheit des andern und meine eigene, beiderseits erfahrene Vollkommenheit.”

Dieses Motiv finden wir bis zum Exzeß in einem Jackson-Video wieder, in dem der Popstar Masturbationsbewegungen mimt und den Reißverschluß seiner Hose auf- und zuzieht in einem ekstatischen Tanz in die Wut. Und was bedeutet dieses Fieber, das ihn bis zur Raserei ergreift, wenn nicht die explosive Manifestation des Strebens nach der Auflösung der Dualität, um die primäre Einheit wiederzufinden, in der Körper und Seele, Schöpfer und Schöpfung, das Sichtbare und das Unsichtbare außerhalb der Zeit in einer einzigen Ekstase zusammenwachsen? Eben dies wird vom Tanz Michael Jacksons herausgeschrien und gepriesen: die Identifikation mit dem Unvergänglichen: “Oft, wenn ich tanze, verspüre ich etwas von der Heiligkeit des Tanzes. In diesem Augenblick fühle ich meinen Geist aufsteigen und eins werden mit allem, was ist. Ich werde die Sterne und der Mond, werde der Liebende und der Geliebte. Ich werde der Sieger und der Besiegte, werde der Wissende und das Gewußte. Und ich tanze weiter, und mein Tanz ist der ewige Tanz der Schöpfung. Der Schöpfer und die Schöpfung werden eins in allumfassender Freude. Ich tanze weiter und weiter … und weiter, bis nur noch … der Tanz übrig ist.”

Je schneller er sich dreht, desto mehr ist er immer noch in sich. Er dreht sich, so schnell es geht, und dies ist sein “liebster Tanz, denn er enthält ein Geheimnis.”

Der Tanz um die eigene Achse ist hier die unentbehrliche Bewegung des Onanisten. Auch die Magersüchtige läßt sich von einer “autoerotischen” Sexualität (deren ideales Vorbild die Lippen sind, die sich selbst küssen), einnehmen, ihre Neigungen führen sie weniger zu vollständigen, als zu “präsexuellen” Geschlechtsakten. Manche von ihnen begnügen sich mit zärtlichen Berührungen, Liebesvorspielen gleichsam, in einer in sich geschlossenen Erotik, die zugleich inzestuöser und transsexueller Art ist, ähnlich derjenigen, die der Popstar Michael Jackson für seine Schwester Janet hat fühlen können:

“Es war herrlich, mit Janet zusammen zu sein, weil wir uns keine Sorgen machen mußten, ob der andere vielleicht etwas nicht mochte. Wir mochten dieselben Dinge (…) Sie war wie mein Zwilling. Deshalb hat es mich fast umgebracht, als sie fortging und heiratete. Wir haben alles gemeinsam gemacht.”

Was Magersüchtige in diesem Fall leidenschaftlich suchen, ist nichts anderes als die “Zwillingszelle”, die in Tourniers Romanen beschrieben wird: geschlossen wie das Ei der Dioskuren, Zwillinge der Sonnenstadt, ist die Zelle die unendlich weit zurückliegende und verwirrende Erinnerung an die letzte physische Liebesumarmung, die ihnen in Urzeiten, im Bett der Mutter, gegönnt wurde. Es handelt sich also um die Geschichte einer Transgression, die andeutungsweise im Mythos von Narzissus erscheint, und um die Vergeltung – mit dem eigenen Leben – der inzestuösen Faszination, die die Zwillingsschwester ausübte.

Aus dem mütterlichen Bauch herausgezogen, finden wir zwar eine prekäre und provisorische Zuflucht, doch ist diese mit launischen und sparsamen Brüsten ausgestattet. Später müssen wir all das verlassen, und als letzte Zuflucht bleibt nur mehr das Bett der Mutter, wo man für kurze Zeit noch den eigenen an den ursprünglichen Körper anschmiegen kann. Schließlich kommt die endgültige Verbannung und für die meisten von uns die Durchquerung einer immensen und schrecklichen Wüste. Die Angst zu essen wäre bei der magersüchtigen Frau also nichts anderes als die Angst vor dem Tod, vor ihrer Mutter und vor sich selbst aus Liebe für die Mutter, jener verbotenen Liebe, auf der die Todesstrafe steht, wie sie schon einmal von Marie-Victoire Rouiller geschildert wurde:

“Ich wurde von Schluchzem, Todeswünschen und Brechanfällen verzehrt, damit niemand jemals erfährt, in welchem Maße ich Sie begehrt hatte.”

Mitscherlich schreibt in diesem Zusammenhang: “Neben dem Haß als Folge der frühen totalen Abhängigkeit von der Mutter und den daraus entstehenden Schuldgefühlen ist auch eine erotisch betonte Liebesbeziehung des Mädchens zur Mutter nicht zu verkennen.” Indem die magersüchtige Frau sich dagegen sträubt, die Nahrung zu konsumieren, schützt sie sich vor dem Inzest. Indem sie den Mann ablehnt, drückt sie gleichzeitig ihre Weigerung aus, daß eine solche Mutter – Erinnerung an die frustrierende oder verschlingende Urmutter, ja sogar an die mästende Vergewaltigerin – in sie hineindringt. Magersüchtige Frauen sind nicht unbedingt frigide, allenfalls ist bei einigen eine Tendenz zum Vaginismus erkennbar. Erst nachdem sie sich vergewissert haben, daß der Mann nicht versuchen wird, ihre geweihte Stätte zu schänden, lassen sie sich streicheln und erhalten Befriedigungen, die ihnen vollkommen reichen. Sie sind daher mit den Vestalinnen aus der Antike vergleichbar, die sich zwar jedem Mann verweigerten, gleichzeitig aber dessen Liebesglut unentwegt unterhielten.

Magersüchtige sind nicht selten Frauen mit immerwährenden Verehrern. Unter ihrem mädchenhaften Äußeren sind sie eigensinnig und dominant. Sie wollen den Ton angeben und werden häufig von den Männern als kastrierend empfunden. In ihrem beruflichen Leben und zu Hause zwingen sie den Mann, die Waffen abzulegen. Sie wollen Lust und bekommen sie auch, aber mit ihren eigenen Mitteln. Auch “suchen, ohne zu finden, ist eine Form von Lust”, schreibt Violette Leduc in “Die Frau mit dem kleinen Fuchs”.

Was Tania Blixen ihrem Bruder über Sexualität schreibt – daß sie eine sexuelle Beziehung nicht ganz ‘ernst’ nehmen könne, daß ihr wahres Vergnügen ‘rein geistiger Natur’ sei -, bestätigt dies, und “läßt den Eindruck entstehen, daß sie das phantasievolle Vorspiel bevorzugt, die Vorfreude, die geistige Übereinstimmung.” Alle Männer, die ihr nahestanden, waren Wanderer und pflegten ihre Farm in Kenia für mehrere Monate zu verlassen, denn so sehr sie sich auch nach etwas “Soliderem” und nach größerer Intimität sehnte, so geschah es doch immer wieder, daß sie sich im entscheidenden Moment zurückzog: “Ich sagte ja, ich wäre gern ein katholischer Priester”, schreibt sie ihrem Bruder, “dazu stehe ich noch – und etwas ähnliches bin ich ja.” Dieses Verhalten der magersüchtigen Frau scheint auf die Beherrschung der Situation und des Objekts und gleichzeitig auf die Ablehnung der Passivität, die mit dieser Situation verbunden ist, hinzuzielen: die Trennung vom Objekt und gleichzeitig die Angst, das Objekt zu verlieren, das sie nur auf Distanz halten können, indem sie es ablehnen, um einerseits die eigene Integrität zu bestätigen, sich andererseits der Existenz des Objekts zu vergewissern.

Wir können sagen, daß Magersüchtige unaufhörlich auf einem Grat wandern, den Abgrund auf beiden Seiten, oder als “Seiltänzerinnen” wie Valérie Valère, die sich in der Zirkusschule für den Seiltanz entschied. Auf dem Seil hatte sie das Gefühl, das Schicksal herauszufordern durch eine Art Unschuldsprobe, die das Subjekt Gottes Händen übergibt oder in ihm eine übermenschliche Virtuosität vermutet. Die Akrobaten und die Seiltänzer verlangen von der Befreiung von der Schwerkraft, dem alleinigen Gottesurteil ausgeliefert zu werden: es ist, als ob die Gotteskraft in ihnen, für sie und durch sie handeln würde, damit ihre Gesten sich mit der schöpferischen Göttlichkeit identifizieren und von seiner Existenz Zeugnis ablegen. Die Magersucht symbolisiert daher wie Valéries Seiltanz das Streben nach einem übermenschlichen Dasein: sie ist die Ekstase des Körpers, die die Mystikerin in ihrer Liebe zu Gott erlebte. In beiden Fällen hat die Übung (des Fastens oder der Seiltänzerkunst) das Ziel, momentan die Individualität des Subjekts zu zerstören und einen ekstatischen Erregungszustand in ihm hervorzurufen, der die Einverleibung der Göttlichkeit (der Mutter?) ermöglicht. Auf diesen Punkt werden wir im dritten Teil zurückkommen.

 

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