<<< Kapitel 1: Historische Anmerkungen
Der aktuelle Begriff der Bulimie ist viel jünger als der der Anorexie: Friderada von Treuchtlingen, bulimisch im 9. Jahrhundert, ist eine Einzelfallbeschreibung, nach der ein Jahrtausend verging, bevor die Bulimie von Lasègue wieder als einheitlicher Symptomkomplex beschrieben wird, nämlich als falsche, fordernde und zwanghafte Begierden so wie sie sich bei einigen Hysterikerinnen, Opfer eines “imaginären Hungers”, beobachten ließen. Unter den unzähligen Symptomen der “Angstneurose” zitiert auch Freud die “Freßanfälle”, die häufig von Schwindelanfällen begleitet werden. Während die Bulimie zuvor mit der “Anoressia nervosa” oder der Hysterie in Zusammenhang gebracht worden war, findet sie nun, mit Freud, einen neuen Rahmen begrifflicher Bezugnahme. Karl Abraham (1925) und Therese Benedeck (1936) zählen später die Bulimie zu den “oralen Perversionen” mit zwanghaftem Charakter. Die Bulimie wird damit begrifflich in die Nähe der Drogensucht gerückt. Fenichel nennt sie daher auch “Sucht ohne Droge” (1945).
Während der 70er Jahre wird die Definition des Begriffs durch den abgöttischen Kult der Schlankheit erschwert, der die Existenz von Millionen von Frauen plötzlich verändert. Viele unter ihnen, die sich endlosen Diäten unterziehen, leiden unter schlechter Laune, Gereiztheit, Konzentrationsschwierigkeiten oder verdeckter Depression. Einige erbrechen das Essen nach jeder Mahlzeit. Um 1952, ihrer Zeit zwanzig Jahre voraus, joggte Marilyn Monroe vor dem Frühstück durch die Straßen Hollywoods. “Du sitzt allein herum”, erinnerte sie sich später, “draußen ist es Nacht (…) Du hast Hunger, und du sagst dir: ‘Es ist gut für meine Taille, wenn ich nichts esse. Es gibt nichts besseres als einen waschbrettflachen Bauch.'” Hilde Bruch berichtet im einzelnen einige Beobachtungen von eß- und brechsüchtigen Patientinnen, die sich “regelrecht den Bauch vollstopfen”. Sie sind von ihrem Gewicht und von der Nahrung besessen und legen übersteigerten Wert auf ihr Äußeres, tragen aber nach außen gern ein scheinbar aufgeschlossenes und aktives Verhalten zur Schau. Charakteristisch für den familiären Hintergrund sind Trennung, Scheidung oder das völlige Fehlen eines Elternteils oder beider Eltern während der Frühkindheit. Bulimikerinnen tendieren bei Ablehnung außerdem zu depressiven, zusammenbruchähnlichen Reaktionen und neigen gelegentlich zum Alkohol- und Tablettenmißbrauch sowie zu Selbstmordversuchen. In diesem Persönlichkeitsprofil erkennt man auch Marilyn Monroe wieder: “In mir stecken eine Menge Leute”, sagte sie in ihrem letzten Interview. “Manchmal erschrecken sie mich. Ich wünschte, ich wäre bloß ich selbst.”
Man weiß inzwischen, daß viele Mädchen, die in der Pubertät magersüchtig waren, irgendwann dazu übergehen, die Nahrung wieder zu erbrechen. Bulimikerinnen sind oft leicht untergewichtig oder finden sich selbst mit “Idealgewicht” noch zu dick. Sowohl Magersucht als auch Bulimie werden von R. Battegay daher als Hungerkrankheiten bezeichnet, denen tiefe Depressionen zugrundeliegen. Die Geschlechtsidentität von Bulimikerinnen ist aber, im Unterschied zu der von Magersüchtigen, auf den ersten Blick unauffällig. Ihr emotionaler Hunger wird nicht zur Schau getragen. Was für sie dennoch problematisch ist und sich auch in der Symptomatik äußert, ist ihr Verhältnis zu ihrem Körper. Sie akzeptieren zwar dessen weibliches Geschlecht, erleben ihn aber eher als unvollkommen und deshalb beschämend. Die Scham ist das zentrale Erlebnis in der Bulimie, und diese Scham bezieht sich nicht nur auf die Symptomatik selbst, sondern auch auf den eigenen Körper. Sie belegt, daß die Betroffenen noch keine subjektiv befriedigende psychosexuelle Geschlechtsidentität gefunden haben. Die zunehmende Bedeutung dieses Symptombildes begleitet jedenfalls als Phänomen eine Mode, die aus der weiblichen Schlankheit ein kulturelles Ideal machte. Unentwegt wird seit den sechzigern Jahren behauptet: “Wer schön sein will, muß schlank sein”. Leiden, um schön zu sein, mußten die Frauen schon immer. Das ersehnte Schönheitsideal der letzten Jahrzehnte ist die Figur der abgemagerten Mannequins und Photomodelle, “die uns mit dem leeren Blick der Unterernährten oder dem erhabenen Ausdruck überlegener Kreaturen, die über das primitive Bedürfnis des Essens erhaben sind, aus den Zeitschriften entgegenstarren”, schreiben die Autoren Arline und John Liggett. Dieses Ideal steht im Gegensatz zu dem Überfluß der Nahrungsmittel (im besonderen des Fleisches) und der schwindelerregenden Konsumsteigerung im allgemeinen. In den von Hungersnöten gepeinigten Ländern bringt eher Fettleibigkeit Prestige. Nach Joan Jacob Brumberg ist Nahrung eine Symbolsprache und ist Hunger die Stimme “junger Frauen, die nach einem Idiom suchen”, indem sie durch Essensverweigerung etwas über sich selbst aussagen können. Was von der Anorektikerin im Grunde abgelehnt wird, ist der Mangelzustand. Sie sagt: “Mir fehlt nichts, also esse ich nichts.” Die Bulimikerin hingegen lehnt die Fülle, die Überfüllung ab. Sie sagt: “Mir fehlt alles, also esse ich alles bzw. irgendwas.” Nach dem Philosophen Jean Baudrillard beschwört die Anorektikerin den Mangel durch die Leere; die Bulimikerin beschwört dagegen die Fülle durch das Übermaß. Beides sind für ihn homöopathische Endlösungen, Vernichtungslösungen. Unsere westliche Kultur wird auf eine erschreckende Weise von anorektischen und bulimischen Frauen parodiert: eine Kultur des Ekels, der Austreibung, der Anthropoämie, des Wegwerfens.
In der Anorexie sieht Joan Jacob Brumberg einen “Schrei der Verwirrung in einer Welt, die zu viele Wahlmöglichkeiten enthält.” Dies gilt auch für die Bulimie. “In vielerlei Hinsicht spiegelt der Konflikt, den die Frauen mit ihrem Körper auszutragen haben, genau ihre ambivalente Einstellung zum stereotypen Rollenbild der Frau in der Gesellschaft wider”, schreiben Arline und John Liggett: “liebevolle Ehegattin, treusorgende Mutter, helfende Muse und noch allzu oft Bürger zweiter Klasse” . Und Habermas: “Die relativ neue, scheinbar widersprüchliche Erwartung an junge Frauen, für das andere Geschlecht unabhängig zu sein – d.h. vor allem, unabhängig zu wirken -, die in der Analyse der Werbung deutlich wird, paßt zu dem Körperideal, das Schlankheit mit Attraktivität für andere und Autonomie gleichsetzt. Daß Frauen ihren Körper auf ein bestimmtes Ideal hintrimmen, ist nichts Neues. Neu ist nach der Literaturwissenschaftlerin Naomi Wolf die eindeutige Verknüpfung von schlankem und sportlichem Körper und der von ihm symbolisierten Autonomie mit dem Ideal der sexuellen Attraktivität, das das der Autonomie zu verraten droht. Bulimikerinnen orientieren sich sehr stark an dieser Idealvorstellung von einer jungen Frau und leiden darunter, diesem Ideal nicht zu entsprechen. Dieses Selbsterleben konkretisiert sich auch im Heißhungeranfall, in dem sie sich als abhängig und unkontrolliert erleben. Die Slogans, die bei Frauen immer wieder neue Anstrengungen, aber auch Resignation auslösen, ähneln den Zuschreibungen, mit denen manche Eltern ihre Kinder mißhandeln: “Streng dich gefälligst an – du schaffst es ja doch nicht”. Denn nicht nur der Körper soll anderen gefallen. Auch andere, oft gegensätzliche elterliche Ansprüche haben bulimische Frauen im Laufe ihrer Kindheit verinnerlicht.
Auch die Hysterie des 19. Jahrhunderts und die “hysterische Persönlichkeit” des 20. Jahrhunderts ist vielfach als von der damaligen Frauenrolle geprägt interpretiert und ihr Verschwinden mit dem Wandel der Frauenrolle begründet worden. Nach dem Historiker Tilman Habermas kann sie also als “Vorläufer der Bulimie in ihrer Funktion als westeuropäische ethnische Störung junger Frauen angesehen werden.” Sexuelle Themen treten aber nicht mehr so deutlich wie bei der Hysterie oder Zwangsneurose in Erscheinung. Während Hysterikerinnen ihr Leiden dramatisierten, versteckt die Bulimikerin ihre Symptomatik und ihr Leiden. Der Schönheitskult ersetzt heute die Tabuisierung der sexuellen Lust in der jüdisch-christlichen Tradition durch die Tabuisierung oraler Lust. Früher hatten die Frauen genital-keusch zu sein, heute sind sie oral-keusch für die Schönheit.
All dies geschieht, als ob die traditionelle sexuelle Schuldfrage, die scheinbar durch die Liberalisierung der Sexualität und die Emanzipation der Frau weggefegt wurde, sich verschoben und auf eine orale Schuld übertragen hätte. Nach Aimez und Ravar wird diese Verschiebung auf eine karikaturale Art bei manchen Müttern bulimischer Patientinnen beobachtet, die die sexuelle Freiheit ihrer Tochter respektieren, die aber, was das Essen angeht, ihnen das Leben zur Hölle machen. Später wird die Aggression und die Auflehnung zum Teil gegen die “böse-Mutter-Gesellschaft” übertragen (manche stehlen die Lebensmittel), zum Teil gegen sich selbst gerichtet. In diesem Sinne hat die Geschichte der Bulimie gewissermaßen erst begonnen. Die Definition der Frauenrolle ist nicht mehr klar genug, so daß die Freiheit der Wahl von vielen jungen Frauen teuer bezahlt wird. Ekel, Heißhunger, Überfressensein und Widerwillen sind der Preis dafür.
Anorexie hat es zwar schon gegeben, bevor Schlankheit zur Mode wurde, doch wurde früher die Beherrschung der physiologischen Bedürfnisse im Rahmen eines ritualen Fastens anerkannt und bewundert. Zum Ziel hatte dieses asketische Fasten in jeder Religion das Erreichen der göttlichen Einheit. Die Anorektikerin aber bezieht sich auf keine Religion. Sie “fastet” allein. Eben diese Einsamkeit hat sie dann auch mit der Bulimikerin gemein. In beiden Fällen fehlt jeder Bezug auf das Andere, auf das Göttliche. Das asketische Fasten wird von der Anorektikerin ad absurdum geführt, genauso wie auch das orgiastische Gastmahl des Bacchantenfestes von der Bulimikerin ad absurdum geführt wird. Die Bulimikerin kennt keine mystische Ekstase, keine Berauschtheit, keine Festlichkeit. Sie ist keine Bacchantin, die sich sinnlich dem Dionysoskult bis zum Wahnsinn oder bis zum Tode hingibt. Sie stopft sich heimlich den Bauch voll und findet schon allein hierin Befriedigung, in einem phantasiearmen Autoerotismus. Sie beansprucht wie die Anorektikerin in der Tat den Status einer einsamen Esserin. Ein solcher Rückzug widerspricht nicht nur grundlegenden menschlichen, sondern auch tierischen Gesetzen, da auch Tiere die Nahrung entweder teilen oder mit einem Gegner darum kämpfen, folglich in jedem Fall in Kommunikation zur Außenwelt treten. “Derjenige, der allein ißt, ist schon tot”, schreibt Jean Baudrillard in seinem Buch über Amerika. Anorexie und Bulimie erscheinen daher als die beiden extremen Formen einer ähnlichen Verzweiflung: “Verzweiflung des Nicht-Seins” nach S. MacLeod, “orale Verzweiflung” nach der Psychoanalytikerin Christiane Olivier. Auf jeden Fall hängt die Eßstörung mit der Ablehnung des Körpers, mit dem Suchen nach einer Identität und hier im besonderen einer weiblichen Identität zusammen. “Ich will keine Frau sein, weil ich es vorziehe, ich selbst zu sein, ohne die Magersucht, wäre ich niemand, ein NICHTS gewesen”, behaupten viele Betroffene. “Anorexie schien mir der einzige Weg zu sein, die Würde meines Körpers zu erhalten, die er als kindlicher Körper besaß und die er als weiblicher Körper zu verlieren drohte”, schreibt Naomi Wolf in diesem Zusammenhang. “Diese pubertäre Hungerei war, was mich betraf, eine sich hinziehende Unlust, eine Frau zu werden, da dies bedeutete, schön sein zu müssen.”
Während die Anorektikerin sich zu Tode hungert, um leben zu können, gibt aber die Bulimikerin ihrer Begierde nach. Beide sind dennoch unersättliche Hungrige. Beide sind ständig von den Gedanken an Nahrung und an das Bild ihres Körpers besessen. Sie identifizieren sich mit ihrem Körper. In der Anorexie geht es um den abgezehrten, leeren, mal als Besiegten, mal als Sieger empfundenen Körper, in Schach gehalten zwar, aber allmächtig. In der Bulimie wird hingegen die narzißtische Niederlage und die vollkommene Machtlosigkeit durch den beschämenden, vollgestopften und schlaffen Körper zum Ausdruck gebracht:
“Sechs Jahre lang habe ich durch ein wildes Nachfüllen und Ausleeren meinen jugendlichen Körper ausgefragt. Ich war ständig hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihn begehrenswert zu sehen und der Versessenheit, ihn zu verzerren”, erzählt Marie-Claude in Nicole Châtelets Novelle “Die Schöne und ihre Bestie”.
Die existentielle Frage nach der Weiblichkeit, nach dem “In-der-Welt-Sein” in einem weiblichen Körper stellt also eine der grundsätzlichen Dimensionen der Anorexie und der Bulimie dar: “Was ist es überhaupt, eine Frau zu sein?”
Die heimlichen Nahrungsorgien selbst weisen auf die eigenartige Behandlung hin, die dem Körper der Bulimikerin vorbehalten bleibt: er wird versteckt, verleugnet, beiseitegeschafft, “gefangen” gehalten. Viele bulimische Frauen erleben sich als “Moglerinnen”, und das Schamgefühl, das sie bei ihrem Versteck-Spiel empfinden, breitet sich wie ein Schatten über ihren menschlichen Beziehungen aus. Ihre Energie wird dafür verwendet, die makellose Fassade aufrechtzuerhalten. In ihrem tiefsten Inneren sind sie aber davon überzeugt, ein NICHTS zu sein, was zwangsläufig zu ständigem Überkompensieren führt (meist wird die Kleidung den Ekel vor dem Körper maskieren und überkompensieren). Hierauf fußt eine der Komponenten des Perfektionismus, der bei vielen bulimischen Frauen auffallend ist. Oft wird ein ermutigender Lebensrahmen durch die tägliche Ausübung eines Berufs (den viele erfolgreich ausüben) geschaffen; das “Berufs-Ich” wird zu einer Art völlig angepaßten “Hilfs-Ich”; wehe den Tages- und Wochenenden, wenn das beruhigende Schnurren des Hilfs-Ichs aufhört: die Ängste, die Abwesenheit der Wünsche, das Gefühl von Leere, Betrügerei und existentieller Sinnlosigkeit kommen gewaltsam zurück, und die wiederholten Eßanfälle müssen dann all diese Grübeleien ersticken.
Damit das bulimische Phänomen deutlich veranschaulicht wird, ist es wichtig, auf die Etymologie des Wortes “Bulimie” zurückzugreifen, da sie uns mit dem tierischen, unkontrollierten Aspekt des Freßanfalls konfrontiert. Das Wort “Bulimie” stammt aus dem Griechischen “boulimia” (limos = Hunger / bous = Ochs), “Ochsenhunger” wörtlich übersetzt. Dieser Ausdruck ist unerwartet passend, schließt er doch das stille Widerkäuen, die Leere der Zähmung und einen furchterregenden, ungestillten Hunger in sich. Es ist, als ob es in der Bulimie einen Tauschwert zwischen der aufgezehrten, gleich erbrochenen Nahrung und einer riesigen Menge Liebe, mit der die Betroffenen nicht umgehen können, gäbe, schreibt C. Balasc. Es kommt noch hinzu, daß der Ochse ein Tier ist, das bei den Griechen oft den Göttern geopfert wurde. Ist es dann so erstaunlich, daß Bulimikerinnen vielfach unter den Krankenschwestern, Krankengymnastinnen, Altenpflegerinnen, Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen zu finden sind? Es ist auffällig, daß viele von ihnen in helfenden Berufen tätig sind. Nun können diese sogenannten “oralen” Berufe, die viel Selbstaufgabe mit sich bringen, ungemein frustrierend für junge Frauen werden, die schon zu Hause überfordert werden durch einen Haushalt, den sie meist allein führen, und eine Familie, deren Sorgen und Probleme sie auf sich laden. Anstatt ihr Leiden auszusprechen, schweigen sie und fressen ihre Enttäuschung und Wut in sich hinein.
Die Franzosen Pierre Aimez und Judith Ravar, die seit Jahren in Paris das Leiden bulimischer Frauen untersuchen, haben ebenfalls festgestellt, daß viele von ihnen sich unter den Schauspielerinnen oder den Mannequins wiederfinden. Die Suche nach einer Identität führt manche Jugendliche in den Theaterberuf, der ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Rollen zu vervielfältigen. Die Wichtigkeit des Scheins und der Druck des Berufsmilieus auf die äußere Erscheinung lassen manche Schauspielerinnen oder Mannequins in den Teufelskreis der Bulimie geraten. Noch beunruhigender ist der impulsive Mißbrauch von Tabletten, Alkohol und Drogen, um alles zu vergessen, oder der unwiderstehliche Drang, irgendetwas zu stehlen (vor allem in den Kaufhäusern, aber auch aus der Handtasche der Mutter). Für viele Bulimikerinnen zählen nur Menschen, von denen sie etwas bekommen können: Geld, Nahrung, Worte, Zuneigung, Verfügbarkeit – all das erweckt ihre Begierde und ihr Begehren. Das bulimische Subjekt funktioniert also in einer Logik des Notwendigen und des Bedürfnisses, sich in einem Zustand des Bedürfnisses zu befinden: natürliches Bedürfnis im Fall der Anorexie, das durch die Weigerung seiner Befriedigung aufrechterhalten wird; oder erschaffenes, künstliches Bedürfnis im Fall der Bulimie (die Nahrung wird nicht gekostet und der Verzehr riesiger Nahrungsmengen anästhesiert den Geschmack). Gesucht wird der Zustand des Mangels, und was fehlt, ist gerade dieses toxische Objekt (Nahrungs-Objekt, Alkohol-Objekt, Drogen-Objekt, usw.). Es muß fehlen bzw. abwesend sein, damit dieser unbeschreibliche Mangel notwendigerweise als “Loch” genannt wird: ein Loch, das nur durch ein Objekt gestopft, abgedichtet werden kann. Und nur dieses Objekt kann Lust erzeugen. Außer dem toxischen Objekt gibt es NICHTS; der Andere wird in seinem Dasein verleugnet, indem er als Begehrender und Lustgebender gemieden wird. Das bulimische Subjekt identifiziert sich nicht mit einem anderen Menschen aus Fleisch, sondern mit einem Wesen des Windes, schreibt C. Balasc. Es identifiziert sich mit idealisierten Projektionen von sich selbst. Nicht anders ist es bei der Anorektikerin, wenn man von Valérie Valères Romanfigur “Malika” ausgeht:
“Bei ihr gibt es nicht diesen schrecklichen Unterschied zwischen Hüften und Taille. Alles ist ganz gerade, nicht wie bei den anderen Frauen, die sich den Bauch einschnüren, damit das, was sie für eine besondere Zierde halten, noch deutlicher hervortritt … Und dann ist Malikas Oberkörper auch ganz flach, nichts bewegt sich. Ein Busen ist zwar auch schön, aber ein flacher Oberkörper … Natürlich kommen Sie mir jetzt wieder mit Ihren verdrängten homosexuellen Neigungen … Nur ist Malika eben ein Mädchen.”
Hier offenbart die Anorexie ihre Verführungs- und Faszinierungskraft dadurch, daß sie in der Phantasie als das von jeder Geschlechtlichkeit befreite Wesen erscheint: Malika ist “ein Mädchen”, ein geschlechtloses Neutrum, das unbewußt eine virtuelle Bisexualität aufrechterhält. “Das Frauensein lehnte ich nicht deshalb ab, weil ich es vorgezogen hätte, ein Mann zu sein, sondern weil ich lieber ein Mädchen sein wollte”, schreibt auch die Betroffene Sheila MacLeod in diesem Zusammenhang.
Die endgültige Geschlechtlichkeit, die die Pubertät mit sich bringt, ist immer eine Beendigung; sie gefährdet das “androgyne Ideal”, das während der Latenzperiode aufrechterhalten wird. In der Anorexie entspricht die Angst des Mädchens, auf den Höhepunkt von Spannung und Bedeutung gesteigert, einem Schwindel am Rande der nicht zu akzeptierenden sexuellen Wirklichkeit. Die Sexualität erleichtert sich in einer Beschwörung. Die rein geistige Erscheinung der anorektischen Frau wird auf diese Weise zu einem Bestandteil von phantastischen Realisierungsmodi, von der träumerischen Befreiung im Hinblick auf ihre Stellung als Frau. Sie versucht, die sich ausschließenden Reize der männlichen und der weiblichen Welt zu vereinigen, und es gelingt ihr sogar – auf dem Gebiet des Scheins und auf Kosten ihrer Gesundheit – das aus der Eingeengtheit jedes begrenzten Wesens entstandene Frustrationsgefühl zu lindern, besessen von jenem Gesetz, das sie dazu zwingt, nichts anderes zu sein als das, was sie ist: ein Wesen des Bedürfnisses.
Die englische Schriftstellerin Virginia Woolf hat infolgedessen versucht, durch ihre Schriften das Männliche und das Weibliche zu transzendieren. Sie glaubte, daß alle großen Autoren androgyne Denker sind, da gerade die Poesie ein Streben der Wörter nach der verlorenen Androgynie bedeutet, nach dem Bild einer Welt, die selbst geteilt wurde und seitdem an einer mächtigen innewohnenden Sehnsucht leidet. Die anorektische Frau kann daher in ihrem Wunsch nach Einheit als Symbol eines unberührbaren Wesens angesehen werden. Ihre Taille ist von einem Keuschheitsgürtel gefangen, den sie festschnürt, um zu verbergen, daß NICHTS zu sehen ist, NICHTS zu nehmen ist: ein Bild läßt sich nicht berühren (in allen Schattierungen des Wortsinns). Das Schweigen, in dem sie sich eingeschlossen hat, ist alles, was ihr vom Leben übrigbleibt. Der stigmatisierte Körper, die Leere des skelettartigen, abgetöten Körpers, bringt zum Ausdruck, wie diese bildhafte Darstellung des androgynen Menschen Form annimmt und dem unheimlichen Grauen nahekommt, wenn keine symbolische Wunscherfüllung stattfindet.