2.1 Das Problem der Identität

<<< Kapitel 2: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit

Anorexie und Bulimie erscheinen in der Suche nach Schlankheit um jeden Preis als zwei Formen einer “Hungerkrankheit”. In beiden Fällen stützt sich die Eßstörung auf eine Ablehnung von Nahrung durch den realen Körper in einem verzweifeltem Versuch, sich vom Begehren und von der Macht einer männerbeherrschten Gesellschaft zu befreien. Luce Irigaray (1979) beschreibt diese “Doppelgesichtigkeit” der Frau und ihres Körpers so: “Die Ware – die Frau – ist in zwei unversöhnliche Körper geteilt: ihren “natürlichen” Körper und ihren gesellschaftlich wertvollen, austauschbaren Körper, (mimetischer) Ausdruck männlicher Werte.” Später schrieb die betroffene Maryse Holder in diesem Zusammenhang:

“Stan und sein ewiges, wenn du fett bist, brauchst du erst gar nicht zurückzukommen, hängen mir auch zum Hals raus. Niemand hat Interesse an der netten, cleveren Dicken.”

Das allgemeine Wohlbefinden scheint für Bulimikerinnen stark von ihrem Körpergewicht abzuhängen; wiegen sie mehr als sie eigentlich möchten, fühlen sie sich in ihrem Körper äußerst unwohl. “Alles, was ich möchte, schreibt Maryse, “ist ein Mann, dem ich gefalle.” “Stoße auf meine Probleme und mein widerwärtiges Ich und meine Unfähigkeit, geliebt zu werden, ich bin häßlich. Ich habe keine Familie (…) ich rauche mich zu Tode, suche verzweifelt nach Liebe”.

Der Verzehr toxischer Objekte ist dann der Rettungsreflex derjenigen, die sich tief in ihrem Inneren verarmt und liebeshungrig (oder schuldig) fühlen. Unsere westliche Gesellschaft nimmt sich zwar vor, alle Bedürfnisse der Jugendlichen zu erfüllen – und natürlich beginnt dies mit der Nahrung -, ohne sich aber über ihre wahren Bedürfnisse Gedanken zu machen. Nun findet der Mensch seinen Selbstwert und seine Identität nur gemäß seiner – bewußten und unbewußten – Wünsche. Das Mästen eines Menschen führt dazu, daß er als Individuum mit eigenen Wünschen verneint wird. Das Erfüllen der Bedürfnisse schließt außerdem die Möglichkeit des Mangels aus, aus dem heraus das Begehren entsteht. Die Konsumgesellschaft, in der wir leben, tendiert dazu, sich wie eine mästende “Mutter” zu verhalten, die die Befriedigung materieller Bedürfnisse auf Kosten des begehrenden Ergießens des Subjekts privilegiert. Durch die Magersucht lehnt sich die Frau gegen die Insignifikanz auf, die dem Leben des Menschen jeden Sinn raubt, und ihr abgemagerter Körper richtet sich auf als Repräsentant eines Raumes, der keine lebendige Sprache kennt, sondern nur einen alltäglichen pflichtbewußten Diskurs, in dem sie schon vor ihrer Geburt versenkt worden ist: einen Diskurs, der nur von Bedürfnissen handelt. In einer Welt, die durch den Konsum regiert wird, äußert die magersüchtige Frau gerade durch ihren Verzicht auf die physiologischen Bedürfnisse des Körpers die Leere und die Abwesenheit des Begehrens im Leben des Menschen.

Schon 1882 schrieb Eleanor Marx, die magersüchtige Tochter von Karl Marx, an ihre älteste Schwester Jenny:

“Was weder Papa noch die Ärzte noch sonst jemand verstehen will, ist, daß ich hauptsächlich seelischen Kummer habe… Sie können und wollen nicht sehen, daß seelische Bedrängnis genauso eine Krankheit ist wie körperliche Beschwerden es wären.”

Essen heißt also für die magersüchtige Frau, einer Allmächtigkeit den Vortritt zu lassen, die ein reales Objekt – die Nahrung – aufzwingt, und so das ernährte Wesen auf ein Wesen reduziert, das von Bedürfnissen lebt. Durch ihre Essensverweigerung wollte Eleanor Marx, wie viele magersüchtige Frauen heute, von ihren Eltern einen Liebesbeweis, einen Beweis ihres Begehrens – was sie aber anscheinend nicht erreichte:

“Ich klage überhaupt nicht gern und vor allem gegenüber Papa nicht – denn er schimpft mich dann richtig aus, als ob ich mich auf Kosten der Familie ‘gehen ließe’.”

Diese Verwechslung der Sache mit der Person finden wir auch bei Kafka in dem Brief an den Vater wieder:

“Seit jeher machtest du mir zum Vorwurf (und zwar mir allein oder vor anderen, für das Demütigende des letzteren hattest Du kein Gefühl, die Angelegenheiten Deiner Kinder waren immer öffentlich), daß ich dank Deiner Arbeit ohne alle Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle lebte”.

Die junge Valérie Valère mußte auch früh lernen, daß Liebe und Anerkennung nur mit der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Regungen und Gefühle wie Haß, Ekel, Widerwille und somit um den Preis der Selbstaufgabe zu erkaufen sind. Diese von Alice Miller beschriebene Entleerung, das “Einfrieren der Gefühle”, machte aber schließlich ihr Leben sinnlos und weckte in ihr Todesgedanken. Sie verweigerte das Essen, weil sie es nicht mehr ertrug, immer im Schatten der Familie zu leben. Ihre Magersucht wurde zur Rebellion, ein Ausdruck für ihr Streben nach einem autonomen Selbst und stellte die Verdichtung eines Ringens zwischen dem Individuum und den Anderen um die Kontrolle über den Körper dar:

“Nur diese 9 Kilo interessieren euch, wenn ich nur zunähme, auch ohne etwas über mich preiszugeben, würdet ihr mich gehen lassen, ihr seid nichts als Heuchler, nichts als Scharlatane” , warf Valérie den Psychia-tern vor.

Auf eine erschütternde Art denunzierte sie in ihrem Bericht über “Das Haus der verrückten Kinder” die klassische Psychiatrie und zeigte, wie diese trotz ihres riesigen Apparats im Grunde hilflos bleibt:

“Das, was die Psychiater sagen, ist falsch, das kommt nicht einfach so, ohne daß man es gewollt hat und reiflich überlegt hat. Man kann nicht von einem Tag auf den anderen keinen Hunger, keinerlei Bedürfnisse mehr haben, das ist falsch! Das ist ein Training, ein Ziel: Nicht mehr wie alle anderen zu sein, nicht mehr Sklave dieses körperlichen Verlangens zu sein, nicht mehr diese Fülle mitten im Bauch zu spüren und nicht die falsche Freude, die sie empfinden, wenn der Dämon des Hungers sie zwickt. Ich habe den Eindruck, daß diese Regel in eine andere Welt führt, in eine reine Welt, ohne Anfälle, ohne Unrat, dort tötet sich niemand, weil niemand ißt.”

Durch die Magersucht wird also der Rückzug aus der aggressiven und brutalen Horde der Menschen dadurch ermöglicht, daß die junge Frau ihren Körper verschwinden läßt und unsichtbar macht. Diese Aufhebung des Körpers ist in Verbindung zu sehen mit der autoaggressiven Tendenz der Anorektikerin, macht sie durch Totstellen unerreichbar.

“Der schlechte Körper, der vom Selbst festgehalten wird, behütet die Existenz eines guten, idealisierten, annehmbaren und respektierten Ichs” , schreibt die Familientherapeutin M. Selvini Palazzoli. Der knochige Körper verkündet: “Ich habe gesiegt; ich bin jetzt jemand.” Für Valérie Valère war “Körper-sein” gleichbedeutend mit “Sache-sein”. Das Krankenhauspersonal und der Psychiater hörten nur auf Zahlen, genau wie ihre Mutter und ihre Großmutter: Valérie wog 31 Kilo, als sie eingewiesen wurde.

Der Kampf gegen den Körper ist demnach ein verzweifelter Kampf gegen Verdinglichung, ein Paradox, denn während Valérie sich weigert, eine “Sache” zu sein, trägt sie ihren Kampf nicht auf einer geistigen Ebene aus, sondern viel mehr auf einer rein materiellen: der des eigenen Körpers. Der eigene Körper wird wie ein materielles “Objekt” behandelt, das man nach Belieben gestalten kann. Ziel ist es, einen makel- und tadellosen, unterworfenen und gehorsamen Körper zu besitzen, da das Körper-Ideal auch mit einem Ich-Ideal gleichgesetzt wird. Magerkeit hat dennoch im Vergleich zu Schlankheit im wesentlichen “die Bedeutung von Gewichtlosigkeit und Leere”, schreibt S. MacLeod. So ging es auch Valérie:

“Ich spüre nur Leere in mir, eine unendliche Leere, so unauslösbar wie die der Korridore.” “Ich weiß nicht einmal mehr, daß ich existiere, daß ich das Recht habe zu existieren.”

Wenn man den Aussagen vieler Betroffener Glauben schenken will, handelt es sich in der Magersucht also weniger um eine Unterordnung unter die kollektiven Ideale der Schlankheit als vielmehr um einen Versuch, irgendeine Kränkung oder Unvollständigkeit aus der Kindheit für sich wiedergutzumachen. “Der ‘Hunger’ ist nicht nur eine Angelegenheit des Magens, sondern auch des Narzißmus. Erhält ein Individuum im Kleinkindesalter nicht genügend Bestätigung in Form von Wärme, Stimulation und Kognitionsmöglichkeiten”, so bleibt es nach R. Battegay “ungestillt im Bereich des Selbst. Es bleibt ‘liebeshungrig'”. Dieses “Hungrig-sein” nach Liebe bedeutet für Battegay, daß der betreffende Mensch “zeitlebens eine Leere in seinem Selbst und in seinem Selbstgefühl schmerzend erlebt und alles daran setzt, diese schmerzlich empfundene Befindlichkeit zu beheben.” Wenn die Frau in ihrer weiblichen Identität nicht gefestigt ist, wird dieser Ur-Schmerz bei jeder Veränderung neu belebt: in der Pubertät, während der Jugendzeit, bei Schwangerschaften (“Werde ich eine gute Mutter sein?”) oder in den Wechseljahren. Und wenn das Hungern der amerikanischen Autorin Maryse Holder ein Protest war, die Rolle einer erwachsenen Frau zu übernehmen, so war es gleichzeitig auch eine beißende Antwort angesichts der Unmöglichkeit, die ideale ältere Frau zu sein:

“Kotzen, meine Metapher”, schreibt sie. “Unglücklicherweise kann man sein Alter nicht auskotzen.”

Bei der Magersucht handelt es sich um den sehnsüchtigen und verzweifelten, stummen Hilfeschrei angesichts einer unformulierbaren Verlassenheitsangst oder diesem “Gefühl der Nichtigkeit”, das von Franz Kafka in dem Brief an seinen Vater deutlich beschrieben wurde:

“Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund komme und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war.”

An dieser Stelle muß betont werden, daß zunehmend auch junge Männer an Magersucht leiden, um zu verstehen, daß die Wichtigkeit, die der besonderen Eigentümlichkeit des Mutter-Tochter-Verhältnisses in der Magersucht beigemessen wird, relativiert und durch die Berücksichtigung anderer Dimensionen vervollständigt werden muß. Viele Betroffene finden die schweren Mahlzeiten und nichtssagenden Unterhaltungen ihres Familienlebens spießbürgerlich und verabscheuenswert. Dies finden wir auch bei Kafka wieder:

“Was auf den Tisch kam, mußte aufgegessen, über die Güte des Essens durfte nicht gesprochen werden. Du aber fandest das Essen ungenießbar, nanntest es ‘das Fressen’: das ‘Vieh’ (die Köchin) hätte es verdorben. Weil Du entsprechend Deinem kräftigen Hunger und Deiner besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in großen Bissen gegessen hast, mußte sich das Kind beeilen, düstere Stille war bei Tisch, unterbrochen von Ermahnungen: ‘zuerst iß, dann sprich’ oder ‘schneller, schneller’ oder ‘siehst du, ich habe schon längst aufgegessen.'”

Es handelt sich bei der Magersucht daher um eine multifaktorielle, existentielle Krise, die natürlich durch das kulturelle Klima ermutigt wird. Was auf jeden Fall den Kern der magersüchtigen Pathologie (im griechischen Sinne von pathos = Leiden) ausmacht, ist das Problem der Identität. Die jungen magersüchtigen Frauen versuchen in der Tat, immer wieder neu zu definieren, was sie sein möchten: “eine Sy’phe oder vielmehr eine Elfe”, “eine Tochter des Meeres” oder “eine Abenteuerin, Kultursuchende, Vamp” (Maryse Holder), unendliche Variationen unterschiedlicher Charaktere, aus Angst zu erfahren, wer sie tatsächlich sind. Die Anhänger Lacans würden in diesem Zusammenhang auch die “Angst vor dem Ursprung” anführen, da die Anorektikerinnen in ihrer Frühkindheit “im Stich gelassen” oder bei der Geburt “unerwünscht” gewesen seien. Eben diese Klage finden wir auch bei den oben schon genannten Schriftstellerinnen (V. Woolf, T. Blixen, S. Weil, V. Valère, M. V. Rouiller, M. Holder) wieder. Virginia Woolf schreibt über ihre Eltern:

“Und obwohl sie ihre Familie in Grenzen halten wollten, bewies mein Empfängnis (Geburt 1882), daß sie keinen Erfolg hatten. Adrian sollte dann noch, auch gegen ihre Absicht, (1883) folgen.”

Das Verhältnis zu dem Körper gibt der existentiellen Angst vor dem Ursprung eine besondere Note: der Körper selbst wird als leer empfunden, fühlt sich von innen her nicht bewohnt. Daher fordert er den Blick der Anderen, um sich seiner Existenz zu versichern. Auf ihrer Reise in Mexiko suchte die amerikanische Schriftstellerin Maryse Holder vor allem Selbstbestätigung als Frau in der Eroberung von “tollen Männern”. Sie mußte sich in jemand Gutaussehendem spiegeln, da sie sich selbst häßlich fand. Der Schmerz ließ auf diese Weise nach. “Belustigtes Überlegenheitsgefühl stellt sich wieder ein (Illusion)”, schreibt sie, “ein Zyklus, der sich immer wiederholen wird.” “Freud, was will die Frau?” fragte Maryse in ihrer Verzweiflung. “Als ob er die Antwort nicht gewußt hätte: ein Mann sein! Und doch stimmt das auch wieder nicht, ich wäre gern körperlich so stark wie sie, aber ich mag meine weibliche Sensibilität … Aber was würde ich nicht für ihre Freiheit geben. Ohne diese geheimen Schuld- und Schamgefühle trinken oder auch nur rauchen zu können, ohne dabei diese Distanz zu anderen Frauen zu empfinden.”

Die Liebe bestand nun für sie wie damals für Virginia Woolf – auch wenn auf eine ganz andere, fast entgegengesetzte Art – darin, sich verwöhnen und verhätscheln zu lassen. Die Männer sollten Maryse eine beharrliche Ergebenheit erweisen, die sich nicht als falsch herausstellen durfte. Auch Leonard Woolf wurde Arzt, Krankenschwester und Vater zugleich, mehr Bruder als Ehemann, und außerdem der wichtigste literarische Berater von Virginia!

Einige junge Frauen gehen bis zu einer Krankenhauseinweisung, um familiären Konflikten oder Problemen in der Schule oder auf der Universität zu entgehen, um vor sich selbst zu fliehen, eine mühselige Psychotherapie zu unterbrechen oder manchmal gar, um “bemuttert” zu werden und NICHTS mehr tun zu müssen und dem Unterschied zwischen den Geschlechtern und der Konkurrenz, den diese mit sich bringt, zu entkommen. Dies wird von Maria Erlenberger in ihrem Bericht “Der Hunger nach Wahnsinn” deutlich geschildert:

“Hier trennt man nicht zwischen weiblich und männlich, hier heißt der Überbegriff ‘Irr’. Hier hat jeder den gleichen Anspruch auf Irresein. Die Männer sind hier den Frauen gegenüber nicht bevorteilt. Egal, ob männlich oder weiblich, hier hat jeder die gleichen Chancen und es kommt zu keinem Konkurrenzkampf, jeder kann sich gemäß der Energie seiner Persönlichkeit den Wahn aussuchen (…) Hier muß man die männliche oder weibliche Rolle nicht spielen.”

In Studium, Beruf und im Wettbewerb um sozialen Erfolg wird die Frau immer mehr mit der Macht und dem Narzißmus des Mannes konfrontiert. Sie muß ihm beweisen, daß auch sie mit einer konkurrenzfähigen Aggressivität ausgestattet ist, die mit der traditionellen Frauenrolle wenig vereinbar ist. Dieses plötzliche Hinabstürzen in eine grausame Gesellschaft, in der es jederzeit darum geht, “die Beste (und auch die Schönste) zu sein”, bereitet vielen jungen, noch sehr sensiblen Frauen, die gerade erst den Familienschoß verlassen haben, eine unerträgliche innere Spannung.

Wir wissen inzwischen, daß magersüchtige Frauen oft Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Wünsche innerhalb der Familie durchzusetzen, aus Angst davor, die elterliche Billigung zu verlieren. Wir können uns dann fragen, ob sie sich nicht aus diesem Grunde heraus leichter dem kulturellen Imperativ der Schlankheit unterordnen als andere Frauen. Ganz offensichtlich haben aber viele magersüchtige Frauen eine Reihe unzusammenhängender Erfahrungen erlitten, die sie dazu brachten zu hungern: entweder wurden sie von einer ablehnenden Mutter an eine Großmutter oder Tagesmutter in Obhut gegeben, die ihrerseits aus einem eigennützigen unbewußten Wunsch von ihnen erwarteten, jemand anders zu sein (d.h. ein verlorenes Kind, einen verlorenen Partner zu ersetzen); oder die Mutter selbst hatte keine ausreichende Kohärenz ihres inneren Selbstbildes erlangt; oder die Mutter war gestorben. So war es bei vielen magersüchtigen Autorinnen wie V. Woolf, M. Holder, M.V. Rouiller und S. MacLeod:

“Ich hatte mich mit meiner Mutter so identifiziert, daß ich ihre Symptome und als natürliche Folge auch ihren Tod auf mich nahm. Indem ich zu diesem Zeitpunkt magersüchtig wurde, brachte ich drei Dinge zum Ausdruck:

1. ‘Ich möchte von dir befreit sein, Mutter, doch fühle ich mich wegen einer solchen Treulosigkeit schuldig und kann mich deshalb nicht völlig befreien.’

2. ‘Wenn ich Ich bin, dann lebe ich, wenn ich Du bin, bin ich tot, und ich kann das nicht unterscheiden.’

3. ‘Ich muß Ich (die Magersüchtige) sein, weil ich nicht sterben will.'”

Bei allen Autorinnen geht es gleichzeitig um die Unfähigkeit, sich von einem geliebten Objekt zu lösen, das sie in solchem Maß vereinnahmt, daß die Grenzen zwischen ihm und einem selbst undeutlich werden. Sie werden die lebende Ausdehnung von Toten, ein Ersatz für sie, und dies hemmt ihre Liebesfähigkeit: “… da ich so sehr von dem Kampf mit mir selbst absorbiert war, dem Kampf zwischen meinem Selbst und meinem Körper”, schreibt Sheila MacLeod, “existierten andere Menschen nicht wirklich für mich.”

 

Die narzißtischen Kränkungen, die Unaufmerksamkeit oder die affektiven Lücken der Frühkindheit werden in der Pubertät, nach der Latenzperiode, wieder belebt, da die mehr oder weniger ausgesprochene Uneinigkeit zwischen den Eltern üblich ist. Auf jeden Fall wird die heranwachsende Frau ihrer Familie die “Rechnung” einreichen: es kann der abgemagerte, leidvolle Körper der Anorexie sein; es können aber auch die heimlichen, kostspieligen Nahrungsorgien der Bulimie sein mit ihren Tränenausbrüchen und Mißerfolgen in Schule oder Universität, obwohl gerade dieses begabte Kind die ganze Hoffnung der Familie war. Die Französin Marie-Victoire Rouiller hat in der Form von Briefen diese teuere Rechnung an ihre Tante adressiert:

“Ich höre nicht auf, von Ihnen Rechenschaft zu fordern. Da ich von Ihrer Liebe nicht leben konnte, will ich zumindest meinen Schmerz mit Ihnen teilen. Bis wann muß ich mit Erbrechen die Tränen bezahlen, die ich wegen Ihnen zurückgehalten habe? (…) Und was soll ich aus all diesem Körper machen, den Sie nie richtig umarmt haben?”

Indem sie ein Symptom zur Schau stellt, das sich dem Blick kaum entzieht, stellt die magersüchtige Frau die folgenden wesentlichen Fragen: “Wer bin ich? Wo ist mein Platz? Stehe ich in der Familienmythologie am richtigen Platz?” Das Symptom hat dann die Funktion, die Frage des Subjekts in Bezug auf jenen Platz zu stellen, wo es vor seiner “körperlichen” Geburt war. Es stellt körperlich die soziale und psychische Übertragung der Verwandtschaft in Frage, indem es jeden Elternteil auf den Sinn ihres Zusammenseins zurückwirft: “Warum habt ihr gerade dieses Kind zur Welt gebracht?” In vielen Fällen nimmt die magersüchtige Frau bei ihren Verwandten nur ein förmliches Begehren wahr. Sie leidet nicht unter einer materiellen Leere, sondern unter der Leere der innerlichen Welt der Eltern. Valérie Valère bekam schon sehr früh die Ablehnung der Eltern zu spüren. Ihre Mutter hatte erfolglos versucht, sie abzutreiben. Für ein zweites Kind hatte sie kein Geld (das erste war ein Sohn gewesen), und sie hatte unaufhörlich Streit mit ihrem Mann, der auf keinen Fall eine Tochter wünschte (Ihr Vater hatte in seiner Jugend eine Vorliebe für Männer, heiratete aber dennoch ihre Mutter). Die Großmutter hatte Valérie zu sich genommen und sich um sie gekümmert. Die Mutter schien die echten Bedürfnisse von Valérie nicht wahrzunehmen. Sie sah sie nicht richtig an, redete, als ob sie nicht anwesend wäre, war nur auf sich selbst konzentriert. Und auch Valérie wurde unfähig, sich selbst zu spüren, da niemand um sie herum sie richtig spürte und liebte. Diese Distorsionen führten bei ihr zu einer Verkennung ihrer Ichgrenzen, ihres Sinnes für Identität und ihres Körperbildes. Daraus ließen sich die Unfähigkeit, ihre emotionelle Bedürfnisse zu artikulieren, das Fehlen sinnlicher Empfindungen und das Gefühl von Machtlosigkeit und Abhängigkeit ableiten. In diesem Sinne ist die Lebensgeschichte von Valérie nicht sehr viel anders als die von Christiane vom Bahnhof Zoo. Beide erzählen in der Art, wie sie sich versklavt und ums Leben gebracht haben, was mit ihnen in der frühen Kindheit geschehen ist: Verständnislosigkeit und Mangel an Einfühlungsvermögen für die wahren Bedürfnisse des Kindes. “Wie die Eltern früher mit Hilfe des Schlagens die Gefühle des Kindes nach ihren Bedürfnissen erfolgreich unter Kontrolle bekamen, so versuchte Christiane ihre Stimmungen mit Hilfe der Drogen zu manipulieren”, schreibt Alice Miller. Die Sehnsucht nach dem wahren Selbst wird in ähnlicher Weise von Magersüchtigen selbst bestraft, wie ihre ersten vitalen Regungen in der frühen Kindheit einst bestraft wurden: “mit der Tötung des Lebendigen”.

Es geht also darum, das falsche Selbst zu töten, das das lebendige Selbst erstickt:

“Ich hatte nichts; ich war nichts. Positiver ausgedrückt erhielt ich das, was ich nicht wollte (was dem gleichkam, daß ich nichts erhielt), und wurde als die eingeschätzt, die ich nicht war (was dem gleich kam, als Nichts eingeschätzt zu werden). Meine einzige Waffe in meinem Streben nach Autonomie war der Streik.”

Dem Verfolger im eigenen Selbst, der sich oft als Erzieher tarnt, konnte auch Sheila MacLeod nirgends entfliehen. In der Magersucht übernahm er die vollständige Herrschaft. Eine grausame Versklavung des Körpers und Ausbeutung des Willens waren die Folgen. Das Gewicht wurde streng kontrolliert und der Sünder sofort bestraft, wenn er die Grenzen überschritten hatte. Das oberste Gesetz dieses Familiensystem heißt nach Alice Miller, “alle Mittel sind gut, damit du so wirst, wie wir dich brauchen, und nur so können wir dich lieben. Das spiegelt sich später im Terror der Magersucht. Ein konditioniertes, braves Kind darf nicht spüren, was es empfindet, sondern fragt sich, wie es fühlen sollte.”

Wir finden hier einen Zustand der “inneren” Kolonialisierung, der einer Zone des Nicht-Seins weicht, die mit einer außergewöhnlichen dürren und sterilen Wüste vergleichbar ist. “Das sind”, schreibt Kafka, “aus Eigennutz geboren, die zwei Erziehungsmittel der Eltern: Tyrannei und Sklaverei in allen Abstufungen, wobei sich die Tyrannei sehr zart äußern kann (‘Du mußt mir glauben, denn ich bin deine Mutter’) und die Sklaverei sehr stolz (‘Du bist mein Sohn, deshalb werde ich dich zu meinem Retter machen’), aber es sind zwei schreckliche Erziehungsmittel, zwei Antierziehungsmittel, geeignet, das Kind in den Boden, aus dem es kam, zurückzustampfen.”

Die affektive Nicht-Aufwertung des Kindes führt später immer zu einem extrem schmerzlichen und verfolgenden Gefühl, ausgeschlossen und überall überflüssig zu sein und nirgendwo seinen Platz zu haben. “Jemand anders” zu sein, ist ein Ausdruck, der zum Sprachgebrauch von vielen magersüchtigen Frauen gehört, die sich von der Familie vereinnahmt, bzw. “kolonialisiert” fühlen:

“Ich war das Engelchen der Familie”, schrieb Valérie, “immer hat mein Bruder was an meiner Stelle abgekriegt.” “Nein”, sagte ihre Mutter zum Psychiater. “Sie hat nie geweint; sie hat immer ‘sehr gut’ in der Schule (…) Alle Welt liebte sie, fand sie süß, alle hätten gern eine Tochter wie sie gehabt.”

Was Valérie in ihrem Bericht denunzierte, war die scheinheilige Welt der Erwachsenen, “eine käufliche Welt” wie sie zu sagen pflegte. “Jetzt ist alles korrekt”, dachte der Vater, “ich habe eine perfekte Frau gefunden, und sie wird nie etwas merken. Wenn wir hübsche kleine Babys zustande bringen, wird in den Augen der Leute alles in Ordnung sein.” Was für die Erwachsenen zählt, ist die Meinung der Anderen, der Nachbarn, der Lehrer … Immer die Fassade, das Äußere, die Oberfläche, denn “le linge sale se lave en famille” (die schmutzige Wäsche wird in der Familie gewaschen). Aber gerade das ist es, das Geheimnisvolle, “das im Elternhaus verschwiegene, das an die Scham-, Schuld-und Angstgefühle der Eltern Rührende, das die Kinder beunruhigt”, schreibt Alice Miller. Und Söhne und Töchter inszenieren das Schicksal ihrer Eltern, um so intensiver unbewußt, je ungenauer sie es kennen , z.B. die verleugnete Homosexualität des Vaters bei Valéries Bruder und sich selbst.

Maryse Holder ließ sich im Ausland umbringen und wiederholte auf diese Weise den schrecklichen Mord ihrer Mutter durch die Nazis im besetzten Frankreich. Sie war fest davon überzeugt, daß ihre Mutter sie “im Stich gelassen hatte” und ihr Tod eine Art Selbstmord, eine Flucht vor dem Ehemann gewesen war. Ausschlaggebend war der Druck unerträglicher Verhältnisse im Privatleben der Mutter: “Die Nazi-Okkupation allein hätte keine Mutter von ihrem Kind zu trennen vermocht.” Und dennoch entschied Maryse Holder sich für Männer, die ihr “Angst und Schrecken” einjagten, bis sie selbst ums Leben kam.

“In Mexiko konnte sie ihre inneren Qualen und Ängste ausleben und sich daran berauschen”, schreibt ihre Freundin Edith Jones. Das Geheimnis, das um den Tod ihrer Mutter gemacht wurde, führte sie zu einer wiederholten Dramatisierung dieses Todes, denn wer seine Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen. Ein Beispiel von zwei jungen magersüchtigen Frauen aus Frankreich, Marie-Antoinette und Lili, soll dies veranschaulichen:

Antoinette ist das Enkelkind von italienischen Flüchtlingen, die unter Mussolini nach Frankreich auswanderten: “Ich wußte wohl, daß mein Name von meinen Eltern nicht ausgesucht worden war, um die besondere Person zu bezeichnen, die gerade geboren war. Ich hatte ganz einfach den Vornamen meiner Großmutter mütterlicherseits bekommen, wie es in Italien damals üblich war. Was den Namen allein betraf, war ich für mich selbst ein NICHTS. Das Schicksal hatte es so gefügt, daß der Vorname meiner im Alter von neunundzwanzig Jahren im Exil verstorbenen Großmutter -meine Mutter war damals 8 Jahre alt- auf mich als älteste Tochter fiel. Indem sie mich wie ihre Mutter nannte, beraubte mich meine Mutter, ohne es zu wollen, meines Selbst. Ich verbrachte meine ganze Kindheit und Jugend damit, den Tod herbeizuwünschen, so wie ich mir gewünscht hatte, von meiner Mutter geliebt zu werden. Denn ich dachte, daß ich wie meine Großmutter immer und ewig hätte sterben müssen, um endlich das Recht zu haben, mich Tag und Nacht in ihren tiefsten Gedanken zu vergraben.”

 

Die junge Antoinette war immer von schwarzen und zu engen Kleidern eingeschnürt, die die Magerkeit ihrer Figur noch betonten. Hiermit stellte sie bis zum Exhibitionismus das Bild einer “Lebend-Toten” dar, eine Abwesenheit bzw. eine Leere im Symbolisierungsprozeß, die ihrer Familie eigen war und die gelegentlich anläßlich eines Todesfalles aufgedeckt wird, dessen Trauerarbeit nicht stattgefunden hat. Eine solche Leere in der Symbolisierung ließ im Realen des skelettartigen Körpers die Vergegenwärtigung der Toten zum Vorschein kommen. Es kommt noch hinzu, daß Antoinettes Familie eine beeindruckende Reihe unheilvoller Trauerfälle erlebt hatte: die beiden Großväter der Mutter wurden von den Faschisten ermordert, mehrere Onkel gehängt; ihre Großmutter starb, wie erwähnt, im Exil an einer Lungenentzündung; ihr Großvater wurde acht Jahre später von Männern aus seinem Dorf erstochen, weil er im Kriegsjahr 1943 (als Italiener) “das Brot der Franzosen” aß.

Im Wunsch ihrer Mutter mußte Antoinette die unsterbliche Mutter ihrer Mutter sein und bleiben. Sie mußte sie ersetzen und ihren Tod aufheben. Das ist Unglück, “le malheur de n’être, de naître jamais que de rien”, schreibt Serge Leclaire in diesem Zusammenhang. Antoinette erscheint also als ein Ersatz, und ihr Kampf besteht darin, Antoinettes Darstellung, lebendiges Substitut der toten Antoinette, zu töten bzw. auszuhungern.

Für den Psychoanalytiker Jacques Lacan wird das Subjekt schon vor seiner Geburt in ein jeder Kultur zwar eigenes Sprachbad eingetaucht, doch ist dieses auch spezifisch für den besonderen bewußten wie unbewußten Diskurs, der jede Familiengeschichte trägt. Dies gestattet es Lacan, eine Art etymologisches Spiel zu entwickeln, parere-procurer (verschaffen), separare-séparer (trennen, absondern), se parere-s’engendrer soi-même (sich erzeugen, gebären), wobei er den intensiven Charakter eines solchen Spiels hervorhebt: “der Teil hat nichts mit dem Ganzen zu tun, er spielt seine Partie allein. Das Subjekt vollzieht hier durch seine Trennung seine Geburt.” Die Anorexie wäre in diesem Zusammenhang die einzige Möglichkeit für das Subjekt, als begehrendes Subjekt -außerhalb des Begehrens der Mutter- zur Welt zu kommen. Nach G. Raimbault und C. Eliacheff kann das Anorexie-Symptom ebenfalls als eine Frage des Subjekts nach der “Familienmythologie” und ihrer Ordnung, nach ihren Rissen, nach dem Gesagten und dem Nicht-Gesagten sowohl nach seinem Platz als Subjekt innerhalb dieser Familie entziffert werden:

“Was bin ich? Bin ich der passende Erbe? Bin ich ein Ersatzteil? Eine Kompensation? Eine Rache? Ein Wiedergutmachungsmittel? ein Lückenbüßer? ein Gespenst? Habe ich einen Toten ersetzt?”

Wenn wir zudem berücksichtigen, daß die Familie von Natur aus “exzentriert, dezentriert” ist, daß Vater-Mutter-und-Ich immer “in unmittelbarem Kontakt zu den Elementen der historisch-politischen Situationen, dem Soldaten, dem Bullen, dem Okkupanten, dem Kollaborateur, dem Protestierenden oder Widerstandsleistenden” oder dem Flüchtling, dem Folterknecht stehen, “die alle fortwährend jegliche Triangulation aufbrechen und die verhindern, daß das jeweilige Situationsgefüge sich auf den familialen Komplex beschränkt und sich in ihm verinnerlicht” , dann können wir vielleicht verstehen, was sich im Unbewußten magersüchtiger Frauen abspielt. Sie handeln und wiederholen, ohne es zu wissen, bestimmte Lebensszenarien, und sind ebensosehr ihrer individuellen Geschichte wie ihrer Familienmythologie ausgesetzt, die ihrerseits nichtfamiliären Einschnitten ausgesetzt war: “Religion und Atheismus, der Krieg in Spanien, der Aufstieg des Faschismus, der Stalinismus, der Krieg in Vietnam, der Mai 68 …”: dies alles zusammen bildet nach Deleuze und Guattari die Komplexe des Unbewußten.

 

Die junge Ungarin Lili lebte in den Vereinigten Staaten, um Englisch zu lernen und sich fern vom Blick ihrer Mutter zu verwirklichen, nachdem ihre Eltern sich kurz zuvor hatten scheiden lassen. Sie kam ein Jahr später abgezehrt nach Hause zurück:

“Mein Großvater war während des Dritten Reiches Richter in Ungarn gewesen. Er war an der Verfolgung der Juden beteiligt und ist heute noch der Meinung, daß es sich um ein minderwertiges Volk handelt. Meine Mutter hatte nie den Mut, sich mit ihrem Vater auseinanderzusetzen. Sie hatte schrecklich Angst vor ihm und seinem Zynismus. Alle in der Familie wußten, daß er Frauen und Kinder hatte hinmorden lassen, aber niemand redete offen darüber. Ich aber weigere mich dagegen, die Enkeltochter (sie versprach sich und sagte Ekeltochter) eines Nazi-Verbrechers zu sein. Da ich von meiner Mutter zum Schweigen verurteilt wurde, will ich mit meinem abgezehrten Körper zeigen, daß ich auf der Seite der Opfer der Judenverfolgung stehe, auf der Seite aller Menschen, die in den KZ gefoltert und gestorben sind, und nicht auf der Seite der Nazis.”

Was gewußt und verschwiegen wird, bedeutet für die siebzehnjährige Lili die Scheinheiligkeit der Erwachsenen. Die Wahrheit besitzt jedoch, wenn sie verschwiegen wird, die Macht, sich in unterschiedlicher Gestalt auszudrücken und unerwartet wieder zum Vorschein zu kommen. In der Nahrungsverweigerung und indem sie ihrem Körper die zu bezeugenden Zeichen der begangenen Gewalttaten einprägte, wollte Lili ihre Solidarität mit den Opfern bekunden. Ihr Hungerstreik brachte ihre Rebellion und ihre machtlose Anklage gegen die Verbrechen zum Ausdruck, die im Namen einer Nation, einer Rasse, einer Partei, begangen wurden.

Lili denunzierte somit das Geheimnis der Familie. Diese Immanenz des Fremden im Vertrauten wird als ein Beleg für die psychoanalytische Annahme angesehen, wonach “das Unheimliche… jene Art des Schreckhaften (sei), welche auf das Altbekannte, längstvertraute zurückgeht” , was für Freud auch die Definition von Schelling bestätigte: “Unheimlich nennt man alles, was im Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.” Dies macht gerade die magersüchtige Frau so “unheimlich”.

Ebenso geheimnisvoll verschwiegen und unheimlich nehmen sich viele Inzestepisoden aus. Die intimen Gewohnheiten und die “gebilligte” Verführung durch ihre Halbbrüder bestimmten das Leben einer Frau wie Virginia Woolf seit früher Kindheit. Nicht nur Psychoanalytiker wären hier zuständig. Auch Familientheorien mit ihren Konzepten von lebenslangen unseligen Loyalitäten und Delegationen über mehrere Generationen hinweg muß man bemühen, um jenes grauenhafte Geflecht von destruktiver Sexualität zu erklären. Alle drei Schwestern (Stella, Vanessa und Virginia) wurden sexuell mißbraucht, allein Virginia aber fand den Mut, den Inzest in ihrer Autobiographie aufzudecken:

“Plötzlich ein Klopfen an der Tür, das Licht wurde ausgemacht, und George warf sich auf mein Bett, hätschelte und küßte mich und liebkoste mich auch anders, um mich, wie er später Dr. Savage erklärte, über die tödliche Krankheit meines Vaters hinwegzutrösten – der zwei oder drei Stockwerke tiefer am Krebs im Sterben lag.”

Interessanterweise haben alle drei Schwestern im Erwachsenenalter sich ihrerseits am Inzest-Spiel durch diverse Verführungen von Schwagern und Liebhabern anderer Familienmitglieder beteiligt, erzählt Louise Desalvo. Die Erinnerungen Virginias an die Zeit in dieser “ehrbaren” und berühmten viktorianischen Familie ist von großer Bedeutung, um ihre spätere Entwicklung zu verstehen:

“Tja, die alten Damen von Kensington und Belgravia kamen nie auf die Idee, daß George Duckworth eben nicht nur Vater und Mutter, Bruder und Schwester für die armen Stephen-Mädchen, sondern auch ihr Liebhaber war.”

Das gleiche Inzest-Spiel läßt sich auch bei Valérie Valère vermuten, selbst wenn sie so gut wie nichts darüber berichtet:

“Verstehen Sie, Herr Psychiater, ich habe damit nichts zu tun, er hat seine Tochter auf eine Reise mit seiner Geliebten mitgenommen. Stellen Sie sich vor! Ich habe sie gefragt, ob sie zu dritt im selben Bett geschlafen haben, aber sie will nicht antworten. Bei diesem Sexbesessenen weiß man nie. Jedenfalls hatten sie zu dritt ein Zimmer, ich habe mich in dem Hotel in Belgien erkundigt. Bestimmt ist es deswegen, daß…”

Immerhin war es aber die Mutter, die zu ihrem Mann gesagt hatte: “Nimm sie mit, das wird eine Abwechslung für sie sein.” Und Valérie wirft ihrer Mutter vor: “Außerdem wußtest du es, du hast es stillschweigend gebilligt, indem du einen Sexbesessenen geheiratet hast.”

Sexueller Mißbrauch ist eine der häufigsten Ursachen von Sucht bei Frauen. Diese Einschätzung, zunächst formuliert von feministischen Therapie- und Selbsthilfegruppen, teilen heute auch traditionellere Therapieeinrichtungen. So kommt eine Untersuchung der Therapieorganisation “Daytop” in München zu dem Schluß, daß bis zu 70% der drogensüchtigen Frauen in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden sind, meist von Bekannten und Verwandten, oft vom eigenen Vater. Die Sucht ist in diesem Zusammenhang ebenso wie in der Mager-Sucht als eine Überlebensstrategie zu verstehen, die es ermöglicht, das unerträgliche Geschehen so wenig wie möglich wahrzunehmen, weil die betroffenen Frauen mit diesem Wissen und den damit verbundenen Gefühlen psychisch nicht überlebt hätten. “Psychisch überleben” bedeutete für die beiden Schriftstellerinnen Virginia Woolf und Valérie Valère, “nicht wahnsinnig zu werden”.

Alles, was den Tod in das Leben integriert, bezeugt den Kampf, der von diesen jungen Frauen bis zur Erschöpfung geführt wird, um weiterzuleben. Sie wollen nicht im Kampf sterben, doch ist er für sie das einzige Mittel, überleben zu können. Sie flirten mit dem Tod wie ein Torero mit dem Stier in der Arena und nähern sich ihm, weil sie den Augenblick der Klarheit suchen, wobei sie nicht von der allgemeinen Ansicht ausgehen, daß in einem solchen Augenblick “alles an einem vorbeizieht”, sondern daß sie, wenn sie sich von ihrer leiblichen Hülle befreien, vielleicht die Chance bekommen, zu erfahren, wer sie wirklich sind. Diese “Idee” wird auch durch die fiktive Figur in N. Châtelets Novelle bestätigt:

“Nach sechs Jahren reines Leidens, sechs Jahren, in denen sie die Illusion einer jungen Frau ohne Probleme aufrechterhielt, nach sechs Jahren Untergrundleben, in denen sie sich vollstopfte und entleerte, war Marie-Claude endlich hinter das Geheimnis ihrer Existenz gekommen.”

Nahrungsverweigerung, Nichtachtung ihrer physischen Grenzen und Einnahme von Tabletten, dies war auch Tania Blixens “Idealvorstellung von savoir-mourir; es war eine Form der ‘Löwenjagd’, ein Aufs-Spiel-Setzen ihres ‘gänzlich wertlosen’ Lebens, die Bestätigung, daß ‘frei lebt, wer sterben kann’.”

 

Der Mythos von Orpheus, der versucht, seine Frau Eurydike der Hölle zu entreißen, um sie ans Licht zurückzubringen, versinnbildlicht am besten den Kampf der magersüchtigen Frau, die sich darum bemüht, dem Tag entgegenzugehen und zugleich der Nacht ins Antlitz zu schauen und Zugang zum Leben zu bekommen, unaufhörlich dem Tode zugewandt. “Weil sie leben will, beschleunigt sie ihr Ende”, schreibt Violette Leduc in ihrer Novelle “Die Frau mit dem kleinen Fuchs”. Die gleiche Sehnsucht nach dem Leben wird auch im Bericht von S. MacLeod verdeutlicht:

“Ich war kalt, unberührt und unberührbar und in einem Grab, wo ich nicht sein wollte. Ich wollte warm sein und in der Sonne, berührt werden von der Sonne. Doch wußte ich nicht, wie ich das anstellen sollte.”

Genau dies spiegelt die Grenzsituation zwischen Leben und Tod wieder, die durch das Grab symbolisiert wird, in dem Sheila sich befindet. In Wirklichkeit ist sie auf der Suche nach einer Welt, die für sie noch ein gewisses heimliches Leben enthält; sie “begräbt sich lebendig”, wenn das Leben aussichtslos erscheint und wenn authentische existentielle Konflikte ihr Sein gefangen halten.

Raimbault und Eliacheff haben einen anderen Mythos gewählt, um die Tragödie der Anorexie darzustellen: den Mythos der Antigone, Sophokles Heldin und Tochter der inzestuösen Liebe zwischen Ödipus und Iokaste. Statt ihren blinden und verzweifelten Vater nach dem Geständnis seines Doppelverbrechens zu verlassen (er brachte seinen Vater Laios um, und heiratate seine Leibmutter Iokaste), sorgt Antigone für ihn und begleitet ihn “barfuß und ohne Brot” bis zum Sanktuarium der Eumeniden in Kolonos, wo er in Frieden stirbt. Nach Theben zurückgekommen, hört sie nicht auf Kreons Befehle (König von Theben und Schwager des Ödipus), und erweist der Leiche ihres Bruders Polyneikes durch die ritualen Gesetze des Begräbnisses die letzte Ehre. Damit erhebt sie sich gegen die eingesetzte Ordnung, im Namen der ungeschriebenen Gesetze, die das Gedächtnis verewigen: Rebellion gegen die politische Ordnung bei Antigone, gegen die ärztliche Ordnung in der magersüchtigen Frau, gegen die familiäre Ordnung in beiden Fällen.

Indem Antigone die von Kreon verordneten Gesetze der Menschen widerlegt, stellt sie sich unter die Autorität der unveränderlichen und ewig gültigen Gesetze der Götter. Nun stellen aber die zwei Charakteristika der griechischen Götter – sie leben in einer hermetischen und inzestuösen Welt; und sie sind unsterblich – zwei wesentliche Verwirklichungen infantiler Wünsche dar. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum die Psychonalyse aus Antigone ein Symbol machte und einen bestimmten Komplex nach ihr benannte: den Antigone-Komplex. Dieser Komplex bezeichnet die Fixierung des jungen Mädchens oder der jungen Frau auf ihren Vater, ihren Bruder oder auf ihren Familienkreis, die so stark ist, daß sie ein erfülltes Leben in einer anderen Liebe ablehnt. Sehr oft wird sie selbst – wie ihre Familie – ein in sich geschlossenes System, das sich gegen jeden Einfluß von außen abschottet. Indem Antigone sich weigert, jemand anderen zu lieben als ihren Bruder – was eine Ablösung ihrer infantilen Fesseln mit sich brächte – bekommt ihr Tod Symbolwert: sie erhängt sich wie ihre Mutter in der Familiengruft, zuvor “lebendig eingemauert”.

 

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