1.1 Das Auftreten der Magersucht

<<< Kapitel 1: Historische Anmerkungen

Das Fasten finden wir in allen Religionen. Es bezweckt nicht, schlank oder gesund zu werden. Beabsichtigt wird das Heraustreten aus der Verkörperung. Dabei spielt der Verzicht auf feste Nahrung eine wichtige symbolische Rolle. Das Vermeiden bestimmter Speisen oder der zeitweise völlige Verzicht auf jede Nahrung kann unterschiedliche Ursachen und Motive haben. Die fleischlose Zeit ist im Christentum das Heraustreten aus der engen Kammer des Körpers und der symbolische Verzicht auf erdiges Besitzen-Wollen. Im Fasten geschieht der Wandel von Haben zu Sein. Es ist dem Menschen vorbehalten, Tiere können nicht fasten. Allein der Mensch kann bewußt entscheiden, freiwillig eine Zeitlang ohne Nahrung zu leben, um so zu geistiger Nahrung zu gelangen. Auf diese Weise glaubt er zu erfahren, daß es das “andere” Leben außerhalb des Kerkers gibt und daß seine Gefängnismauern für kurze Zeit durchlässiger geworden sind.

Sinn und Funktion des Fastens bestehen nach Döbler ursprünglich in der Vertreibung von Geistern, wie es in den Ordensregeln des Heiligen Basilius (ca. 330-379) geschildert wird, oder es dient, wie in den Ordensregeln des Heiligen Augustinus (388/89) als Mittel, “den eigenen Körper und seine Begierden zu beherrschen.”

Das Fleisch wird oft in der Versuchung des Heiligen Antonius dargestellt: es erscheint als eine teuflische Erscheinung, die den Körper des Menschen bewohnt (avoir le diable au corps, “den Teufel im Körper haben”, heißt es in der französischen Umgangssprache). Das Fleisch ist aber nicht nur unfähig, sich den geistigen Werten zu öffnen, sondern es ist auch der Sünde geneigt. Daher die Wichtigkeit, die das Christentum der Jungfräulichkeit beigemessen hat…

Seit den ersten christlichen Jahrhunderten hat die Jungfräulichkeit den höchsten Rang erworben, unmittelbar nach dem Martyrium und sogar als dessen Stellvertreterin. Unter diesem Gesichtspunkt können wir daher die Heiligkeit der Jungfrauen als unablässiges Opfer interpretieren, durch das die ewige Unschuld an die Stelle der Ursünde des Menschen tritt. Sowohl die Anorexie als auch die Askese der Heiligen zeigt, daß die christliche Idee der Erlösung durch das Leid eine wichtige Rolle spielt. Das Leitthema vieler Heiligen war die Identifizierung mit dem Leidensweg Christi, schreibt T. Habermas . Das Leitthema vieler magersüchtigen Frauen ist die Identifizierung mit dem “geopferten Kind”. Die Heiligen aßen auf einer geistigen Ebene. Die Religion war ihre Nahrung. Sie verleibten sich den heiligen Geist ein, erhoben den Tagesablauf zum Ritual. Mit solch innerer Haltung fühlten sie sich während des Fastens wach und inspiriert, auf jeden Fall nicht krank, und diese Haltung finden wir bei magersüchtigen Frauen wieder. Erstrebt wird von beiden eine Läuterung des Geistes. Beide versprechen sich vom Fasten eine Auferstehung bzw. eine Erlösung. Doch versprechen sich magersüchtige Frauen keinen Zugang zur Heiligkeit, sondern eher eine “Auferstehung des Fleisches”, die bekundet, daß der vollkommene Mensch wiederaufleben muß. “Ich werde aus ihrem Fleisch das Herz aus Stein entfernen und euch ein Herz aus Fleisch dafür geben”, versprach das Christentum den Gläubigen durch den Mund Ezechiels. Gerade dies wird von den magersüchtigen Frauen beansprucht: die Vollkommenheit des Menschen (“das zu Fleisch gewordenene Wort”), die Christus verkörpert hat. Sie leben deshalb ganz und gar nicht fleischlos, sondern sind trotz ihrer ätherischen Erscheinung sehr ‘eingefleischt’. Wer sich beim Zurückhalten der Nahrung unablässig Gedanken um Essen oder Körper macht, ihn täglich wiegt und mißt, fastet nicht, er hungert bloß. Er unterscheidet nicht mehr, was körperliche und geistige Begierde und was Sättigung ist. Jenseits der jeweils als pathologisch, mystisch oder selbstopfernd beurteilten Verhaltensweisen, sei es für eine Partei, das Wohl eines Volkes oder für Gott, drängt sich dennoch der Vergleich einer magersüchtigen Frau wie Simone Weil mit der Heiligen Thérèse de Lisieux auf, wenn wir uns auf die Hypothesen der beiden französischen Autorinnen G. Raimbault und C. Eliacheff beziehen, die im Kampf der jungen magersüchtigen Frauen gegen den Appetit ein Ringen um Selbstwerdung sehen, eine Bitte um die Anerkennung ihres Begehrens, ihres Hungers nach etwas anderem, und die Inschrift in der lebensnotwendigen symbolischen Ordnung, damit das Tierische vom Menschlichen unterschieden werde.

In allen Religionen ist das Fasten der Weg, der zur Reinigung, zur Buße und zum Verzicht auf die irdischen Gelüste zugunsten des Himmlischen führt und damit zum geistlichen Leben, zur moralischen Kraft, zum Wunsch, Gott zu gefallen und an seiner Allmächtigkeit teilzunehmen. Die Frage zu stellen, ob solche heilige Figuren a posteriori die Bezeichnung von “Anoressia nervosa” verdienen, ist vermutlich sinnlos, da eine Entwicklung der Begriffe stattgefunden hat. Eine Übereinstimmung mit den gerade geschilderten Mechanismen wird man aber in dem von Tilman Habermas untersuchten Fall sehen dürfen, der Magersucht mit Heißhungeranfällen und selbstinduziertem Erbrechen schildert. Diese erste dokumentierte Beschreibung in Deutschland geht auf das Bayern des 9. Jahrhunderts zurück. Eine junge Bäuerin, Friderada von Treuchtlingen, bekommt heftige Freßanfälle, derer sie sich schämt. Als sie später in einem Kloster aufgenommen wird, unterwirft sie sich langen Fastenzeiten. Sechs Wochen lang wird sie sorgfältig – auf Anordnung des Bischofs – kontrolliert, um sicher zu sein, daß es sich nicht um einen Betrug handelt, doch es wird festgestellt, daß sie tatsächlich keine Nahrung zu sich nimmt. Drei Jahre später wird das Wunder ausgerufen, da sie immer noch nichts gegessen hat. Heute würde die Medizin Friderada als magersüchtig abstempeln und eine heimliche, auf das Minimum reduzierte Nahrungsaufnahme postulieren.

Mit circa sieben Jahren faßte Katherina von Siena (1347-1380) -wie viele Mädchen ihrer Zeit- den Entschluß, ihre Jungfräulichkeit der Madonna zu schenken, und sie hörte auf, Fleisch zu essen. Sie gab es während der Mahlzeiten entweder dem Bruder oder warf es Stück für Stück der Katze zu, ohne daß jemand aus der Familie es jemals bemerkte. Mit fünfzehn Jahren hörte sie endgültig auf, normal zu essen. Sie ernährte sich nur noch von Brot und Kräutern und trank nur Wasser.

“In der Zeit, wo ich die Ehre hatte, Zeuge ihres Lebens zu sein, lebte Katherina ohne jede Hilfe von Nahrung und Getränken”, schreibt ihr Beichtvater. “Sie entzog sich dem Schlaf und schlug sich mit einer Eisenkette. Askese, Entbehrungen und flagellantische Selbstkasteiung führten schließlich zu ihrem Tode im Alter von dreiundreißig Jahren.”

In diesem Alter (dem Alter Christus’) hatte sie ihrem Beichtvater von einer Vision erzählt, in der Jesus ihr erschienen war, um ihr seine Wunde zu zeigen, “auf die gleiche Art und Weise wie eine Mutter ihre Brust dem Säugling reicht”. Weil sie in Tränen ausgebrochen war, hatte er sie ans Herz gedrückt und ihre Lippen gegen die heilige Verletzung gepreßt. Für Katherina stand das Blut Christi in seiner Symbolik stellvertretend für die Muttermilch. Indem sie ihrem Körper Nahrung und Sexualität entzog, versuchte sie wie auch die magersüchtige Frau, einen Raum für sich zu finden, der sie befriedigte: “ein Krümchen weniger und dafür ein bißchen mehr Begehren.” “Begehren”, glaubte die dänische Schriftstellerin Tania Blixen, die am Anfang unseres Jahrhunderts die “dünnste Person der Welt” sein wollte, “vereint alle Menschen, und die Leugnung des Begehrens trennt sie von der ‘wahren Menschlichkeit’.”

Der amerikanische Historiker Rudolph M. Bell untersuchte die sozialen Bedingungen der heiligen Anorexia in der Toskana des 14. Jahrhunderts. Auf der individuellen Ebene handelt es sich immer um eine junge Frau, die eine eigenartige Geschichte hat und kämpft, um auszudrücken, was sie unter einem menschlichen Leben versteht, und dies mit den gleichen sozialen weiblichen Werten, die gerade vorherrschen: Geistlichkeit und Fasten im mittelalterlichen Christentum; Schlankheit, Kult eines gesunden Körpers und Beherrschung seiner Äußerungen im 20. Jahrhundert. In beiden Fällen geht es um Anerkennung und Gleichberechtigung, und auf der familiären Ebene kann man die Gemeinsamkeiten kaum übersehen. Im Fall von Katherina von Siena ist ein Gebet an Gott häufig eine Art Handel, eine Suche, die sich kaum von den Szenen unterscheidet, die sie ihrer Mutter machte, und die sehr den Szenen ähneln, die das magersüchtige Mädchen den Ärzten oder ihrer Familie macht. Katherina erwartete von Gott Liebesbeweise und die richtige Antwort auf die Frage ihres Seins. Das magersüchtige Mädchen sagt ihrer Mutter indirekt: “Ich verweigere die Nahrung, die mich als Wesen zerstört, da du mir das Sein verweigerst”.

Alle Symptome der strengen “Anorexia nervosa” sind bei Katherina von Siena vertreten. Solange sie noch lebte, wurde ihre Heiligkeit dennoch in Frage gestellt. Ihre merkwürdige Eßgewohnheiten gerieten in den Verdacht, vom Teufel angeregt zu sein. Von der Kirche wurde sie lange als Hexe oder Simulantin angesehen. Für eine junge Frau des 14. Jahrhunderts war es schwierig, die Kleriker davon zu überzeugen, daß sie von Gott auserwählt worden sei. Für eine junge Frau des 20. Jahrhunderts ist es kaum weniger schwierig, die Ärzte davon zu überzeugen, daß die Essensverweigerung die für sie einzige mögliche Lebensweise ist. Die Strategie bleibt aber in beiden Fällen die gleiche, schreiben G. Raimbault et C. Eliacheff: Die Unterordnung wird simuliert, eine scheinbare Zusammenarbeit eingehalten, die Eßzufuhr aber weiterhin aufs Minimum reduziert. Dennoch unterscheidet sich das asketische Fasten grundsätzlich vom anorektischen Fasten durch die Bezugnahme auf Gott, die in der Anorexie gemeinhin völlig fehlt. Die magersüchtige Frau führt keinen Dialog mit Gott. Sie versucht hingegen einen Zustand zu erreichen, in dem sie sich selbst genügt, in dem sie niemanden braucht. Sie will ihr eigener Gott sein. Wenn man davon ausgeht, daß das Wort “Religion” aus dem lateinischen “religare” (verbinden) stammt, so ist die Phantasie der Autarkie, die Verneinung jeder Bindung nicht nur un-religiös, sie ist geradezu teuflisch. Die teuflische Seite der Magersucht, die jedem Diskurs entgeht (das WORT – die Sprache – ist angeblich in Gott), ist besonders geprägt, wenn sie im Zusammenhang mit der Wiederholung der Freßanfälle und Erbrechen der Nahrung steht: jede Bindung wird verneint.

Es wird heute behauptet, daß wir unter psychosomatischen Störungen leiden, wenn wir keine Wörter besitzen, die unser Leid artikulieren können. Früher lieferten Ekstase, Stigmatisation sowie der Tastsinn der Mystikerin die weite Skala einer eigenen Sprache, schreibt Michel de Certeau. Aus den Wahrnehmungen, die sie durchdrangen, formten sie ein Mittel, das Unsagbare auszudrücken. Diese Wahrnehmungen waren direkt mit dem Körper verbunden; im Mittelalter hatten sie einen außerordentlichen Charakter, im 20. Jahrhundert aber haben sie keinen Platz und sind abnorm. Katherina von Siena lebte in einer Zeit, in der die “Mystikerin” als sprachliche Kategorie gar nicht existierte, ihr späterer Status als Heilige gehorcht also historischen Bestimmungen. Nach Michel de Certeau fängt man erst im 17. Jahrhundert an, von “Mystikerinnen” (mit Agnes von Jesus im 17. Jahrhundert, Louise Lateau im 19. Jahrhundert, Thérèse Neumann und Marthe Robin im 20. Jahrhundert) zu sprechen. “Mystisch” heißt etymologisch “heimlich”, “verborgen gehalten”. Daher scheint es also zunächst paradox, sichtbare und sogar auffällige Stigmatisierungen und Leidensäußerungen wie Lähmungen, Schmerzen, Schwindel- und Krampfanfälle als “mystisch” zu bezeichnen, da sie angeblich auf etwas hinweisen, das “heimlich”, “unsichtbar” bleibt. Die Mystikerin darf nicht auf diese zwei Aspekte beschränkt werden, aber sie ist zweifellos in einem Raum zwischen dem Wesentlichen und dem “Unsagbaren” anzusiedeln. Die wahrnehmbare Erfahrung drängt sich der Mystikerin in Form einer Wahrheit auf, die keine andere Rechtfertigung hat als die Anerkennung durch die Institutionen.

Auch die Anorektikerin sagt von ihrer magersüchtigen Erfahrung, daß sie meist ganz bewußt mit einer Diät anfing. Schnell drängen sich ihr aber Entbehrungen auf, denen sie nicht widerstehen kann. Für die Anorektikerin haben die sichtbarsten Symptome keine Wichtigkeit und werden sogar offen verleugnet. Das Wesentliche ist anderswo und ist unsagbar. Der Körper ist das Feld eines namenlosen Leidens, kein Wort existiert, um das Unsagbare auszudrücken. Wie die Mystikerin weicht auch die Anorektikerin von der Norm ab und abstrahiert von ihrem biologischen Wissen um den Körper. Ein Mädchen oder eine Frau mit einem typischen magersüchtigen Verhalten wird daher als eine Kranke, eine Mystikerin, eine Hexe oder eine Hysterikerin angesehen, je nach der Zeit oder den kulturellen Zusammenhängen, in denen sie lebt. “Im Mittelalter hätte man mich der Hexerei beschuldigt und auf einem Scheiterhaufen verbrannt”, schreibt die junge Valérie Valère in ihrem Bericht über “Das Haus der verrückten Kinder”. “Was für ein Glück, ich hätte gehabt, was ich suche, und hätte nur kurze Zeit gelitten, verglichen mit dem, was mich erwartet” , ist aber ihre Schlußfolgerung.

Das mystische Fasten unterscheidet sich dennoch vom anorektischen Fasten grundsätzlich durch den Bezug auf das Andere – Gott -, der bei den Anorektikerinnen fehlt. Die ersten Beschreibungen von jungen Frauen, die das Essen verweigern, ohne eine mystische Krise durchzumachen, stammen erst aus dem 17. Jahrhundert. Im Jahre 1686 wendet sich eine zwanzigjährige junge Engländerin, Miss Duke, wegen Appetitlosigkeit und Verdauungsstörungen an den Arzt Richard Morton. Seit zwei Jahren waren ihre Monatsblutungen ausgeblieben. Als sie Morton rufen ließ, konnte sich dieser nicht daran erinnern, jemals im Laufe seiner medizinischen Laufbahn ein noch im Leben derart abgezehrtes Wesen gesehen zu haben. Er glaubte, daß der Zustand der Patientin durch große Sorgen, Überlastung und eine zu starke Familienautorität bedingt war. Dennoch hörte Miss Duke nicht auf, Tag und Nacht zu studieren, und starb drei Monate später nach einem Ohnmachtsanfall. Dank der bemerkenswert genauen Angaben über die von Morton beschriebene “nervöse Schwindsucht”, die seiner Meinung nach mit den Leidenschaften des Geistes, einem unzeitgemäß eifrigen Studium und einem Übermaß an elterlicher Abhängigkeit verbunden war, ist die Anorexia nervosa drei Jahrhunderte danach deutlich zu erkennen. Morton hat auch als erster die Schwindsucht von der Chlorose, im deutschen als Bleichsucht bezeichnet (Anämie durch Eisenmangel), und von der Appetitlosigkeit des Melancholikers und des Hypochonders unterschieden.

Doch erst zwei Jahrhunderte später beginnt die medizinische Geschichte der Anorexie. Das Krankheitsbild wurde mit den fast gleichzeitig durchgeführten Arbeiten des Engländers Gull (1868-1874) und des Franzosen Lasègue (1873) als “anorexia nervosa” und “hysterische Anorexia” bezeichnet. Die beiden Mediziner waren der Meinung, unabhängig voneinander, daß die Krankheit auf psychopathologische Faktoren zurückzuführen sei. Lasègue hat sich im besonderen für die Interaktionen zwischen der Patientin und ihrer Familie interessiert. Dieser Ansatz, in dem die Betroffene als Teil eines “engverwobenen Ganzen” angesehen wird, wurde vor erst gar nicht langer Zeit von den Familientherapeuten wieder aufgegriffen.

Dennoch war die Magersucht damals nicht immer einfach zu diagnostizieren und gab Anlaß zur Verwechslung mit anderen Krankheitsbildern wie der Chlorose oder der Melancholie. Nach Thomä fanden Verwechslungen mit Schizophrenie und Depression statt.

Magersucht kann auch gleichzeitig mit einer anderen Krankheit wie zum Beispiel der Tuberkulose auftreten. Starker Gewichtsverlust ist beiden Erkrankungen gemeinsam, doch Huebschmann weist auf eine weitere Parallele hin, wenn er sagt, die Magersucht könne als Zeichen einer fundamentalen Störung des Kommunikationsverhaltens und im Initialstadium auch des Sozialverhaltens gedeutet werden. Franz Kafka starb zwar an Tuberkulose, schilderte aber in seiner Erzählung “Der Hungerkünstler” in brillanter Knappheit “das Wesen, die Tragik und die Sehnsucht der Magersüchtigen.”

Man kann sich natürlich fragen, welche Konsequenzen die Identifizierung der Anorexia nervosa hatte. 1873 wurden Neurosen (und die Hysterie im besonderen) definiert. Der Psychiater Charcot, der als einer der Urväter der modernen Psychiatrie gilt, vertrat zum Beispiel die Ansicht, daß man die Patientinnen isolieren müßte. Im 19. Jahrhundert beruft sich der Psychiater auf drei Instanzen, die seine Funktion definieren: die Ordnung, die Autorität und die Bestrafung. Seine Funktion hat also nichts mit Behandlung zu tun, sondern mit der Ausstellung von Bescheinigungen über gesetzmäßige Isolierungen. Seine Vollmacht innerhalb der Anstalt unterscheidet ihn von anderen Ärzten. Als verbeamteter Mediziner besitzt er – genau wie Polizei und Justiz – die Macht, jemanden einzuweisen oder frei zu lassen. Außerdem hat er die Pflicht, die Geisteskranken zu beobachten und ihre Symptome zu klassifizieren. Die Tatsache, daß die Anorektikerin ihre Eltern erst wiedersehen darf, wenn sie an Gewicht zugenommen hat, ist charakteristisch für das Prinzip der Bestrafung nach Charcot. Wer die Autorität besitzt, kann von dieser Funktion nach freiem Belieben Gebrauch machen.

Das ist auch heute nicht viel anders. In einigen Kurkliniken werden magersüchtige Patientinnen so lange in kahlen Zimmern eingesperrt, bis sie so erniedrigt sind, daß sie “freiwillig” das Essen zu sich nehmen. Eß- und brechsüchtige Frauen werden möglichst rund um die Uhr – und auf der Toilette durch verglaste Türen – überwacht, um Rückfälle zu verhindern. Bei derlei Methoden nimmt es nicht Wunder, daß die Frauen zwar nach relativ kurzer Zeit als scheinbar geheilt entlassen werden können, zu Hause jedoch schnell zu den ursprünglichen Verhaltensmustern zurückfinden. Wie gewalttätig Isolierungsmaßnahmen sein können, darüber schrieb die talentierte junge Valérie Valère. Ihr Bericht über “Das Haus der verrückten Kinder” wurde in Frankreich zum Bestseller und sensibiliserte schließlich die Öffentlichkeit für das Problem der Isolation bei der Magersucht.

 

<<< Kapitel 1: Historische Anmerkungen