Kapitel 4.2: Ungezähmte Figuren der Anorexie

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Viele “ungezähmte Figuren der Anorexie” entschieden sich dafür, ihre intellektuellen Fähigkeiten zu nutzen, um sich in sozialem Aktivismus zu entfalten: ob Mystikerin (Therèse de Lisieux), Kaiserin (Elisabeth von Österreich), Militantin (Eleanor Marx, Simone Weil), Schriftstellerin (Virginia Woolf) oder Schauspielerin (Jane Fonda), das Ziel dieser Frauen war immer das gleiche: mitzuteilen, daß Lebensqualität über das Überleben hinausgeht. Durch ihre Offenherzigkeit hat eine Frau wie Jane Fonda mehr als alle Medizinberufe daran gearbeitet, die Bulimie bekannt zu machen. All die oben zitierten Frauen wollten Frauen “für sich selbst” sein und weigerten sich, es “für die anderen” zu sein. Sie versuchten, ihre eigenen Normen zu leben und beanspruchten die Anerkennung ihres körperlichen und psychischen Ichs.

“Nähern Sie sich mir”, bat Marie-Victoire Rouiller. “Nehmen Sie mich in Ihren Wörtern auf, berühren Sie mich mit Ihren Blicken. Lockern Sie meine Fäuste in der Liebkosung Ihrer Handflächen, legen Sie Ihren Atem auf mich und drücken Sie mich in Ihre Arme, bis mein Körper sich beruhigt und sich in Ihrer Nähe öffnet, in der Wärme Ihres Fleisches.”

Lange Zeit erkannten die Freudianer das Bedürfnis nach körperlichem Kontakt nur als einen libidinös – zunächst im oralen Verlangen des Säuglings nach der mütterlichen Brust, dann durch die rein genitalen Beziehungen – konkretisierten Trieb an. In dieser Perspektive vernachlässigten sie die Tatsache, daß das einmal aus dem mütterlichen Bett vertriebene Kind jedes persönlichen Kontakts für etwa zehn Jahre, das heißt während seiner ganzen Kindheit und Frühjugend, beraubt und dazu verurteilt wird, sich mit einem Übergangsobjekt (Teddybär etc.) zufrieden zu geben, um seinen Hunger nach einem vertrauten und warmen Körper zu stillen. Dieser Mangel an körperlichem Kontakt steht am Ursprung der Unersättlichkeit des Menschen. Er beraubt ihn einer für Vertrauen und Sicherheit bürgenden Liebe jenseits der Sexualität. Die Hilflosigkeit des Kindes hängt mit einer körperfeindlichen Gesellschaft zusammen, und niemand kann heute in Zweifel ziehen, daß bestimmte Charakterstörungen, Ausbrüche von Gewalt und jugendlicher Toxikomanie Folgen der körperlichen Wüste sind, in die unsere Kultur Kinder und Jugendliche verbannt. Winnicott sieht daher in der Anorexie eine Art Abwehr gegen diese Wüste, die “Angst vor der Leere”, die dennoch als frühzeitige Erfahrung gesucht wird. Das Subjekt, das die erschreckende Leere fürchtet, errichtet durch die Eßverweigerung eine kontrollierte Leere oder füllt sich durch eine zwanghafte und als wahnsinnig empfundene Gefräßigkeit: “Der Dämon des Heißhungers, ein Tier mit tausend Mündern, hatte sich in Marie-Claude eingenistet, und sie war in die Wildheit gestürzt.”

Allein die kontrollierte Umgestaltung der Erscheinung, nach der das anorektische und bulimische Subjekt strebt, schützt es vor der Gefahr des Zerfalls und des drohenden Grenzverlustes, wenn es sich schließlich doch einmal auf einen Anderen zutragen läßt. Marie-Victoire Rouiller schrieb hierzu:

“Ich habe also Jahre lang das Begehren gezügelt, das mich zu Ihnen führte, da ich davon überzeugt war, daß dieser Strom alles auf seinem Weg zerbräche. Ich lerne, mich von den Wellen treiben zu lassen, und während ich darauf schwimme, kann ich den Blick zu den Anderen erheben.”

Sehr häufig wird dieses Begehren, von dem die Magersüchtige besessen ist, zu dem Begehren, durch Osmose an der besonderen Form des Unglücks ihres Zeitalters beteiligt zu sein:

“Meine Rebellion öffnete mein Herz, sie zog Wege des Feuers in der Wüste der alten Moral”, erzählte Marie-Victoire anläßlich des Bürgerkriegs in Spanien. “Von den Kniebeugen gingen wir zu der erhobenen Faust über, von der Inbrunst zur Wut, von der Einsamkeit zur Solidarität.”

Diese Rebellion finden wir oft wieder: “Ich machte Gedichte über das Alter, über den Hunger in der Welt, über Vietnam und natürlich über den Tod”, schreibt hierzu Louise Roche in ihrem Bericht.

Geheilt von ihrer Neigung zu Luxus und Mondänem, stellte sich Violette Leduc schließlich mit Entschiedenheit auf die Seite der Armen, der Verlassenen. Simone de Beauvoir zeichnete von ihr das folgende Porträt: “Sie verehrt die Besitzlosigkeit eines van Gogh, eines Pfarrers von Ars. Alle Nöte finden in ihr ein Echo: die der Verlassenen, der Verirrten, der Kinder ohne Elternhaus, der Alten ohne Kinder, der Vagabunden, der Clochards. Sie ist untröstlich, wenn sie sieht, wie die Wirtin eines Restaurants einem algerischen Teppichhändler die Bedienung verweigert. Konfrontiert mit dem Unrecht, nimmt sie sogleich Partei für den Unterdrückten, für den Ausgenützten. Es sind ihre Brüder, sie erkennt sich in ihnen wieder.”

Auch Simone Weil hatte eine fanatische Bewunderung für all die, die anders waren, entzweit, die Außenseiter. Gabrielle Fiori beschreibt mit Begeisterung Simones “große Ansprüche” und ihren Hunger nach Einigkeit, nach Zuhören, nach Intensität, die sie selbst als unersättlich bezeichnet. In “Ihren Memoiren einer Tochter aus gutem Hause” erinnert sich Simone de Beauvoir an ihre Begegnung mit Simone Weil: “Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erklärt, daß sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen. Sie erklärte schneidend, daß nur eins heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde.”

In vielen Fällen erscheinen der Tod und die Einsamkeit als zwei wichtige Zwangsvorstellungen. Magersüchtige fühlen sich in der Welt “im Exil” oder ganz “von der Welt abgeschnitten”, sehr weit entfernt von den Menschen, die sie umgeben. In dieser Einsamkeit bleibt meist kein fester Wert, keine Hoffnung, kein Glauben übrig, und ihre Angst wird dadurch bestimmt, daß sie die Vergangenheit nicht ändern können. Die Tragik magersüchtiger Frauen fußt auf dem Widerspruch eines Menschen, der grundsätzlich von den Anderen getrennt ist, ohne ihnen jedoch entfliehen zu können: Appell und Verlangen nach dem Anderen einerseits, Scham vor sich selbst andererseits sowie die Angst, ohne Möglichkeit einer Berufung beurteilt zu werden. Wie sollen sie dem “Huis-Clos”, der Hölle hinter verschlossenen Türen, entfliehen, die sie mit den Urhebern ihrer Qualen (Eltern, Partner[-in], Freunden) verbindet?

Wir sagten bereits, die Magersucht sei eine Flucht. Sie ist auch die Triebfeder des Krieges, den die Betroffenen gegen die Depression führen. Der Hungerstreik, an den sie sich mit Verzweiflung klammern, gibt ihnen Mut und hilft ihnen, sich eine Rolle auszudenken, die dem entspricht, was sie gern gewesen wären: stark, furchtlos, die Kompromisse des Lebens und das Gewicht ihrer “Erblichkeit” ablehnend. Die meisten von ihnen wollen sich mit ihrer Mutter und deren Geschlecht nicht identifizieren. In Wirklichkeit können sie sich aber von ihrer Mutter nicht loslösen. Sie enthalten sich der Nahrung, um der Bemächtigung durch sie zu entfliehen, als ob essen bedeuten würde, an der Brust dieser zum Sterben gehaßten oder geliebten Mutter zu bleiben. Allein, nichts hilft. Wie griechische Heldinnen können sie ihrer Mutter nicht entkommen. Das Gesicht der Mutter ist wie ein magischer Spiegel, der die Spuren aufzeigt, die die Zeit eines Tages an ihren Töchtern hinterlassen wird. Diese entdecken mit Abscheu die Welt der Erwachsenen, eine Welt, in der man nicht sieht, was man tut; in der man nicht tut, was man sagt: eine absurde, taube und blinde Welt, die behauptet, daß das Leben darin bestehe, das Alter zu akzeptieren und zuzusehen, wie die Illusionen und Wünsche nach und nach zerbröckeln. Auch die Mutterschaft erscheint ihnen plötzlich als Demission. Wie Antigone von Sophokles wollen sie weder geduldig warten noch Kompromisse schließen: sie brauchen das Absolute. Die Magersucht ist die Weigerung, sich auf die Welt der Erwachsenen einzulassen: “Ehrgeiz zu haben hieße für mich,” sagt Wilfried in einem Werk von Valérie Valère, “Maler, Musiker, Regisseur oder Schriftsteller zu sein. Einen Beruf zu haben, in dem ich von niemand außer mir selbst abhängig wäre. In dem ich allein wäre.”

Auch Tania Blixen galt als “geborene Rebellin und Individualistin – eine intellektuelle Petroleuse”. Simone Weil wurde gar vom Philosophen Alain, der auch ihr Professor war, “die Marsbewohnerin” genannt. Die Magersüchtige ist also die, die mit ihrem Körper “Nein” sagt, da sie nicht mit ihrem Mund “Nein” sagen kann – denn auch wenn sie schreibt, macht sie den Mund nicht auf. Sie gibt weder Ratschlägen noch Ermahnungen nach, denn diese mußte sie schon zu sehr in ihrer Kindheit erleiden, und erklärt sich als “alleiniger Richter”. Sie will von Niemandem, von Nichts abhängen und findet die Gesetze in sich selbst, wie Valérie Valère:

“Wenn die glauben, sie kriegen mich mit ihrem Gefängnis! Was können die überhaupt machen, diese Arschlöcher, wenn ich nicht mitmachen will. Diese Gesellschaft, diese Scheißwelt, diese Scheißvernunft, dieses Scheißleben! Die Dummen sind sie. Ist ihnen klar, wie sehr die ihr beschissenes Leben lieben? Die sind bereit, alles und jedes zu geben, um weiterzuleben! Und um was zu leben? Für ihre widerliche Fresserei, für ihre widerliche Vögelei. Um ihre widerliche Macht aufzubauen, die ihrer Doktoren, ihrer Direktoren.”

Auch ihre Ablehnung der Sexualität bezeugt wie ihre Eßverweigerung, daß sie nicht “wie die Anderen” sein will. Die Sexualität macht gleich, sie raubt dem Menschen jedes Rätsel. Die Sexualität stellt die Menschen auf die gleiche Ebene mehr noch als seine übrigen Bedürfnisse und Tätigkeiten. Sie macht alle Menschen gleich. In einer als tierisch bewerteten Haltung beweist der Mensch daher seine Eigenschaft als Bürger: es gibt nichts Öffentlicheres als den Geschlechtsverkehr, meint die Magersüchtige in Anlehnung an Cioran und seine “Versuchung zu existieren”.

Genau so muß ihre Verweigerung interpretiert werden. Ihr Wille nach Autonomie macht aus ihr eine mißtrauische und rachsüchtige, ungezähmte Jungfrau wie die griechische Göttin Diana: “Ich habe ja auch mein ganzes Leben lang Diana lieber gemocht als Venus”, sagte Tania Blixen 1928 zu ihrer Schwester Elle; “mich spricht dieses Schönheitsideal mehr an, und ich selbst möchte lieber ein Dasein wie Diana führen als das der Venus mit noch so vielen Rosengärten und von Tauben gezogenen Wagen.” Die bestechendsten Frauengestalten in ihren Erzählungen sind die Idealistinnen, die Männern mißtrauen und sich nicht unterordnen, die die Erfüllung in der geschlechtlichen Liebe höheren geistigen Zielen opfern.

Trunken von einer Freiheit ohne Zügel meint die magersüchtige Frau, sich durch ihre Eßverweigerung selbst bestimmen zu können, wie Tania Blixen es tat, als sie sich ihre Fastenkuren auferlegte, um “durch Hunger und Leiden Größe zu erlangen”. Dennoch entgleitet ihr ihre Handlung, da sie schließlich von der Nahrung und von ihrem Körperbild besessen ist, von einem Image, in dem sie sich verliert und entfremdet. Was in ihrem Kampf fehlt, ist ein wirkliches Bewußt-Werden, Ergebnis einer Arbeit, die sich geduldig in der Geschichte, im Relativen erfüllen muß, mit beständiger Hilfe unsicherer und herumtappender Handlungen, die weder gut noch schlecht sind, die aber insgesamt ein bestimmtes Bild des Menschen nach und nach enthüllen und entwerfen. Sogar das Schreiben war für Valérie eher eine Flucht. Sie stellte wie Rainer Maria Rilke die Feder, “Revanche des Schwachen”, dem Schwert gegenüber.

Das Schreiben war das neue Gefängnis, das sie sich erwählt hatte, und ihre Schreibmaschine enthüllte sich schließlich als eine neue Diebin ihres Seins. Sie hatte den Eindruck, es sei ihr nicht gelungen, die richtigen Worte zu finden, die Sätze kehrten sich alle gegen sie, sie habe versagt…

 

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