2.2 Der Antigone-Komplex

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“Vaters Unheil und unser aller / Los der berühmten Labdakiden. / Io! Fluchehe des Vaters! / Dem eigenen Kind sich einte; / Meinem Vater, die Unheilsmutter, / Von ihnen unselig einst geboren, / Segenlos, ehelos, / Gehe ich wieder bei ihnen wohnen.”

 

Der Inzest flößte den griechischen Tragikern einen heiligen Schrecken ein, und Sophokles’ “König Ödipus” baut seine ganze dramatische Kraft auf dieses Gefühl des Schreckens. Antigone, die Tochter Ödipus’, wird zum Tode verurteilt, weil sie ihren Bruder Polyneikes zu sehr geliebt hat. Indem sie die Aufgabe, ihren Bruder zu begraben, auf sich nimmt, deckt Antigone die Notwendigkeit einer Rückkehr in das Reale des Todes auf (ebenso wie bestimmte Verbrechen oder der Selbstmord zur Ignoranz, zum Ausschluß des Todes im familiären Diskurs in Beziehung stehen können). Der Unterschied zwischen Totem und Lebendigem wird somit durch die Bestattung gemacht. Als spezifisches Kennzeichen des Menschlichen beweist sie die Anwesenheit der symbolischen Ordnung.

In der griechischen Tragödie wird die Vorstellung des Fluches, der vom Inzest ausgeht, von einem Menschen auf den anderen übertragen und kann nur über das Leid eines Sühneopfers vernichtet werden. Indem sie ihren Bruder wie jeden anderen Menschen behandelt und beerdigt, macht Antigone daher Schluß mit dem alten Fluch, der auf dem Haus der Labdakiden liegt, und bezahlt dafür mit ihrem Leben. Als Strafe wird sie bei lebendigem Leib in der Familiengruft eingemauert (vgl. die Grenzsituation zwischen Leben und Tod bei der magersüchtigen Frau). Auf diese Weise stellt sie die Frage nach dem Unterschied zwischen einem toten und einem lebendigen Menschen: “Wer bin ich? Bin ich ein Mensch? Bin ich ein Toter?”, und bringt den Mord zum Vorschein, der verschwiegen wurde. Dies ist gerade auch das “Unheimliche”, das sich in der Magersucht wiederfindet. “Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt.”

Das Hauptthema der Tragödie von Sophokles bleibt dennoch die Geschichte eines Menschen, der allein und ohne Hilfe Widerstand leistet gegen sein eigenes Land, gegen die Gesetze seines Landes und gegen das Oberhaupt. Antigone ist ein vollkommen reines und unschuldiges Wesen, das sich freiwillig dem Tod ausliefert, um einen schuldverstrickten Bruder von einem unglücklichen Schicksal in der anderen Welt zu bewahren. Nach der symbolischen Bestattung im Morgengrauen wagt Antigone das unverzeihliche Totenopfer am hellen Tage. Sie ist also auch diejenige, die sich gegen die von Kreon verkörperte Macht des Staates auflehnt; diejenige, die sich gegen die konventionellen Formen und die Gesetze im Namen von nicht geschriebenen Gesetzen erhebt: im Namen der mündlich überlieferten Gesetze, die das Gedächtnis einer Familie verewigen und die mütterliche Stammesgeschichte respektieren. Nach L. Irigaray bedeutet dies, daß die von der Mutter gezeugten Körper in ihrem Leben umhegt und nach ihrem Tod begraben werden müssen.

Historiker und Anthropologen haben die Rolle der Frauen bei der Achtung der Bestattungsriten und im besonderen bei der Bewahrung und Aufrechterhaltung der Bestattung genau beschrieben. Nun besteht die Funktion der Bestattung darin, die Trennung zwischen der Natur und der Kultur, dem Tierischen und dem Menschlichen hervorzuheben. Antigone opfert sich auf, damit ihr Bruder, und sei er ein Verbrecher, wie jeder andere Mensch behandelt und begraben wird, damit sein Name ins Gedächtnis eingeschrieben bleibt. Sie verlangt ebenfalls, daß das Gedächtnis an einen anderen Verbrecher in Ehren gehalten wird: an ihren anderen Bruder Ödipus, der zugleich ihr Vater ist. In ihren Augen ist das Verbot, die Toten zu begraben, nicht vertretbar, denn es verneint ihre und unsere Menschlichkeit. Wegen der Verletzung von Kreons Verbot, den Bruder zu begraben, wird Antigone zum Tode bzw. zum Schweigen verurteilt. Tote sprechen nicht. Sagen wir nicht auch, ‘verschwiegen wie ein Grab sein’?

Viele Erzählungen junger magersüchtiger Frauen bestätigen diese Verurteilung zum Schweigen. “Alle wissen es, aber niemand spricht darüber”. Das Schweigen wird ihnen aber nicht nur aufgezwungen, es steckt auch in ihnen selbst. Sie wollen nicht sprechen, und ihre Weigerung zu sprechen klebt an dieser Angst, die in der unergründlichen Vollkommenheit dieser geheimen, mit Sorgfalt geschützten und unerreichbaren Gruft stumm bleiben will. Sie wollen nichts sagen, weil sie nichts zu sagen haben, da gar nichts sagbar ist… “Ihre Schüchternheit, eine gemütliche zweite Haut, ein gefütterter Pantoffel, der sie warnte”, schreibt Violette Leduc “halte dich zurück, schweig, hüte dich (…)”

Interessant ist an diesem Punkt, in die Zeit zurückzugehen und in dem Fluch, der auf Antigones Familie ruht, das Thema des sexuellen Mißbrauchs wiederzufinden, um den Zusammenhang zwischen dem Antigone-Mythos und der Anorexie zu verstehen. Im Mythos wird erzählt, wie Laios, Ödipus’ Vater, sich während der Unterrichtung im Wagenfahren in einen Jüngling verliebte und wie er ihn anschließend entführte. Wenngleich die Pädophilie in der griechischen Antike häufig zur Initiation des Schülers gehörte, hatte Laios dennoch die Gesetze der Gastfreundschaft gebrochen, die zwischen Liebhabern wie zwischen Gästen galten. Die Entführung des jungen Sohnes seines Gastgebers und der homosexuelle Mißbrauch hatten den Tod des Jünglings zur Folge. Die einen erzählen, daß er aus Scham Selbstmord begangen habe, die anderen, daß er von seinen Halbbrüdern ermordet worden sei. Der Vater des Jünglings hätte danach Laios verflucht, auf daß dessen Rasse sich nicht mehr fortpflanzen möge. Laios würde von seinem ehelichen Sohn umgebracht werden, nachdem dieser seine eigene Mutter geheiratet hätte. Laios’ Verfluchung hängt also mit einer noch früheren Schuld als der des Inzestes von Ödipus und Iokaste zusammen.

Die sexuelle Schuld, der Tod und die Sterilität sind nach G. Raimbault und C. Eliacheff Bezugspunkte in dieser Genealogie. Da das Orakel ihn davor gewarnt hatte, daß ein Sohn ihn ermorden und mit seiner Mutter schlafen würde, versuchte Laios, kein Kind zu zeugen. Aus diesem Grunde praktizierte er mit seiner Frau Iokaste Analverkehr bis zu dem Tage, wo er so betrunken war, daß er “ein Kind in die Furche seiner Frau pflanzte”. Die beiden Autorinnen sehen in der Antigone-Figur eine Rebellin, die den Anspruch erhebt, in ihrer ursprünglichen Persönlichkeit, und nicht als Erbin eines Fluches gewürdigt zu werden. Antigone weigert sich, nach dem Belieben der Männer behandelt zu werden wie damals der von ihrem Großvater Laios entführte und mißbrauchte Jüngling. In Kreon wird nicht nur die königliche Macht denunziert, sondern der Mann schlechthin. Eben diese Komponente des Konflikts zwischen Kreon und Antigone muß betont werden: der Kampf zwischen Mann und Frau. “In Wirklichkeit wäre sie der Mann von uns beiden, wenn ich sie ungestraft triumphieren ließ”, sagte Kreon.

Den Kämpfen um die Macht, den Konflikten unter Männern (im Streit um den Thron wurde Polyneikes von seinem feindlichen Bruder Eteokles erschlagen), diesem endlosen Durchgehen um die Wette “Wer wird dem Anderen überlegen sein und dies um jeden Preis”, begegnet Antigone mit ihrem “Nein”. Sie beweist damit, daß die Ordnung der Stadt und die politische Verantwortung keine konfliktuelle Polemik für sich selbst ist, “um sich einen Platz in der Sonne zu verschaffen”, um ihr Begehren, ja sogar Begierde zu befriedigen, da dies endlose Kriege zur Folge hat. Sie sagt, daß das Recht einen Inhalt hat und daß dieser Inhalt respektiert werden muß.

Dieses Bedürfnis nach Gerechtigkeit finden wir bei magersüchtigen Frauen wieder: “Ich machte Gedichte über das Alter, über den Hunger in der Welt, über Vietnam, und natürlich, über den Tod” , schreibt Louise Roche in ihrem Bericht. Und ebenso Valérie Valère: “Ich hasse alle diese Leute, die die Macht haben” , mit Bezug auf die Familien, die Lehrer, die Ärzte und das ganze Strafsystem der psychiatrischen Kliniken, “die das Recht haben, die Leute mit Leib und Seele zu besitzen”. In “Ihren Memoiren einer Tochter aus gutem Hause” erinnert sich Simone de Beauvoir, die selbst als Kind ihre Abneigungen bis zum Erbrechen und ihre Begierden bis zur Besessenheit ausdrückte, an ihre Begegnung mit der magersüchtigen Militantin Simone Weil:

“Ich weiß nicht, wie wir damals ins Gespräch gekommen sind; sie erklärte in schneidendem Tone, daß eine einzige Sache heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde.”

Die magersüchtige Frau opfert sich also auf wie Antigone, um dem Leben jenen Wert und jene Würde zurückzugeben, die aber durch die alltäglichen Opfer der Eltern und ihrer Weigerung, die Wahrheit zu sagen, geleugnet wurden. Beide lehnen sich gegen ein Leben auf, das ihnen gleichzeitig geschenkt und auferzwungen wurde. Beide tun kund, daß sie ein solches Leben nicht führen wollen und den Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker verherrlichen.

Am Beispiel von Antigone entwirft Luce Irigaray mögliche Erweiterungen des Zivilrechts, wenn sie vorschlägt, das Jungfräulichkeitsrecht als Besitz der Tochter und nicht des Vaters, des Bruders oder des zukünftigen Ehemannes einzutragen. Anders gesagt meint sie, daß das Jungfräulichkeitsrecht zu der Zivilidentität der Töchter als Recht auf den Respekt der zivilen und moralischen Integrität gehören muß. Nicht zivil sind ihrer Meinung nach die Männer, die die Genealogie der Frauen nicht respektieren und die die Kinder und im besonderen die jungfräulichen Töchter als ihren Besitz betrachten. Es müßte also, sagt die feministische Analytikerin, ein Zivilrecht geben, das die Tochter vor jedem sexuellen Mißbrauch schützt (eine von ihrem Vater mißbrauchte und von ihrer Familie gefangen gehaltene Tochter verfügt im Fall eines Inzestes kaum über ein Verteidigungsrecht) und für ihre physische Integrität bürgt. Antigones Entscheidung, jungfräulich zu sterben und sich in der Familiengruft zu erhängen (in den Mythen kommt das Erhängen bei Jungfrauen häufig vor), könnte daher die grundsätzliche weibliche Antwort auf die Unmenschlichkeit des Mannes herausstreichen. Eine ähnliche Antwort finden wir auch in dem Entsetzen wieder, das die Militantin und Schriftstellerin Simone Weil der Vergewaltigung gegenüber empfand. Sie hätte sogar einmal ihrer Mutter gesagt, daß sie vielleicht töten könnte, um eine Vergewaltigung zu verhindern oder sich selbst davor zu schützen. Die Ehe hielt sie für “eine eingewilligte Vergewaltigung”. Indem sie den “Willen zum Sein” und den “Willen zur Handlung”, jene tief verankerten Elemente des Weiblichen und Männlichen in ihr, bis aufs Äußerste durchfocht, lehnte Simone Weil jeden Schutz und jedes Schema ab. Sie verglich sich wie Antigone mit einem “sterilen Stein, auf dem das Korn nicht aufkeimen kann”, und kämpfte bis zu ihrem Tod gegen die mit politischer Verantwortung beauftragten Männer und gegen die Ärzte. In der Auvergne wurde sie “die rote Jungfrau der Bergkuppe” genannt, und die Menschen der Region sagten von ihr: “Der Antichrist ist in der Bergkuppe. Das ist eine Frau. Sie kleidet sich wie ein Mann.”

Simone Weil wäre gern ein Junge gewesen. In dieser jüdischen Familie, die die Männlichkeit privilegierte, hätte sie lieber einen Penis gehabt, und sehr früh hatte Simone das Recht beansprucht, wie ein Junge behandelt zu werden. Ihre Eltern nannten sie “Simon” oder “unser Sohn Nummer zwei”, und sie unterschrieb sogar ihre Briefe an die Mutter mit “dein hochachtungsvoller Sohn”. Da sie mit dem Mann konkurrieren und ihn ersetzen wollte (ihr Bruder war hochbegabt und erhielt die ganze Aufmerksamkeit der Familie), wurde sie weder von den Frauen noch von den Männern (ihre Kommilitonen fanden sie “ungenießbar”) angenommen, konnte weder als Frau noch als Mann leben. Die Verachtung ihrer Familie gegenüber den Frauen und überhaupt allen Merkmalen der Weiblichkeit, wie es ihr in ihrer Familie vorgelebt wurde, führte sie schließlich dazu, die Ablehnung ihrer Weiblichkeit in der Amenorrhoe auszudrücken. Der Mythos des Austausches ihres virilen Ideals gegen ihre wirkliche Natur war nicht aufrecht zu halten. Es nimmt daher nicht wunder, daß sie Desperados und Narren liebte, die ihrer Meinung nach die einzigen Menschen sind, die die Wahrheit sagen und deswegen zu Objekten des Staunens, des Mißtrauens oder des Hasses wurden. Der Narr ist symbolisch derjenige, der auf sein “Selbst” verzichtet, um ein “Ich bin” auf einer anderen Ebene wiederzufinden; derjenige, der das Grenzgebiet verläßt, um sein echtes Land, “die andere Wirklichkeit” wiederzufinden. Der Narr ist der Fremde, jemand, dessen Liebe woanders ist, “zugleich über und in allem, als Gottessohn, zu dem er sich macht.” Simone Weils Anorexie ist nach der italienischen Autorin G. Fiori die Kernmetapher dieser Identifikation. Obwohl Simone sich nach Zärtlichkeit, Übereinstimmung und Freundschaft sehnte, hielt sie sich von den anderen fern, eine Weigerung, sich im Leben zu etablieren, die schon während des Studiums zum Vorschein kam. Ihr Widerwille, die Nahrung anzunehmen, paßte einerseits zu dem ungezähmten Wunsch, die eigene Unabhängigkeit und Integrität als Frau in einer feindlichen Welt zu verteidigen, andererseits zu dem Verlangen nach einer absoluten Adhäsion mit dem Glauben in jeder Hinsicht. Die Liebe war für Simone arm. Platon stellt sie in “Das Gastmahl” so dar: mager, barfuß, obdachlos. Sie schläft auf dem Boden, vor den Haustüren und auf den Straßen, da sie den Mangel als Kompagnon und die Bedürftigkeit als Gefährtin hat.

Die Liebe ist Selbstopferung, wird nicht verstanden und ergreift Partei für die Schwachen. Für Simone ist die von Platon beschriebene Liebe die Nahrung schlechthin, Nahrung für die Seele. Der Körper hingegen ist das Symbol des Tieres im Menschen, das gezähmt werden muß. Er ist das Symbol der von der Gesellschaft privilegierten materiellen Ordnung auf Kosten der wirklichen Bedürfnisse des Menschen, des Subjekts. Hier gleicht Simones Figur den großen Mythen wie Antigone, aber auch den Prometheus, Ikarus, Tantalus und all den Helden, die versuchten, den Göttern ebenbürtig zu sein. Die ganze empörende Tragweite der Transgression, durch die die magersüchtige Frau versucht, sich von den Naturgesetzen zu befreien, denen die Lebewesen unterworfen sind, wird vom Psychonalytiker Bernard Brusset im Tantalus-Mythos erläutert:

“Tantalus wird von den Göttern eingeladen, an ihrem Gastmahl teilzunehmen. Er nutzt die Gelegenheit, um vom Tisch die Ambrosie zu stehlen, die unsterblich macht. Als Strafe wird ihm zwar die Unsterblichkeit erteilt, doch wird er in der Hölle beständig Hunger und Durst ausgesetzt: das Flußwasser zieht sich zurück, sobald er etwas davon trinken will, der Ast des Baums hebt die Frucht, die er pflücken will, außerhalb seiner Reichweite.”

Da die magersüchtige Frau sich von ihrem Fatum befreien will und die autonome Bestimmung über ihren Körper ohne Berücksichtigung der “Naturgesetze” beansprucht, zieht sie sich die Rache der Götter und der Machthaber (der Ärzte? der Psychiater?) bzw. die unerbittliche NEMESIS zu. “Nemesis”, erklärt Tania Blixen, “ist der Faden im Gang der Ereignisse, der durch die psychischen Voraussetzungen einer Person bestimmt wird. Alle meine Erzählungen befassen sich mit Nemesis.” In dem Namen, den sie als Pseudonym für ihre Werke wählte, bekannte sich Tania zu Nemesis: Isak Dinesen. Die Bibel erzählt, daß Isak Rebecca liebte und daß er sich mit ihr über den Tod seiner Mutter hinwegtröstete. Er liebte sie einerseits als die neue Frau, die sie war, andererseits als die ehemalige Frau, die “erste”, die Mutter. Rebecca gehörte außerdem zur Familie von Isaks Vater (Abraham), und Abrahams Frau war zugleich seine Schwester (“Meine Schwester, meine Geliebte”, sagt das Hohelied Salomonis).

Unter dem Pseudonym Tania Blixens wird also der Bruder-Schwester-Inzest, jenes alte Liebesideal, realisiert. “Isak bedeutet auf hebräisch ‘der Lachende’, und er war das Kind von Abraham und Sara, die schon uralt waren, ein Wunder nach der Menopause, ein göttlicher Scherz”, schreibt Judith Thurman hierzu. Schließlich enthalten ihre Erzählungen eine tiefe Ironie, eine Verkehrung von Aufopferung und Verzicht, und der stärkste Eindruck, den man von ihr gewinnt, ist vielleicht ihre Unersättlichkeit, “eine metaphorische Unersättlichkeit, die sie vollständig befriedigen kann, weil sie sämtliche Rollen spielt.” Von einem unaufhörlichen, unwiderstehlichen, immer ungestillten Begehren gefangen, verfolgt die magersüchtige Frau, manchmal auch bis zum Tode, ihre gierige Suche in einem von Angst durchwobenen Leben, einer Angst, die sie zu klarsichtig macht und sie zu dem Wunsch nach einer unmöglichen Verschmelzung mit den Menschen und den Dingen führt. In allen Traditionen wird der Mensch, der darauf hinzielt, sich Gott gleichzustellen, durch eine niederschmetternde Sanktion bestraft. Antigones “Jungfräulichkeit” wird in diesem Zusammenhang als Entfaltung der Abwesenheit von Spuren angesehen. Was in der Phantasie der Jungfrau allerdings ausgedrückt wird, ist der unbewußte und auf der fleischlichen Ebene widersprüchliche Wunsch zu gebären, ohne dabei entjungfert zu werden. Denn die junge Magersüchtige stellt sich fast immer als Mutter, als “Vierge-mère” (Jungfrau-Mutter) vor, d.h. als “auserwähltes” Geschöpf, das durch Gott unabhängig von den Naturgesetzen befruchtet wird. Sie will ein Kind “für sich selbst” haben. Sie hat Lust auf das Kind und nicht auf den Vater, empfindet das Kind als “Teil ihres Selbst”. Viele magersüchtige Frauen gehen in die Schwangerschaft wie früher die Heiligen ins Kloster, der Wunsch nach einem Kind enthüllt sich als ein narzißtischer Wunsch nach letaler Verschmelzung bzw. als der Tod des Begehrens für den Anderen. Durch die Phantasie der “Vierge-mère” verraten sie sich als Menschen, auf den der Andere keine Spuren hinterläßt. Daher wird jeder Andere als unvollkommener Teil ihres Selbst abgelehnt. Suchen sie dennoch einmal den Anderen, so immer in der Form eines idealisierten Objekts (das auch der Vater sein kann), das als allmächtig, als Doppel von sich selbst erlebt wird, und dies durch die Projektion des infantilen, für ein Minimum an Selbstliebe unentbehrlichen Narzißmus.

“Ich muß demjenigen ähneln, den ich liebe”, sagte Marie von ihrem Freund, in dem sie ihren “Zwillingsbruder” sah. Geboren waren sie am selben Tag des selben Jahres im Sternzeichen der Fische, die gemeinhin als Paar darstellt werden. Die beiden Fische sind an den Schwänzen zusammengewachsen und über die Mäuler durch eine Art Nabelschnur miteinander verbunden. In Maries Phantasie finden wir die Liebe von Narziß für seine Zwillingsschwester Echo wieder und damit die Verneinung seiner inneren Trennung durch die Schöpfung eines imaginären Doppels, einer absolut identischen “âme-soeur” (Schwester-Seele), die die ersehnte Verschmelzung ermöglicht.

Ebenso wie in religiösen Texten steht, daß “der Mann und die Frau zu einem einzigen Fleisch werden” , konnte sich Marie keine andere Liebeskunst vorstellen. Bei einer solchen Bindung gibt es keinen Zwischenraum mehr. Der Mann und die Frau sind unzertrennlich, zu einem einzigen Menschen verschmolzen. Dies wird auch durch den doppelten Selbstmord von Antigone und ihres Verlobten Haimon (Kreons Sohn) in Sophokles’ Tragödie symbolisiert, als Haimon sich auf Antigones Leichnam den Tod gibt. Unter der Steinplatte der Gruft läßt sich am besten die Verewigung der Liebe deutlich machen: die im Tode vereinigten Geliebten stellen vielleicht zu guter Letzt die befriedigendste Figur der Verschmelzung dar…

Das Thema der Geschwisterliebe bei Antigone ist auf jeden Fall ein Leitmotiv in ihrem Schicksal, das auch im Diskurs mancher magersüchtigen Frauen wiederkehrt. Der Geliebte fungiert bei ihnen häufig als “Zwilling”, wobei das Zwillingsthema das Inzestthema in doppelter Weise enthält. Dies tritt in Erscheinung bei einem wichtigen mythischen Zug, der von Otto Rank bemerkt und in seiner Studie über das Thema des Doppels notiert wurde. Die Vorstellung, daß die Zwillinge sich selbst erschaffen haben, gründet seiner Meinung nach in dem früher verbreiteten Glauben, daß Zwillinge verschiedener Geschlechter schon vor der Geburt, im Körper der Mutter, sexuellen Verkehr haben könnten und auf diese Art das Tabu der Exogamie transgredierten. Dieser Glaube ist bemerkenswert, man könnte meinen, das das von Grund auf schwankende Individuum sich danach sehne, mit jemandem verbunden zu sein, der in einem Schimmer von Androgynie zugleich Eigenschaften vom Gleichen und vom Anderen besitzt, um nicht hoffnungslos durch die Existenz irren zu müssen.

 

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