Gabriele Dias – Prolog

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Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 198_ in Campomoro abgespielt. Man wird allgemein der Ansicht sein, dass es nicht notwendig sei, sie ausführlich zu schildern. Den meisten von uns ist Campomoro durch die Schlagzeilen bekannt, die die Stadt tagelang auf die Titelseiten der Zeitungen brachte, in Europa und in Übersee. Dem Erzähler wird man vorwerfen, er suche ohne nennenswerte eigene Leistung das Interesse der Leser auf sich zu ziehen, indem er in einem Buch verarbeite, was bereits an anderer Stelle zu lesen stand. Er sieht sich daher gehalten, schon zu diesem Zeitpunkt einen Teil seiner Identität aufzudecken und sich als den Absender des nun legendären schwarzen Koffers zu erkennen zu geben. Erst durch den darin enthaltenen Bericht gelangte ein Skandal in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, der allgemein als der « Campomoraner Klinik-Mord » bekannt ist.

 

Touristen, die das westliche Mittelmeer bereisen, kennen Campomoro als Anlegehafen der großen Fähren, die am Morgen nach einer zwölfstündigen Überfahrt ihre Leinen unmittelbar gegenüber dem Stadtzentrum festmachen. Der Ausblick von Deck ist beeindruckend. Über der belebten Hafenpromenade mit ihren Arkadengängen und über der verschachtelten Dächerlandschaft des Hafenviertels liegt die hohe Altstadt wie ein riesiges gestrandetes Schiff. Im Volksmund wird sie « das Schloss »  genannt, eine Bezeichnung, in deren ehrfurchtsvollem Unterton die Erinnerungen an die Herrscher fortleben, die in vergangenen Jahrhunderten über das Meer kamen und dort oben Quartier bezogen.  Auch heute noch steht das Schloss symbolhaft für die Standgerichte, die über Leben und Tod entscheiden. Eine alte Redewendung des Hafenviertels besagt, dass alles Gute nur von unten kommt. Seine Bewohner blicken ungern gen Himmel. Die weiß-gelbe Fassade des Krankenhauses, das die ganze Breite des Altstadthügels einnimmt, blendet sie  und bedroht ihren alltäglichen, gleichförmigen Lebensablauf. Jemand habe « hinauf ins Schloss gemusst »  war, wenn der Akzent auf dem Müssen lag, für die Campomoraner gleichbedeutend mit unheilbarer Krankheit und bevorstehendem Tod.

Wenngleich die Reisenden die Bedrohung, die von der Altstadt ausgeht, nicht wahrnehmen können, prägt das Bild von Campomoro sich ihnen auch dann unauslöschbar ein, wenn sie nur Stunden oder wenige Tage in der Stadt verweilen. Denn hier im Hafen, mit dem Blick auf die hohe Altstadt, atmen ihre Lungen erstmals Ferienluft, und ebenfalls im Hafen, auf dem Deck der wieder heimwärts stampfenden Fähre, fühlen sie die ängstliche Erleichterung der Rückkehr ins Gewohnte. Auf ihrer kurzen Zwischenstation in der Stadt werden die Reisenden auf den Unabhängigkeitsplatz gelangen und von dort aus die 139 Stufen zur Bastion hochsteigen, atemlos über der sonderbaren Schönheit des Hafenviertels stehen und sich verwundert fragen, weshalb dieser kostbare Ausblick von den Einheimischen gemieden wird. Nur einige Fremde, die entlang der niedrigen Brüstung stehen und auf die Stadt hinabsehen, beleben die weite marmorne Plattform mit den vier hohen, im Winde wogenden Palmen.

Nach einer kurzen Rast dringen die Reisenden schließlich zwischen den zwei Hauptgebäuden des Krankenhauses in die dunkle Altstadt ein. Im kühlen Schatten der engen Straßen werden sie begierig den Geruch von Fisch und Urin einatmen und mit zufriedenem Unverständnis den exotischen, schwatzenden Tönen der schwarzgekleideten Frauen lauschen, die ihnen über die untere Türhälfte gebeugt gleichgültig nachsehen. Verstohlen werden sie in die dunklen, fensterlosen Zimmer zu ebener Erde blicken, die Wohnraum und Schlafzimmer zugleich sind. Sie werden überstürzt in einen Hauseingang fliehen, wenn ein Kraftfahrzeug hupend und scheinbar achtlos durch die Gassen jagt. Und am Ende mag es vorkommen, dass sie entsetzt ihren Wagen, den sie an der Hafenpromenade geparkt hatten, aufgebrochen und ausgeplündert wiederfinden. Nach kurzem Aufenthalt verlassen sie daher Campomoro und verlieren sich in einem der zahllosen Küstenorte mit dem durchsichtigen, smaragdgrünen Wasser. Palmen, Agaven und Feigenkakteen versprechen ihnen heiße und erholsame Sonnenwochen.

 

All dies, könnte man sagen, ist so, wie es sein sollte. Der vollkommene Ferienort ist vorzugsweise eine Insel, idyllisch, unergründbar, wild, ein wenig angsteinflößend, so unberechenbar jedenfalls, dass der Heimkehrer glaubhaft von Gefahren und Abenteuern erzählen kann. Die Rückkehr in die Heimat wird dadurch erleichtert. Man freut sich auf das wohlige Gefühl des Wieder-Daheims. Und später, in den müden Augenblicken der Büroarbeit, wachsen aus der Erinnerung lange Stunden tagträumerischer Versonnenheit.

Sollten die Reisenden aber denken, die Insel und ihre Hauptstadt während ihres kurzen Aufenthaltes verstanden zu haben, so täuschen sie sich. Campomoro ist trotz seiner vierhunderttausend Einwohner nur äußerlich eine Großstadt. Nur wer Jahre oder ein Leben lang dort verbracht hat, weiß, dass hinter dem tosenden Verkehrslärm und der weltoffenen Kleidermode eine menschliche Dimension schlummert, die sich nicht unterscheidet von der eines kleinen Dorfes im Inneren der Insel. Die Gründe dafür wird man in der unvorteilhaften geographischen Lage suchen, die die Kontakte zum europäischen Kontinent beschwerlich gestalten. In der Tat gehört die Insel mehr zu Afrika denn zu Europa.

An diesem Punkt wird der alteingesessene Campomoraner freilich darauf verweisen, dass zwei Drittel der Stadtbewohner aus den Dörfern stammen, zugezogen erst in den letzten dreißig Jahren. Sicher hat die Stadt in diesen Jahren ihren Charakter gewandelt. Die Dörfler, die sie überschwemmten und die ihre Herden, ihre Olivenhaine und Orangenpflanzungen gegen die zweifelhafte Sicherheit eines kleinen Gemüsegeschäftes oder eines Arbeitsplatzes in der großen Raffinerie von Santa Margherita eintauschten, brachten ein jahrhundertealtes Misstrauen gegenüber den Dingen der Welt mit sich und fassten in der Großstadt nie Fuß. Zu stark sind die Wurzeln, durch die sie an ihr Ursprungsdorf gebunden sind. Dort haben die meisten von ihnen « das Haus », ihr Haus, in das sie bei unvorhergesehenen Schwierigkeiten flüchten. Dorthin gehen sie zurück, um ihre Töchter zu verheiraten, den Dorfheiligen zu feiern und ihre Toten zu begraben. Fast hat es den Anschein, als seien sie nur körperlich in Campomoro anwesend, während alle Gedanken, Hoffnungen und Wünsche weiterhin um ihr Dorf kreisen.

Campomoro selbst wurde durch die Zugezogenen freilich nur noch provinzieller, als es ohnehin schon war. In der Stadt herrscht eine Zeitordnung, die dem ländlichen Leben entlehnt ist. Mittags gegen zwei und abends gegen neun Uhr löst sich das Menschengewimmel auf den Straßen plötzlich und aus Gründen, die dem Fremden nicht verständlich sein können, auf, und die Stadt eilt an den mütterlichen Tisch, um ihr tägliches Brot entgegenzunehmen. Campomoro hat durch diesen strengen Rhythmus etwas Monströses, gleich einem gigantischen Lebewesen, das seine Innereien im Takt eines langgestreckten Atems aushustet und aufsaugt, wieder aushustet und von neuem aufsaugt, immer wieder, ohne Veränderung. Es nimmt nicht wunder, dass unter diesen Umständen die vorherrschende Seelenstimmung der Campomoraner die Langeweile ist. Die Langeweile liegt auf ihnen erdrückender als die Juli-Hitze und beschneidet ihre Schaffenskraft gründlicher als der eisig-feuchte Februarwind. Man versteht daher, welche Wirkung der Skandal um den Klinik-Mord hervorrufen musste, der die schlafende Stadt über Nacht auf die Bühne der Weltöffentlichkeit hob. Die Campomoraner  waren verwirrt. Missbilligung angesichts des Schreckens über das Vorgefallene und Billigung angesichts der unerwarteten Hauptdarstellerrolle riefen in den Bürgern einen Zwiespalt hervor, dem sie nicht gewachsen waren und durch den Gefühlsregungen einer solchen Intensität hervorgerufen wurden, derer sie gemeinhin nicht für fähig befunden werden. Unvermittelt erwachte die verträumte Provinzstadt an der Grenze zu Afrika aus ihrer einsamen Lethargie. Wie nicht anders zu erwarten war, berichteten die Medien über die Enthüllungen des schwarzen Koffers und die Folgeereignisse unvollständig, parteiisch und oberflächlich. Das einfache Volk der europäischen Nationen spaltete sich daraufhin in zwei Lager. Während der Klinik-Mord den einen als Absage an die Menschlichkeit und die Menschheit erschien, wollten die anderen darin einen heroischen Akt spontaner « Gerechtigkeitsexplosion »  sehen. Dem Erzähler, der Zeuge der Geschehnisse war, mussten beide Standpunkte zwangsläufig als unsinnig in ihrer Einseitigkeit und als gefährlich in ihrer Übertreibung erscheinen. So wurde die Absicht geboren, die Aufzeichnungen aus der fraglichen Zeit zu überarbeiten und zu vervollständigen. Eine bescheidene literarische Form schien geeignet, die nachträgliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen zu erleichtern. In minutiöser und uneigennütziger Anstrengung entwarf der Erzähler schließlich die folgende anspruchslose Chronik. Möge das Verständnis um die Gedanken und Sorgen der handelnden Personen dazu beitragen, die tragischen Begleitumstände des Campomoraner Klinik-Mordes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen!