1.2 Die Isolation

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“Das Haus der verrückten Kinder” (1978) wurde von einem 15-jährigen Mädchen beschrieben. Zwei Jahre zuvor war sie wegen Pubertätsmagersucht in einer Zelle eines großen Pariser Krankenhauses eingesperrt und von der Außenwelt isoliert worden. Der Bericht der jungen Schriftstellerin überrascht damit, daß die Anordnungen der Ärzte des 20. Jahrhunderts fast identisch sind mit denen der Psychiater des 19. Jahrhunderts. Heutzutage werden in Frankreich nur noch Anorektikerinnen der Isolation unterworfen, da kein Psychiater in Paris sich noch trauen würde, Hysterikerinnen oder andere Neurotiker abzusondern. Der von Valéries Mutter konsultierte Psychiater, in den 70er Jahren “in Mode”, stellt auf eine verblüffende Weise den Sinn von Charcots Maßnahmen wieder her:

“Angesichts der zögernden Haltung meiner Mutter verfügte der Professor, daß es auf jeden Fall keine andere Wahl gäbe, daß, falls ich am nächsten Tag nicht von selbst in die Klinik ginge, man mich abholen würde, daß meine Mutter sich eines Mordes schuldig mache, falls sie mich mir selbst überließe” , schreibt die Betroffene.

Die zu Charcots Zeiten im wechselnden Gebrauch von Bedrohung und Verführung erfahrenen Nonnen sind nun durch moderne Krankenschwester ersetzt, die jedoch nach wie vor mit den Patientinnen das gleiche “Spiel” treiben, bei dem das Ziel das gleiche bleibt: zunächst die Gewichtszunahme, und dann, als Belohnung dafür, der Besuch der Eltern. Dies wird auch von Valérie bestätigt:

“Jede Woche einmal kam meine Mutter in die Klinik. Sie ging einige Meter von mir entfernt, hinter der Mauer, an mir vorbei, lieferte Sachen und Bücher für mich ab und ging mit den einunddreißig Kilo in ihrer Tasche wieder weg. Um jedem Versuch zuvorzukommen – der in meinem Fall überhaupt nicht eintreten konnte -, trat plötzlich eine Krankenschwester in mein Zimmer und erzählte mir von den herrlichen Ferien, die sie verbracht hatte, und so lief keine von uns Gefahr, der anderen zu begegnen. Über ihre Vorsichtsmaßnahmen konnte man nur lachen: Sie war wirklich die letzte, die ich sehen wollte, sie, die sagte: ‘Ich werde nicht nachgeben’:

Sie, die sagte: ‘Willst du mich krank machen?’

Sie, die sagte: ‘Du siehst wohl ein, daß du nicht hier bleiben kannst’.

Und sie soll die Belohnung für meine vier Kilo sein! Stellen Sie sich das vor!”

Valérie Valère ist kein Einzelfall. Viele andere bekannte Künstlerinnen und Schriftstellerinnen sind an ihrem Hang zum einsamen Kampf gescheitert. Frauen wie Virginia Woolf oder Tania Blixen waren durch ihre Erziehung vom Leben abgeschirmt und in der Furcht und Scham vor den eigenen Trieben erzogen worden. Beide schwärmten für Tiere, Hunde im besonderen, und fühlten sich “zur Wildnis in allen ihren Formen hingezogen, waren aber im Bannkreis des heimischen Feuerscheins gefangen.” Wie die ersten von Freud rekrutierten Hysterikerinnen hatten sie große Schwierigkeiten, sich von ihren gesellschaftlichen Privilegien zu befreien. “Dazu mußten sie nicht nur ‘widernatürlich’, sondern auch ‘undankbar’ handeln und der Vorwurf der Undankbarkeit ist die beklemmendste aller psychischen Zwangsjacken.” Schließlich verweigerten sie das Essen.

Viele magersüchtige Frauen von heute empfinden es ähnlich und erzählen, daß es für sie kaum möglich ist, der Familie zuwiderzuhandeln und sich über ihre “Aufopferung” hinwegzusetzen. Oft stehen hohe Leistungsanforderungen in Schule und Ausbildung gegen die gleichzeitige Erwartung, später Hausfrau und Mutter zu werden. Die neuen Töchter wollen daher beides erfüllen, und nach außen schaffen sie es sogar. Beruflich erfolgreich, ein oder zwei Kinder und kein Gramm Fett zuviel: dies die typische makellose Fassade, bevor sie zusammenbricht. Viele dieser Frauen fühlen sich elend, wenn sie “dick” sind, und leiden wie damals Virginia Woolf oder Tania Blixen unter Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen, “ständig auf der Kippe zwischen … Groll und … Freude”. Sie sind von ihrem Gewicht und der Nahrung besessen, sind über-perfektionistisch und depressiv, in ihrem Verhalten aber eigensinnig. Selbstmord in irgendeiner Form verfolgt sie, allerdings eher als Gedankenspiel denn als praktische Lösung.

Das Porträt dieser Frauen ähnelt ziemlich genau dem Porträt, das auch von Virginia Woolf und Tania Blixen gezeichnet werden kann, nur fehlt bei beiden noch die Bezeichnung “Magersucht”. Judith Thurman berichtet in ihrer ausführlichen Biographie über Tania Blixen: “Tanne war in fürchterlichen Stimmung, sie litt unter einer ‘wahrlich grauenhaften Melancholie, der Art Gemütsverfassung, in welcher man am liebsten sterben würde und gleichzeitig alle anderen umbringen könnte'” , aber so sehr sie auch “Tod und Selbstmord verklärte, so besaß sie doch (…) einen außerordentlichen und fast schon heroisch zu nennenden Überlebenswillen.” Diesen verzweifelten Überlebenswillen werden wir in jeder Lebensgeschichte zeitgenössischer magersüchtiger Autorinnen wiederfinden: bei den Französinnen Simone Weil (1909-1944), Violette Leduc (1907-1972), Valérie Valère (1961-1983), Marie-Victoire Rouiller (1942-1987) und bei der Amerikanerin Maryse Holder (1941-1977). All diese Beispiele verdeutlichen die zwei Suchtformen der Magersucht: einerseits die Magersucht im engeren Sinne (Anorexia nervosa) und die Eß-Brechsucht (Bulimia nervosa) andererseits, die zum Teil fließend ineinander übergehen.

 

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